Augustinus von Hippo: Lebens-Bild eines Gottsuchers
Vortrag in der Stadtpfarrkirche St. Augustinus in Dettelbach am 19. Mai 2011
Von PD DDr. Christof Müller
Bekehrung zum Christentum (386)
‹Gartenszene›: Augustins Bekehrung zum Christentum (S. Gimignano, Chiesa di Sant'Agostino. Benozzo Gozzoli, 1465).
Augustinus – ein großer Name in der Schar der Heiligen! Augustinus – schon früh als ‹sanctus› gepriesen, schon früh zur ‹Ehre der Altäre› erhoben!
Lassen Sie uns Wünsche und Ängste, Freuden und Leiden, Leben und Sterben dieses Heiligen als Altarbild mit drei Tafeln malen, als ein Triptychon! In der Mitte das eindringlichste Gemälde: die ‹conversio – Bekehrung›, Augustins lang ersehnter Durchbruch zu einem radikalen Gott-Anhangen. Auf dem linken Altarflügel: der von Irrungen und Wirrungen, aber auch von stetem Suchen gezeichnete Lebensweg eines Jungen von außerordentlicher Begabung. Auf dem rechten Seitenflügel: der Kirchenmann und Theologe Augustinus von Hippo; einer, der gefunden hat und doch immer weiter sucht; einer, der den Mitmenschen seinen Fund ‹mit-teilen›, seinen Fund mit ihnen teilen möchte.
Unser Altarbild besteht hauptsächlich aus Motiven, die den ältesten Lebensbeschreibungen Augustins entstammen: den von ihm selbst verfaßten ‹Confessiones – Bekenntnissen› sowie der Biographie ‹Vita Augustini – Leben Augustins› von Possidius, einem Freund des Bischofs. Schauen wir es uns also an, dieses Altarbild! Sehen wir auf seine großen Szenen, aber achten wir auch auf die kleinen Details, die dieses ‹Lebens-Bild› für uns so farbig und so anregend machen!
Linker Seitenflügel: der Suchende
Der linke Seitenflügel unseres Triptychons zeigt eine Fülle von Szenen: Szenen eines Kindes und jungen Mannes in Nordafrika, geboren im November 354 im Städtchen Thagaste (heute Algerien). Es sind aufregende Zeiten, in denen der braunhäutige Junge das Licht der Welt erblickt. Selbst hier in der Provinz spürt man den Wind von Veränderung, der das Weltreich Rom umhertreibt. Die alten Gewißheiten, gebaut auf Macht und Militär und auf Kunst und Kultur, sind ins Wanken geraten. Alte Gottheiten werden von den Säulen gestürzt, Tempel in christliche Kirchen umgebaut – und doch wollen viele den Wechsel der Staatsreligion nicht mitvollziehen, suchen Antworten auf ihre Lebensfragen im Götterkult der Alten, in exotischen Mysterien, in einer der zahlreichen Philosophenschulen – oder sie trösten sich von Tag zu Tag mit Brot und Spielen. Selbst unter Christen streitet man über den rechten Glauben: Wie kann Gott ein Einziger in drei Personen sein? Inwieweit war Jesus Christus Gott, inwieweit Mensch? Umfaßt die Kirche nur Helden und Heilige oder auch Schwache und Sünder? Und wer hat in ihr das Sagen? Die Bischöfe, der Bischof von Rom – oder etwa der Kaiser?
Von all diesen großen Fragen ahnt er freilich noch nichts, der kleine Aurelius Augustinus. Er ist zunächst nur ein einfacher Junge aus einfachen, wenn auch aufstiegsorientierten Verhältnissen. Sein Vater Patricius ist Veteran, stolz auf sein Römertum, seine Mutter Monnica hat punische Züge. Zur Hausgemeinschaft gehören noch ein Bruder und vermutlich zwei Schwestern. Die ‹familia› gilt als christlich: Zwar ist der ‹pater familias› religiös desinteressiert, doch die Mutter eine desto eifrigere Bekennerin, die den Kindern den Glauben ins Herz gräbt. Hören wir das Zeugnis Augustins selbst: «So begann ich schon als Knabe zu Dir (Gott) zu flehen, ... und ich betete – ich kleiner Mann mit großer Inbrunst –, daß ich doch in der Schule nicht geschlagen würde» (Confessiones 1,9,14).
Trotz gelegentlicher Schläge: Augustin ist ein hochtalentierter Schüler, gleichwohl kein ‹Streber›, sondern mit viel Sinn für Kameradschaft. Und dennoch nagt in seinem Herzen das Gefühl: ‹Das kann ja wohl nicht alles sein›: «Mein Gedächtnis war gut, im Sprechen war ich geschult, Freundschaft tat mir wohl; ... aus dem Unwissen versuchte ich mich herauszuarbeiten. ... Meine Sünde aber lag darin, daß ich Freude, Erhebung, Wahrheit nicht in ihm (Gott), sondern in seinen Geschöpfen, in mir und den anderen, suchte und so in Schmerz, Verwirrung und Irrtum versank» (Confessiones 1,20,31). Das Suchen und die Sehnsucht werden zu einem Signum seines Lebens, später auch seiner Spiritualität und seiner Theologie. Augustin bringt dieses Signum unnachahmlich auf den religiösen Begriff: «Du (Gott) hast uns zu Dir hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ausruhen kann in Dir» (Confessiones 1,1,1).
Blicken wir auf eine andere Szene, einige Jahre später: Patricius nimmt bei einem Besuch der öffentlichen Bäder mit Vaterstolz wahr, daß sein Junge Zeichen von Geschlechtsreife zeigt. Augustin selbst wird nach seiner ‹Bekehrung› die damals aufkeimende Vitalität und Virilität im Horizont seiner Sündenlehre weit düsterer malen: «Damals ... entbrannte ich ... und schämte mich nicht, mich wild in wechselnden ... Liebesspielen zu ergötzen» (Confessiones 2,1,1). «Dünste stiegen auf vom ... Strudel sich regender Männlichkeit und ... verfinsterten mein Herz, so daß das Heitere selbstloser Liebe vom Dunkel der Begierde nicht mehr zu unterscheiden war» (Confessiones 2,2,2). Es ist diese Sündenlehre, die zunächst amüsant erscheinende Episoden aus Augustins Jugendtagen in moralisches Dunkel schwärzt. Schauen wir nur auf die legendäre Begebenheit, als der Pubertierende mit seinen Kumpanen den Birnbaum des Nachbarn plündert. Augustins strenges Urteil in den ‹Confessiones›: «Nicht am Gestohlenen wollte ich meinen Genuß haben, sondern ... an der Sünde selbst» (Confessiones 2,4,9).
Eine weitere Darstellung auf der linken Seite unseres Triptychons: Augustin hat es mittlerweile dank Talent und Stipendium bis zum Studium in der wirbelnden Weltstadt Karthago gebracht hat. In Augustins Sinnen, Kopf und Herz wirbelt es ebenfalls! Theater und Tanz, Kameraden und Kokotten, und nicht zuletzt diese bunte Fülle an Büchern und Bildung, an Thesen und Theorien! Augustin ist begeistert und verwirrt; er ist noch immer auf der Suche – weiß er überhaupt, wonach? Später wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen: Ohne daß er selbst es ahnte, war er schon immer auf der Suche nach der Wahrheit, der ganzen Wahrheit, nach Gott: «Und wo war ich denn selbst, als ich Dich suchte? Du standest vor mir. Ich aber war vor mir selbst weggelaufen und fand mich nicht mehr, wieviel weniger Dich» (Confessiones 5,2,2). Erstaunlicherweise ist es gerade das Buch eines ‹Heiden›, der ‹Hortensius› des Rhetors und Philosophen Cicero, das dem jungen Mann die Frage nach dem ‹rechten Leben› und der ‹Wahrheit› ins Bewußtsein bohrt: «Dieses Buch gab meinem Herzen eine andere Richtung, ... es veränderte meine Wünsche und Sehnsüchte. ... Ich begann mich aufzuraffen und auf den Heimweg zu Dir zu machen» (Confessiones 3,4,7).
Doch dieser ‹Heimweg› erweist sich erst von seinem Ziel her als ein Weg zur Wahrheit – führt er doch zunächst noch tiefer in Täuschung und Verstrickung. Da das Sinnangebot des ‹Hortensius› keinen seiner geschliffenen Sätze an Christus verliert, andererseits die Bibel dem stolzen Bildungsbegeisterten keinen intellektuellen Reiz bietet, gerät Augustin in den Bannkreis des Manichäismus, einer – wir würden sagen: ‹esoterischen› – Weltanschauung, die ihre weltverneinende Mythologie als rationale Antwort auf alle Fragen präsentiert und damit erstaunliche Massenwirkung erzielt. «9 Jahre ungefähr verflossen, während derer ich mich im tiefen Schlamm und im stockfinsteren Irrtum wälzte; oft versuchte ich aufzutauchen – und sank nur tiefer zurück» (Confessiones 3,11,20).
Wieso aber ‹Schlamm› und wieso ‹zurücksinken›? Sehen wir inmitten des linken Flügels unseres ‹Lebens-Bildes› nicht einen gesellschaftlichen Aufsteiger auf der Höhe seines Ruhmes? Der kleinbürgerliche Junge aus der nordafrikanischen Provinz ist mittlerweile Professor für die führenden Kulturtechniken der Spätantike geworden und nennt eine attraktive Konkubine sowie ein begabtes Söhnchen, Adeodatus, sein eigen. Sein Renomée reicht weit über Karthago hinaus bis zum Zentrum des Imperiums. Hier will man ihn als Rhetor hören und als Rhetoriker sehen, und Augustin folgt dem Werben. Er läßt dafür seine geliebte Heimat Afrika, ja sogar seine Mutter Monnica im Stich: «Ich überredete sie mit Mühe, die Nacht in einer ... Kapelle zu verbringen. Während dieser Nacht machte ich mich heimlich davon. Sie blieb zurück, betend und weinend» (Confessiones 5,8,15). Als der Sohn einige Zeit später dem Ruf in die prestigeträchtige Position des offiziellen Lobredners am Kaiserhof zu Mailand nachkommt, eilt die Über-Mutter ihm hinterher – und findet hinter der glänzenden Fassade das Elend einer tiefen Sinnkrise: «Sie fand mich in großer Not: Ich verzweifelte daran, die Wahrheit zu finden» (Confessiones 6,1,1). «Ich ... war tief und heftig betroffen, wenn ich an die lange Zeit seit meinem 19. Lebensjahr dachte, als ich von der Sehnsucht nach Weisheit gepackt worden war ... Und nun war ich 30 Jahre alt und irrte noch immer im gleichen Schlamm herum» (Confessiones 6,11,18).
Doch mitten in dieses Suchen und Fragen hinein läßt Gott schon leise seine Antwort ertönen. Gerade in der tiefsten Lebenskrise – Augustin hat um des sozialen Aufstiegs willen seine Konkubine wortwörtlich ‹in die Wüste geschickt› und sich damit selbst eine ‹verzweifelt schmerzende Wunde› (Confessiones 6,15,25) geschlagen –, sieht der Geheilte im Rückblick die Kräfte der Genesung wachsen. Stößt Gott ihn denn nicht genau jetzt auf die Bücher der Neuplatoniker und macht ihn mit ihrem geistigen Gottesbild bekannt? Führt Christus, der wahre Arzt, ihn nicht genau jetzt zu Bischof Ambrosius, der theologischen Lichtgestalt Italiens? «Ich selbst wurde unglücklicher, Du (Gott) aber kamst näher. Ganz allmählich griff Deine Hand nach mir, mich aus dem Schlamm zu ziehen und zu waschen» (Confessiones 6,16,26).
Zentralbild: der Findende
Majestätisch prangt sie uns entgegen, die Haupttafel des augustinischen Heiligen- und Lebens-Bildes. Hier wird unser Blick nicht von verschiedenen Szenen hin und her gezogen, sondern von einem Zentralmotiv gefesselt: Augustins ‹Bekehrung›. Folgen wir dieser Szene, die der Bischof von Hippo später mit den Farben seiner Rhetorik so schillernd ausmalen wird: Ein junger Mann geht im Sommer des Jahres 386 mit seinem Freund im Garten eines Mailänder Anwesens unruhig auf und ab. Ihm, Alypius, einem alten Bekannten aus Jugendtagen, klagt Augustin seine innere Zerrissenheit: Einerseits verspürt er immer stärker den Impuls zur grundlegenden Kurskorrektur seines Lebensweges, sieht die neuen Horizonte seiner Existenz gleichsam schon vor Augen – hatte nicht gerade ein afrikanischer Landsmann ihnen begeistert von Antonius, dem ‹Wüstenvater›, erzählt? Und andererseits? Die Sirenen der Sexualität säuseln Augustin in all seinen Sinnen, die zähe Macht jahrzehntelanger Lebensgewohnheiten zerrt an ihm, reißt ihn immer wieder vom Sprung in eine konsequent neue Lebensweise zurück. «Wenn Du (Gott) mir von allen Seiten die Wahrheit Deiner Worte erwiesest, hatte ich ... nichts zu antworten außer ... schlaftrunkenen Worten: ‹Gleich, ja ja gleich, nur noch ein Augenblickchen›. Aber diesem ‹gleich, gleich› folgte nie ein ‹sofort›, und das ‹Augenblickchen› zog sich in die Länge». «So stritten denn zwei Willen in mir, der eine alt, der andere neu, jener fleischlich, dieser geistlich, und ihre Spannung zerriß mir die Seele» (Confessiones 8,5,10).
Verfolgen wir sie weiter, die große Szene unseres Zentralbildes; daß sie sich historisch tatsächlich in genau dieser Weise abgespielt hat, ist eher unwahrscheinlich – doch gerade in ihrer Stilisierung durch Augustinus verdichtet sich ihre existentielle und religiöse Wahrheit. Ähnlich den Erzählungen und Bildern der Evangelisten will die Bekehrungsszene aus den ‹Bekenntnissen› nicht protokollieren, sondern provozieren, nicht beschreiben, sondern begeistern. Kehren wir also zurück in den August des Jahres 386 und blicken wir erneut in den Mailänder Garten: Gerade reißt der verzweifelte Sinnsucher sich von seinem Freund Alypius los und wirft sich unter einen Feigenbaum. Der kaiserliche Hofredner, der Meister literarischer Konvention – er stöhnt, er stammelt, er weint ... «Und auf einmal hörte ich aus einem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens wiederholt sagen: ‹Tolle, lege – Nimm und lies!› ... Ich hielt die Flut der Tränen zurück und stand auf; ich wußte keine andere Deutung, als daß Gott mir befehle, ein Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die ich als erste stieße. ... So kehrte ich eilends zu dem Platz zurück, wo Alypius saß, dort hatte ich nämlich beim Aufstehen das Buch des Apostels (Paulus) hingelegt. Ich nahm es, schlug es auf und las die erste Stelle, worauf meine Augen fielen: ‹Nicht Eß- und Trinkgelage, nicht sexueller Rausch und Perversion, nicht Konkurrenz und Kampf – sondern umgebt euch ganz mit unserem Herrn Jesus Christus ...!›. ... Kaum hatte ich den Satz zu Ende gelesen, ergoß sich wie ein Licht die Gewißheit in mein Herz, und alle Schatten des Zweifels waren verflogen» (Confessiones 8,12,29).
Da rauscht sie vor unseren Augen vorbei, die legendäre Bekehrungsgeschichte unseres Heiligen! Fast schon zu schnell spielt sich das für Augustins Lebensweg so Entscheidende ab, zu schnell, als daß der Zuschauer es verarbeiten, es in seinen spirituellen Tiefen ausloten könnte. Versuchen wir daher, das Geschehene und Gesehene gleichsam ‹in Zeitlupe› zu wiederholen!
Ein wesentliches Moment, das dabei ins Auge fällt, ist das Lebendige, auf das Leben Bezogene, der augustinischen Bekehrung. Tobt der Entscheidungskampf unseres Sinnsuchers auch in seinem Innern, so spielt die Außenwelt in all ihren Farben und Facetten doch maßgeblich in diesem religiösen Drama mit: Augustin steht nicht allein auf der Bühne, sondern wird von seinem Landsmann und Seelengefährten Alypius begleitet. Er erscheint zudem keineswegs als ätherische Gestalt, sondern offenbart sich uns in seiner ganzen Kreatürlichkeit: Er läuft hin und her, er rauft sich die Haare, er schreit und weint – und gewiß wird er nach seinem umwerfenden Erlebnis gejubelt haben und seinem Freund um den Hals gefallen sein. Auch über die handelnden Person hinaus ist das ‹Bühnenbild› keineswegs kahl, sondern wir sehen im Hintergrund die spätantike Mailänder ‹villa› und den spätsommerlichen Garten, im Vordergrund den südländischen Feigenbaum – von jeher Symbol für den Ort möglicher Gottesbegegnung.
Und die Bekehrungserfahrung selbst? Kein Blitz vom Himmel! Vielmehr die Stimme eines Nachbarkindes, das einen spielerischen Vers vor sich hin singt: ‹Nimm und lies; nimm und lies!› Kein Menetekel an der Wand! Vielmehr ergreift der Ergriffene seinen Kodex mit paulinischen Briefen, schlägt ihn auf und liest die Verse 13 und 14 aus dem 13. Kapitel des Römerbriefes, eine Stelle, über die er schon etliche Male hinweggehuscht war. Doch diesmal packt sie ihn, fährt sie ihm mitten ins Herz und sprengt alles auf und weg, was sich in all den Jahren an Schutt und Geröll aufgetürmt, ihm die Luft zum Atmen genommen hat.
Und Gott? Hat Augustin ihn endlich gesehen? Weiß er nach seinem einschneidenden Erlebnis nun endgültig, wer und wie und wo Gott ist? Davon können wir auf unserem Bekehrungsbild nichts erkennen; noch immer steht dort ein Haus mit Garten, noch immer stehen dort zwei Personen – und doch ist alles ganz anders, denn der eine der beiden, der kleine Afrikaner und große Rhetor Aurelius Augustinus, hat sich heute von diesem geheimnisvollen Gott anrufen lassen. Gott ist für Augustin seit dem heutigen Tag kein kosmisches Prinzip und kein idealistischer Gedanke mehr, sondern ein ‹Du›, nein: das ‹Du› schlechthin! ‹Du, Du, Du›: Augustins ‹Bekenntnisse› sind eine einzige große Anrede Gottes, eine einzige Antwort auf Gottes Anruf, ja fast ein Gebet. Und doch bleibt dieses nun so vertraute ‹Du› ein unauslotbares Mysterium, von dem Augustin gleichwohl immer wieder sprechen muß: «Was kann einer schon sagen, wenn er von Dir (Gott) spricht? Und doch, weh denen, die Dich verschweigen» (Confessiones 1,4,4).
Jetzt endlich kann Augustin den Sprung in sein Lebensideal wagen: nicht nur mit dem Kopf, sondern mit Herz und Leib und Seele. Augustin verabschiedet sich von Heiratsplänen und Rhetorikprofessur – mit dem Verweis auf eine Lungenerkrankung, tatsächlich aber im ‹Gottesfieber›, ‹angeschossen› von der Liebe des unendlichen ‹Du›: «Du hattest unser Herz mit dem Pfeil Deiner Liebe durchbohrt, wir trugen Deine Worte steckend in unseren Eingeweiden» (Confessiones 9,2,3). Bald zieht Augustin sich mit einem Kreis Gleichgesinnter, darunter seine Mutter und sein Sohn, auf ein Landgut in Cassiciacum (am Comer See) zurück. Nach einigen Monaten philosophischer und spiritueller Einkehr läßt er sich in der Osternacht 387 in Mailand von Bischof Ambrosius taufen. Vieles wird sich in den nächsten Jahren ändern: Augustin wird seine italienische Wahlheimat verlieren und in seine Heimatstadt zurückkehren; er wird seine Mutter verlieren, dann seinen Sohn, schließlich einen engen Freund – doch sein Herz, seine Existenz hat einen unverlierbaren Halt gefunden, den er nicht mehr losläßt – der ihn nicht mehr losläßt: Gott, das große ‹Du›, die große Liebe seines Lebens.
Rechter Seitenflügel: der Mit-Teilende
Der rechte Flügel unseres Heiligentriptychons zeigt Szenen aus dem Leben eines Mannes, der seine Mitte gefunden hat. Freilich ist Augustin auch jetzt noch unterwegs zu neuen Erfahrungen mit seinem Gott, vor dem er das Programm seines Lebens bekennt: «(Man) soll lieber nichtfindend Dich finden, als etwas findend Dich nicht finden» (Confessiones 1,6,10). Doch Augustins Kopf und Herz sind nun nicht mehr rastlos, von Reizen und Reflexen gepeitscht, sondern von einer im Innern gefühlten Macht getragen und gezogen, einer Macht, die dieses Innere zugleich übersteigt und in der Ewigkeit verankert. Augustin hat die Wahrheit seines Lebens gefunden, und diese Wahrheit will er mit anderen teilen, anderen ‹mit-teilen›, denn er glaubt und spürt: Diese Wahrheit ist nicht nur die Wahrheit seines eigenen Lebens, sondern die ‹veritas› der ganzen Welt.
Wen Gott solcherart aus alten Bahnen geworfen hat, der muß neue Wege gehen. Augustin geht sie: Nach dem Empfang der Taufe kehrt er zunächst nach Thagaste zurück und lebt dort mit Glaubensgefährten in einer kontemplativen Gemeinschaft. Doch schon bald hört er erneut den Anruf des göttlichen ‹Du› – sehen wir uns die Szene an, die uns Augustins Biograph Possidius so anschaulich vor Augen führt.
Wir schreiben das Jahr 391; Ort des Geschehens ist Hippo Regius, eine prosperierende Hafenstadt an der Mittelmeerküste. Sonntagsgottesdienst in der katholischen ‹basilica›. Im Hintergrund der quirligen Schar der Gläubigen steht Augustin mit den Seinen; die Glaubensbrüder aus Thagaste sind in Hippo auf der Suche nach Interessenten für ihr klösterliches Lebensmodell. Vorne, auf seiner ‹cathedra› sitzend, hebt gerade Bischof Valerius zur Predigt an. Der ältere Herr macht sich Sorgen um seine Gemeinde: Die donatistische Konkurrenz, die sich für die Kirche der ‹Reinen› hält, zieht so manchen Bürger auf ihre Seite. Zudem fühlt Valerius seine Kräfte erlahmen – höchste Zeit, daß das Kirchenvolk ihm einen Priester zur Seite stellt, am besten einen Glaubensbruder mit theologischer und rhetorischer Kompetenz. In diesem Augenblick passiert es: «Da ergriffen einige Katholiken Augustin. Sie wußten nämlich von ... seiner Gelehrsamkeit ... Sie faßten ihn also und brachten ihn nach altem Herkommen hin zum Bischof, daß er ihn weihe. ... Er aber weinte sehr» (Vita Augustini).
Die nächsten Bilderfolgen spielen einige Jahre später. Augustin hat sich zunächst widerstrebend, dann aber mit aller Kraft auf seine neue Aufgabe eingelassen. Verbunden mit einigen Verletzungen kirchlicher Konvention avanciert er in Hippo zunächst zum Starprediger, dann zum Mitbischof und schließlich zum alleinigen ‹episcopus›. Durch sein Charisma und seine theologische Brillanz hat er in kurzer Zeit die Gemeinde zu einer Bastion des afrikanischen Katholizismus ausgebaut. Sein analytischer Geist und seine rhetorische Perfektion sind bei den nach wie vor missionierenden Manichäern gefürchtet; gegenüber den Donatisten läßt er sich gar zum Verfassen eines demagogischen Gedichts, eines polemischen ‹Psalms› hinreißen. Vorerst kämpft er ausschließlich mit den Waffen des Wortes; später wird er zögernd die effektiver erscheinende Staatsmacht des Römischen Reiches zu Hilfe rufen, um die Vormacht des Katholizismus in Nordafrika zu sichern.
Im Umgang mit seiner eigenen Gemeinde bemüht sich der ‹Hirte› mit der schillernden Vergangenheit um Nachsicht. Dennoch kann er sich mit einigen Verhaltensweisen seiner ‹Schafe› – darunter etliche ‹träge› und ‹schwarze› – nicht anfreunden: So wettert er in einer Ansprache gegen den ‹machism› der Männer, jeden geringsten Fehltritt ihrer Frauen zu bestrafen, die eigene sexuelle Libertinage hingegen stolz vor sich her zu tragen (Sermo 392). Überhaupt seine Predigten: Von nah und fern drängen sich Freunde und Feinde in seine Basilika, um Augustins ‹sermones› zu hören oder mitzunotieren. Das Kirchenvolk läßt sich von diesem Meister der Sprache packen: Es lacht und weint, es ächzt und stöhnt, es applaudiert und jubelt, es ruft dazwischen und fängt gierig die schlagfertigen Repliken des Predigers auf. Ja, dieser Aurelius Augustinus ist immer noch ein phantastischer ‹Lobredner›- doch mittlerweile in Diensten eines Herrn, den zu loben und zu preisen würdig und recht ist.
Lob Gottes: Das kennzeichnet auch einen Gutteil der rund 100 schriftstellerischen Werke Augustins. «Ich gehöre zu denen, die beim Voranschreiten schreiben und im Schreiben vorankommen», formuliert er in Epistel 143. Das älteste erhaltene Bild Augustins, ein Fresko aus dem 6. Jahrhundert, zeigt uns den Heiligen entsprechend vor einem Schreibpult sitzend, darunter die Verse: ‹Verschiedene Väter haben Verschiedenes gelehrt – dieser aber schlechterdings alles ...›. Und doch verdichtet sich jenes ‹alles› bei Augustin im Lobe Gottes. Lob Gottes: Das kennzeichnet zumal seine ‹Bekenntnisse›, die der Bischof um das Jahr 400 herum verfaßt. ‹Bekenntnisse›: Das heißt ‹Bekennen› der Größe Gottes wie auch ‹Bekennen› der eigenen Schuld – und dies alles in einem Ineinander, das in der Kulturgeschichte bis dahin nicht seinesgleichen hat. Gerade in seinen ‹Confessiones› will Augustin seine ureigenen existentiellen und religiösen Erfahrungen teilen, mitteilen, austeilen. Daher wandern unsere Augen mit dem Blick Augustins von der rechten Seite unseres Triptychons immer wieder zurück in dessen Zentrum und über diese Mitte hinaus zu dessen linkem Flügel. Die große Klammer, die die drei so unterschiedlich gefärbten Blöcke unseres ‹Lebens-Bildes› zusammenhält, lautet: ‹Gnade, Gnade und nochmals Gnade!› «Ich bitte Dich um Dein Erbarmen, Herr. Ich verberge Dir nicht meine Wunden. Du bist der Arzt, ich bin der Kranke. Du bist Erbarmen, ich bin erbärmlich» (Confessiones 10,28,39). «Gib, was Du forderst, dann fordere, was Du willst» (Confessiones 10,29,40; 10,31,45; 10,37,60).
Ist diese große literarische und theologische Demutsgeste der ‹Bekenntnisse› von Amtsverständnis und Lebensführung des Bischofs von Hippo gedeckt? Unsere Quellen sagen: ‹ja›! Freilich ist Augustin die Gallionsfigur des nordafrikanischen Katholizismus, der mit den Mächtigen in Staat und Kirche in Briefwechsel steht und dessen Schriften man seinen Stenographen unter dem Federkiel hinwegstiehlt. Und doch möchte Augustin ‹servus – Diener› sein, Diener Gottes und Diener seiner Gläubigen. «Seine Kleider und Schuhe ... waren sehr einfach. ... Vom Besteck waren nur die Löffel aus Silber. ... Nicht Armut und Not zwangen zu dieser Einschränkung, sondern Augustin liebte es so», versichert uns Possidius in Augustins Lebensbeschreibung. Zu seinem Bescheidenheits- und Armutsideal bekennt sich der Bischof in einer seiner Predigten sogar ausdrücklich und läßt dabei eine Kostprobe seines Charmes aufblitzen: «Jemand bietet mir ein kostbares Seidengewand als Geschenk an. ... Doch ziemt es sich nicht für Augustinus, für einen armen Mann, der von armen Eltern geboren wurde. ... Ich sage euch, eines kostbaren Gewandes würde ich mich schämen, weil es nicht zu meiner Berufung paßt und nicht zu meinen Prinzipien – außerdem sähe es seltsam aus auf diesen alten Gliedern und harmonierte nicht recht mit meinem grauen Haar» (Sermo 356).
Der Bischof mit alten Gliedern und grauem Haar – das letzte Bild, das wir auf unserem Heiligenaltar erkennen können. Augustin wirkt skeptischer als in seiner Jugend. Wie sich selbst, so sieht er auch die gesamte Weltzeit ins Greisenalter vorgerückt. Angesichts des Zerfalls des Römischen Reiches, besonders aber angesichts der immer wieder aufflackernden Bedrohungen seiner geliebten Kirche durch ‹Häretiker und Schismatiker›, wie er sie nennt, sehnt er sich in seine ewige Heimat, ins ‹himmlische Jerusalem›. Im Jahre 430, als Vandalenhorden seine Bischofsstadt belagern, erkrankt Augustin schwer. «Da ließ er sich die ... Bußpsalmen Davids ... seinem Bett gegenüber an die Wand heften. Fortgesetzt schaute er in den Tagen seiner Krankheit auf sie hin, las sie betend ab und vergoß dabei reichlich Tränen ... Doch er sah und hörte noch gut bis zu der Stunde, da er ... von unseren Gebeten begleitet ... heimging zu seinen Vätern». Indes hat Augustinus längst dafür Sorge getragen, daß sein Lebenszeugnis und seine Botschaft über seinen Tod hinaus zu leben und zu gedeihen vermögen. Seine Schriften sind, katalogisiert und kopiert, auf dem Weg in alle Welt, ebenso wie seine geliebte ‹ecclesia catholica›, die ‹universale Kirche›.
Da steht er nun vor unseren Augen, unser Heiligenaltar: kein Altar für den mitreißenden Rhetor oder für den charismatischen Kirchenführer, sondern ein Altar für den – wortwörtlich – ‹be-gnadeten› Menschen und Gottsucher Augustinus von Hippo.
Literatur
Aurelius Augustinus: Die Bekenntnisse. Vollständige Ausgabe. Übertragung, Einleitung und Anmerkungen von HANS URS VON BALTHASAR. Johannes Verlag, Einsiedeln 1985.
Das Leben des heiligen Kirchenvaters Augustinus. Beschrieben von seinem Freunde Bischof Possidius. Aus dem Lateinischen übertragen von KAPISTRAN ROMEIS O.F.M. Sankt Augustinus-Verlag, Berlin 1930.
PETER BROWN: Augustinus von Hippo. Eine Biographie. Übersetzt, bearbeitet und herausgegeben von JOHANNES BERNARD. Erweiterte Ausgabe. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000.
Weiterführende Links:
Segnung des von Michael Triegel geschaffenen Altarbildes der Stadtpfarrkiche St. Augustinus in Dettelbach (28. August 2011) - mit Bildergalerie
Vortrag: «Sakrament der ‹Verbindung›. Die Eucharistielehre des Augustinus von Hippo» von PD DDr. Christof Müller in der Stadtpfarrkirche St. Augustinus, Dettelbach (1. September 2011)
Die Eucharistielehre des heiligen Augustinus von Hippo ist auch ökumenisch wegweisend
Ein Beitrag für die überregionale katholische Zeitung Die Tagespost vom 18.01.2011. Von Christof Müller
Der Realismus des heiligen Augustinus (354-430) bezüglich der Kirche ist ernüchternd und gläubig-zuversichtlich zugleich. Seinem 78. Brief ist zu entnehmen, wie der Bischof von Hippo mit der Verfehlung eines Klerikers umging, die in seiner Diözese Ärgernis hervorgerufen hatte. Im Kontext aktueller Debatten um sexuellen Missbrauch in der Kirche verdient dieser Hirtenbrief Augustins Beachtung / Von Erzbischof Prof. Dr. Ludwig Schick
Der Kirchenlehrer Augustinus ist immer neu zu entdecken
Gastbeitrag in der Osterausgabe des Bayernkurier am 03.04.2010. Von Christof Müller
Augustinus und der Afghanistan-Einsatz
Die christliche Lehre von Frieden und Krieg wurde entscheidend durch den Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430) geprägt. Lassen sich die von ihm entwickelten Kriterien des „bellum iustum“ auf den aktuellen Militäreinsatz in Afghanistan anwenden? Dieser Frage widmete sich der emeritierte Völkerrechtler Professor Dr. Heinhard Steiger in einem am 25. Januar 2010 gehaltenen Vortrag beim Rotary Club Gießen, den wir nachstehend mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlichen.
Augustinus beim Verfassen von De ciuitate dei N. Polano, 1459
Bild im Originalformat anzeigen
Im 19. Buch seines Werkes "Über den Gottesstaat" entwickelt Augustinus seine Friedenslehre. Abb.: N. Polano, 1459.
Es ist der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischöfin Käßmann, sehr zu danken, die öffentliche Grundsatzdiskussion über den Krieg in Afghanistan unter christlicher Perspektive angestoßen zu haben. Kann, so lautet die grundlegende Frage, der militärische Einsatz in Afghanistan mit den ungemessenen menschlichen Opfern auf allen Seiten, weiteren Zerstörungen der gesellschaftlichen Ordnung und des Landes selbst gerechtfertigt werden? Zwar ist das Christentum, ist christlicher Glaube nicht die herrschende, nicht einmal mehr die dominierende geistige Strömung in Deutschland, hat aber doch noch immer eine wichtige, anerkannte richtungweisende Kraft innerhalb unserer Gesellschaft, ist ein gesuchter Partner im Gespräch um ihren richtigen Weg. Ich kann natürlich nur Überlegungen, Anstöße beisteuern, keine Antworten geben.
I. Zur Lage
a. Jede, auch die christlich getragene friedensethische Argumentation, muß von der tatsächlichen Lage in Afghanistan ausgehen. Diese ist höchst komplex. Sie wird daher höchst unterschiedlich dargestellt und interpretiert. Aus diesen Unterschieden ergeben sich dann aber auch unterschiedliche, ja gegensätzliche Schlußfolgerungen in ethischer Hinsicht. Ich kann nur versuchen, die einzelnen auf vielfache Weise sich kreuzenden und miteinander verknüpften Linien nachzuzeichnen. Dabei spielt bei mir als Völkerrechtler die rechtliche Einordnung und Beurteilung natürlich eine zentrale Rolle.
Man spricht häufig vom „Krieg in Afghanistan“. Es handelt sich konkret um drei kriegerische Scenarien.
b. 2001 kam es zu einer militärischen Intervention der USA mit einigen Verbündeten im Rahmen der „Operation Enduring Freedom“. Ausgelöst wurde diese Intervention durch das Attentat gegen die beiden Türme des New Yorker World Trade Center durch die Terrororganisation Al Quida am 11. September 2001. Dieses wurde als bewaffneter Angriff angesehen, der nach geltendem Völkerrecht das Selbstverteidigungsrecht der USA gegen die Organisation auslöste. Al Quida operierte damals unter dem „Schirm“ der Taliban von afghanischem Boden aus. Schon vorher hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mehrfach in Resolutionen an die Taliban appelliert, diesen Schutz aufzugeben und menschenrechtsförmige Verhältnisse herzustellen. Nach „eleven-nine“ stützte er das Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten.
Die USA führten also völkerrechtlich einen eigenen Verteidigungskrieg gegen die tatsächliche Regierungsmacht Afghanistans und die von dort aus gegen sie operierende Al Quida. Deutsche Truppen beteiligen sich an der OEF, aber nicht in Afghanistan. OEF-Truppen stehen dort noch heute und führen einen eigenen operativen und offensiven militärischen Einsatz, der kriegerischen Charakter, hat gegen die dortigen Taliban und Al Quida, zunächst um den Restwiderstand zu beseitigen, inzwischen gegen die wieder erstarkten Gruppierungen, vor allem im Süden des Landes. Ab 2006 (??) wurde der Aktionsraum amerikanischer Truppen von dem Süden zunächst auf Kabul und dann auch auf den Norden ausgedehnt. Das Wiedererstarken der Taliban in diesen Landesteilen machte das erforderlich. Aber ich konnte nicht feststellen, ob das Truppen im Rahmen der OEF sind oder der ISAF.
c. Denn nach dem Sturz der Taliban wurde von den Afghanen mit Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten in mehreren Stufen eine neue verfassungsmäßige Ordnung hergestellt. Grundlage dafür war das Petersberg-Abkommen vom 5. Dezember 2001. Aus Wahlen gingen ein Parlament und ein Präsident als Regierungschef hervor. 2009 wurden zum zweiten Mal Präsideneten-Wahlen abgehalten. Zwar gab es dabei Schwierigkeiten. Aber Afghanistan hat eine verfassungsgemäße, einigermaßen demokratische legitimierte Regierung.
In dem Petersberg-Abkommen zwischen einer provisorischen afghanischen Regierung unter Hamid Karzai und den relevanten Staaten, das der Sicherheitsrat bestätigte, wurde die erwähnte International Security Assistance Force (ISAF) errichtet. Sie steht neben den Truppen der OEF. Eine immer wieder vor allem von den USA vorgeschlagene Verschmelzung beider Operationen wurde von den anderen ISAF-Mächten, vor allem auch von der Bundesrepublik abgelehnt. Denn die ISAF hat ganz andere Aufgaben als die Truppen der OEF. Auch sie werden für ihre Aufgabe alljährlich neu mandatiert, zuletzt im Oktober 2009. Anfang 2006 wurden im Afghanistan-Compact die Ziele und Zwecke der Zusammenarbeit eingehend ausformuliert. Drei Bereiche wurden festgelegt: 1. Sicherheit, 2. Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, sowie 3. wirtschaftliche und soziale Entwicklung.Weitere Absprachen und Erklärungen folgten. Sie bilden die maßgebliche formelle und inhaltliche Grundlage der alljährlich zu erneuernden Beschlüsse des Bundestages über die Beteiligung der Bundesrepublik an der ISAF. Der letzte datiert vom Dezember 2009. Diese hat die Verantwortung für die Nordprovinz übernommen. Sie stellt dort seit Juli 2008 auch schnelle Eingreifkräfte, Quick Reaction Teams, die nun doch offensiven Charakter haben. Nach Meldungen vom 24. Januar 2010 sollen sie aber wieder abgeschafft werden.
d. Diese unterstützende Aufgabenstellung umfaßte zunächst, soweit zu sehen, vor allem die folgenden Einzelaufgaben: Hilfe bei dem inneren Wiederaufbau des Landes; Hilfe für die Regierung bei der Ausbildung von Sicherungstruppen (Polizei und Militär); Hilfe bei der Bekämpfung der Drogenwirtschaft. Es geht nunmehr also grundsätzlich um Hilfe für die und Unterstützung der afghanischen Regierung bei deren Wahrnehmung ihrer staatlichen Aufgaben für das Land und die Bevölkerung. Dabei besteht ohne Zweifel auch ein eigenes politisches Interesse an der Stabilisierung des Landes. Denn man fürchtet die Wiederkehr des Terrorismus. Aber der Satz von Peter Struck, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt, ist inhaltlich wohl eher politisch zu verstehen. Es bestand 2001 die Hoffnung und Erwartung, daß der Prozeß der inneren Friedensbildung und der Stabilisierung, vor allem des Aufbaus, mit der internationalen Hilfe gut vorangehen würde und nicht allzu lange dauern würde. Der Beginn war hoffnungsvoll gewesen.
Der Wiederaufbau umfaßt einerseits konkrete Maßnahmen für die Bevölkerung. Sie wird durch die – militärischen – Provincial Reconstruction Teams (PER) wahrgenommen, Brunnen bohren, Schulen bauen, Infrastruktur aufbauen und ausbauen etc. Gerade diese sollten die deutschen Truppen neben der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, Polizei und Militär, leisten. Dazu gehört aber auch die Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, Demokratie, Menschenrechte, vor allem um die Frauen gleichberechtigt in der Gesellschaft zu verankern. Der Compact betont ausdrücklich die islamischen Grundlagen Afghanistans. Es ist ein islamischer Staat und eine islamische Gesellschaft.
Getragen wird der Wiederaufbau außerdem von einer Vielzahl internationaler Hilfsorganisationen.
e. Die Sicherheit soll laut Compact dadurch gesichert werden, daß die afghanischen Sicherheitskräfte in den Stand gesetzt werden, angepeilt war 2006 Ende 2010, die Sicherheit zu garantieren. Von eigenen Sicherheitsmaßnahmen ist darin eigentlich keine Rede. Aber diese sind wohl von Anfang an mit dabei gewesen, aber nur kontrollierend, u.a durch militärische Patroullien, abwehrend bei konkreten Angriffen, evtl. helfend und unterstüzend. Hier liegt wohl die eigentliche militärische Entwicklung des Einsatzes, da diese Anforderungen durch die sich mehrenden Angriffe der Aufständischen ständig wuchsen.
f. Denn die Hoffnungen auf eine positive Entwicklung zu einem inneren Frieden erfüllten sich trotz nicht unerheblicher Fortschritte nicht. Im Gegenteil, die Entwicklungen der vergangenen Jahre veränderten schleichend und unausgesprochen die Aufgaben, da es nicht nur nicht gelang, die „letzten Reste der Taliban“ zu beseitigen, sondern diese sogar zunächst befriedete Gebiete, wie Kabul oder den Norden, wieder gefährden und in Teilen unter ihre Kontrolle bringen konnten, die Rede ist von 50% des Landes, und die Staatsmacht massiv angreifen. Es wird inzwischen ein echter Kampf um die Staatsmacht und die innere Ordnung Afghanistans zwischen der Regierung und den Aufständischen geführt. Diese führen ihn aber nicht nur gegen die Regierung und deren Sicherheitskräfte, sondern mit brutalen und hinterhältigen Terroranschlägen auch gegen die Zivilbevölkerung. Der überkommene Begriff für diesen Zustand ist Bürgerkrieg, also Krieg, aber nicht nach Völkerrecht zwischen Staaten, sondern Krieg innerhalb eines Staates. Ob der Begriff hier in vollem Sinne zutrifft, ist unerheblich. In der Sache kämpfen zwei Parteien um die Staatsmacht. Es geht dabei aber wesentlich auch um die rechte oder richtige islamische Ordnung Afghanistans. Insofern ist das als eine innere islamische Auseinandersetzung zu verstehen. Aber da am Ursprung, ganz nachdrücklich am 11. September 2001, die westliche Welt involviert wurde und sich nunmehr in Afghanistan weiterhin engagiert, ist es auch ein Konflikt der einen islamischen Richtung, wie sie selbst ja hervorhebt, mit dem Westen. Auch deshalb werden die ausländischen militärischen wie nicht-militärischen Einrichtungen und Menschen seitens der Aufständischen auf sehr unterschiedliche Weise angriffen.
g. Zum dritten führen „War Lords“ mit ihren Milizen ihre eigenen „Kriege“, zum Teil zumindest im Zusammenhang mit der Drogen-Wirtschaft.
h. Kompliziert wird die Lage dadurch, daß der innerafghanische Konflikt doch eine grenzüberschreitende und damit internationale Dimension hat. Einer der Hauptstütz- und auch Rückzugspunkte der Taliban und wohl auch noch immer der Al Quida Kämpfer liegt in Pakistan. Von dort sickern immer neue Nachwuchskämpfer in Afghanistan ein und verstärken die Taliban vor Ort. Zwar bekämpft die pakistanische Regierung diese mit ihrer Armee und Unterstützung der USA. Aber noch ist die Grenze nicht dicht. Auch von Afghanistan aus wird versucht, den Zufluß zu unterbinden. Deutsche Truppen sind daran aber wohl nicht unmittelbar beteiligt. Wohl aber werden sie durch die sich verstärkende Präsenz der Taliban zunehmend in Gefechte verwickelt.
i. Aus den Verschärfungen der Sicherheitslage und der Friedensstörungen ergeben sich nicht nur neue zusätzliche Aufgaben OEF-Truppen, sondern auch für die ISAF-Truppen. Der Einsatz der ISAF hat zwar nach wie vor grundsätzlich unterstützende Funktion für den inneren Aufbau. Aber die militärische Komponente tritt immer stärker in den Vordergrund, gerade auch für die deutschen Truppen, Beistand für die Regierung und ihre Sicherheitskräfte in dem aufflammenden „Bürgerkrieg“; Sicherung der Zivilbevölkerung; Sicherung der eigenen Truppen; Sicherung des zivilen Aufbaus auch der ausländischen zivilen Aufbauhelfer gegen die zunehmenden Angriffe u.a. Diese Erweiterung zu stärkerer militärischer Aufgabenstellung läßt sich bei genauerem Lesen aus den letzten Resolutionen des Sicherheitsrates zur weiteren Mandatierung der ISAF entnehmen. Soweit militärische Maßnahmen durchgeführt werden, sollen sie zwar grundsätzlich reagieren, nicht agieren. Jedoch hat die Entwicklung zum Quasi-Bürgerkrieg, haben die stetig zunehmenden direkten Angriffe auf die ISAF-Truppen, auch die deutschen, zur Folge, daß deren militärische Maßnahmen zunehmen. Für die ISAF-Truppen im Süden gilt das schon länger. Das Vorgehen zur Zerstörung der gekaperten Tanklastwagen bei Kundus hat gezeigt, daß aber auch für die deutschen Truppen zwischen Verteidigung als Abwehr eines konkreten Angriffs und vorbeugender Verteidigung, die auch einen präventiven Angriff mit gezielter Tötung einschließt, kaum noch zu unterscheiden ist. Zudem finden sich in den Zeitungen mehr und mehr Nachrichten, daß von den Sicherheitskräften nicht nur im Süden des Landes, sondern zunehmend auch im Norden aktive militärische Maßnahmen durchgeführt werden, um Aufständische aufzuspüren und festzunehmen, wobei diese u. U. auch getötet werden. Zwar heißt es, daß dieses Vorgehen jeweils unter Führung afghanischer Sicherheitstruppen steht. Aber sie werden nach diesen Meldungen in der Regel von ISAF-Einheiten, auch deutschen, unterstützt. Auch die Ausbildung soll nach dem Interview zu Guttenbergs nunmehr in der Fläche erfolgen, was die deutschen Truppen stärker in Konfrontation bringen kann. Das führt umgekehrt zu Gegenmaßnahmen der Aufständischen gegen die ISAF-Truppen. Niemand bestreitet daher mehr, daß die ISAF-Truppen und auch deren deutsche Teile in einem bewaffneten Konflikt, in kriegerischen Zuständen mit den afghanischen Aufständischen stehen. In der innerdeutschen Debatte gilt aber wohl der Vers des Matthias Claudius „’s ist leider Krieg – und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein“.
II. Christliche Fragestellung
a. Die Frage, ob Krieg und militärische Maßnahmen erlaubt seien, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Zielen und gebunden an welche Bedingungen, ist uns, Christen wie Nichtchristen, heute selbstverständlich. Aber es waren die Christen, die in der Antike zum ersten Mal in der Geschichte aus ihrem Glauben heraus die völlig neue und damals unerhörte Überlegung anstellten, ob der Einsatz militärischer Gewalt aus welchen Gründen auch immer überhaupt zulässig oder nicht grundsätzlich verboten, weil unvereinbar mit diesem Glauben sei. Zwar hatte Cicero darauf abgestellt, daß ein Krieg iustum et pium, gerecht und fromm sein müsse. Aber ihm ging es lediglich darum, daß die religiösen Formen des etruskisch/römischen religiösen Kriegsrechts, des ius fetiale, eingehalten würden. Das Recht zum Kriege stellt er nie in Frage.
b. Ist nicht, so lautet für Christen die Frage bis heute immer wieder neu, das Führen eines Krieges oder die Anwendung militärischer Gewalt in Wahrheit eine grundlegende Sünde, für die Soldaten, aber auch für alle anderen, die sie losschicken? Machen wir uns nicht an unseren Mitmenschen zutiefst schuldig? Denn militärische Gewalt schließt immer und unvermeidbar schon in der Vorbereitung die Bereitschaft zum Töten von Menschen ein, und in ihrer Anwendung eben das Töten selbst. Ist daher Krieg, Einsatz von Militär mit der christlichen Botschaft der Feindesliebe und dem Beispiel Jesu am Ölberg und auf Golgotha nicht schlechthin unvereinbar?
c. In der Tradition hat sich diese Position eines radikalen christlichen Pazifismus nicht durchgesetzt. Wenn ich die öffentliche Diskussion richtig verfolge, wird sie auch gegenwärtig von Christen und ihren Repräsentanten nicht allgemein oder auch nur überwiegend vertreten, auch nicht von Bischöfin Käßmann. Vielmehr hat sich eine am und auf Frieden ausgerichtete und durch ihn bedingte Kriegslehre durchgesetzt, die auch gegenwärtig weithin maßgeblich ist. Aber die Not und Verzweiflung vieler Christen angesichts der gegenwärtigen Kriege und ihrer schrecklichen Massenvernichtungsmittel, Umstände und Folgen ist groß und quälend. Sie, aber nicht nur sie, möchten daher, daß militärische Mittel möglichst überflüssig gemacht und durch friedliche Mittel ersetzt werden. In Deutschland ist diese Diskussion seit dem Beginn der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren bis heute nicht abgerissen. Damals traten u.a. der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider, der evangelische CDU-Innenminister Gustav Heinemann und der seinerzeit der CDU angehörende Münsteraner katholische Bundestagsabgeordnete Peter Nellen öffentlich dagegen auf. „Frieden schaffen ohne Waffen“ lautete später der Slogan der maßgeblich auch von Christen getragenen Friedensbewegung der achtziger Jahre im Westen wie im Osten.
III. Augustinus
a. Die christliche Lehre von Frieden und Krieg hat im Laufe der Jahrhunderte viele Wandlungen durchgemacht, keineswegs immer zum Guten. Sie wurde auch vielfach mißbraucht und als Vehikel für Krieg statt für Frieden eingesetzt. Trotzdem bieten die von ihr entwickelten Kriterien einen argumentativen Leitfaden, eine Orientierungsstruktur. Das wird besonders deutlich, wenn wir auf ihren Ursprung bei dem lateinischen Kirchenvater und Bischof Aurelius Augustinus (geb. 13. November 354 in Tagaste; gest. 28. August 430 in Hippo) zurückgehen, der ihre wesentlichen konkreten Elemente entwickelt hat. Er hat vor allem ganz deutlich macht, daß der Frieden, dessen Sicherung und Wiederherstellung Mittelpunkt und Ziel der Überlegungen über den Krieg sein muß. Für ihn war diese Frage deswegen mehr als nur theoretisch, weil die politische Macht des Römischen Reiches nun christlich, das Christentum Staatsreligion geworden war. Das Römische Reich und sein Frieden, die pax romana war aber zunehmend durch Angriffe von außen gefährdet. Durfte der christliche Kaiser Krieg führen? Augustinus ging es eben um den Frieden.
b. Der Friede ist, so Augustinus, das höchste Gut des Menschen. Zwar bezieht er dieses höchste Gut dem Grunde nach auf den ewigen Frieden in der Vereinigung mit Gott im ewigen Leben. Aber davon ableitend heißt es weiter: „In der Tat, das Gut des Friedens ist so groß, daß es auch im Bereich des Irdischen und Vergänglichen nichts gibt, wovon man lieber vernähme, nichts wonach man sehnsüchtiger verlangte, und auch wirklich nichts Besseres sich finden läßt.“ Das heißt für den Krieg: „Selbst das Wüten des Krieges und überhaupt alle Unruhe, die sich die Menschen machen, zielt auf den Frieden, ja es gibt kein Wesen, das nicht nach ihm strebte.“ Dieser Frieden besteht letztlich in der richtigen Ordnung, „der Friede unter den Menschen in der geordneten Eintracht ... der Friede für alle Dinge in der Ruhe der Ordnung. Unter Ordnung aber versteht man eine Verteilung von gleichen und ungleichen Dingen, die jedem seinen Platz zuweist.“ Friede also ist eine auf Ausgleich, auf Ruhe, und das heißt wohl auch Beruhigung der Verschiedenheiten, Augustin sagt: des Gleichen und des Ungleichen in ihrem Verhältnis zueinander, gebaute Ordnung. Damit hat Friede auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun, die nach abendländischem Verständnis seit Aristoteles darauf gerichtet ist, jedem das Seine, nicht das Gleiche, sondern das ihm in seiner Eigenart und damit Verschiedenheit Zukommende zuzuordnen. Die gute Ordnung der Ruhe und des Friedens setzt diese Gerechtigkeit voraus.
c. Mag der Frieden auf Erden, in der civitas terrena auch unvollkommen, mit allen Mängeln und Störungen behaftet, die den irdischen Dingen wegen ihrer unaufhebbaren Unvollkommenheit und Gestörtheit eignen, so ist er ein hohes Gut, das es zu bewahren gilt. Da ein bestehender Frieden in sich bereits ein hohes Gut ist, mag er auch Defizite vor allem in der Gerechtigkeit aufweisen, ist ein Krieg unzulässig, durch den lediglich ein bestehender Frieden durch einen besseren Frieden ersetzt werden soll. Zwar ist, wer einen bestehenden Frieden durch Krieg bricht, „nicht ein Gegner des Friedens, sondern möchte nur einen anderen, seinem Wunsch entsprechenden Frieden“. Aber jeder Krieg ist schrecklich und in jedem Fall und stets ein Grundübel, malum, und eine Folge der Sünde. Auch ein ungerechter Frieden ist daher dem Krieg vorzuziehen.
d. Daher kann nur der Friedensbruch gegebenenfalls einen „gerechten Krieg“ oder „gerechtfertigten Krieg“ (bellum iustum) begründen. Zwar nimmt diese Rechtfertigung dem Kriege nichts von seinen Schrecken, wie der Kirchenvater ausdrücklich hervorhebt. Auch wer einen gerechten oder gerechtfertigten Kriege führen dürfte, sollte die daraus entstehenden „großen, ungeheuerlichen grausamen Übel mit dem Gefühl des Bedauerns“ erwägen und wohl gegebenenfalls darauf verzichten.
e. Aber unter gewissen Voraussetzungen ist nur durch einen Krieg die Ungerechtigkeit des Friedensbruchs abzuwehren. Es kann nach seiner Auffassung Umstände geben, in denen eine Ungerechtigkeit, eine grobe Verletzung des Rechts nicht auf eine andere Weise zurückgewiesen und die Gerechtigkeit und damit der Friede wiederhergestellt werden kann. Aber hinzu tritt auch die für uns nicht mehr nachvollziehbare Überlegung, daß eine gewaltsame Korrektur für den anderen, d. h. den ungerechten Friedensbrecher selbst notwendig sein kann, um ihn auf den richtigen Weg zurückzubringen.
Aber zunächst ist die patientia, die Geduld mit dem Rechtsbrecher eine notwendige Tugend, um Übel abzuwehren. Hinzutritt die benevolentia, das Wohlwollen, oder moderner ausgedrückt die Achtung vor dem anderen. Daher ist Krieg in jedem Fall an die necessitas, die Notwendigkeit gebunden. Es darf kein friedlicher Weg bereit stehen, um das Unrecht abzuwehren und Frieden wiederzugewinnen. Formal muß über einen Krieg von dem zuständigen Träger der öffentlichen Gewalt entschieden und er unter seiner Autorität geführt werden.
f. Da Ziel des Krieges stets die Wiederherstellung des gebrochenen Friedens sein muß, muß er auch friedensgerichtet geführt werden, so daß die Besiegten von der Nützlichkeit des Friedens überzeugt werden. Auch in der Kriegführung gelten patientia und benevolentia, Geduld und Achtung gegenüber dem Feind. Er ist so zu führen, ut ad pietatis iustitiaeque pacatam societatem uictis facilius consulatur. Daher sind Grausamkeiten der Rache, ulciscendi crudelitas, Lust oder Begierde an sinnloser Schädigung, nocendi cupiditas, und selbst bloße Herrschsucht, libido dominandi, nicht mit einem gerechten Krieg vereinbar. Zwar unterscheidet Augustinus noch nicht Kombattanten und Nicht-Kombattanten, Soldaten und Zivilisten. Aber diese Trennung, die heute im Hinblick auf die Kriegshandlungen von grundlegender Bedeutung ist, hat ihren Grund auch in diesem Ausschluß von sinnloser Schädigung, Grausamkeit, Rache. Denn die Tötung Unschuldiger ist sinnlos und grausam.
g. Das alles scheinen uns Selbstverständlichkeiten, hundertmal und immer wieder wiederholte Formeln zu sein, die doch nichts bewirkt, Kriege nicht eingedämmt haben, geschweige denn beseitigen und die Grausamkeit der Kriegführung bis hin zur Atombombe nicht verhindern konnten. Zudem haben sie nichts spezifisch Christliches an sich, sondern sie entsprechen ebenso den Grundsätzen einer aus der säkularen praktischen Vernunft entwickelten Friedens- und Kriegsethik, z.B. Immanuel Kants. Sie werden heute von Christen wie von aufgeklärten Nichtchristen gleichermaßen vertreten. Dieser Befund bedeutet jedoch nur, daß christliche Friedens- und Kriegs-Ethik und praktische Vernunft in diesen Fragen inhaltlich keinem radikalen Bruch unterliegen, sondern beide gegenseitig anknüpfungsfähig sind. Das zeigen auch die vielfachen Bündnisse zwischen Christen und Nichtchristen in Friedensbewegungen und -aktivitäten. Christliche Ethik ist am Glauben orientierte praktische Vernunft. Die säkulare praktische Vernunft steht wohl inhaltlich mehr als sie selbst oft meint in der vom Christentum angestoßenen ethischen Wende und Tradition. Wieweit diese Anküpfungsfähigkeit in der Sache wie im gemeinsamen Handeln i. e. reicht, und wo vielleicht doch Unterschiede auftreten, muß jeweils im konkreten Fall ausgetestet werden.
IV. Der Afghanistan-Einsatz
Aber die Bewährung der einen wie der anderen Ethik liegt im konkreten Fall. Versuchen wir, die von Augustinus vorgelegten Kriterien auf den konkreten Fall anzuwenden.
a. Dient der Einsatz dem Frieden?
Der bewaffnete Kampf der Regierung Afghanistans gegen die Taliban soll die bewaffneten Auseinandersetzungen und damit die Gewalt beenden, die Sicherheit im Lande und der Menschen gegen die Angriffe der Aufständischen, vor allem gegen ihre verheerenden Terrorakte herstellen und gewährleisten. So soll Gewaltfreiheit als erste Stufe des Friedens hergestellt werden. Darauf können dann die weiteren inhaltlichen Stufen des Wiederaufbaus des Landes und seine Entwicklung zum Wohle der Menschen aufbauen. Inhaltlich wird der Frieden durch bestimmte Vorstellungen über die gesellschaftliche Ordnung konkretisiert, die unter anderem in dem genannten Afghanistan-Compact mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Pluralismus, Wohlstand auf der Grundlage islamischer Grundsätze beschrieben werden.
Die Unterstützung der ausländischen Hilfstruppen hat auch dieses Ziel. Das gilt gerade für die deutschen Truppen, die die Herstellung dieses Friedens durch zivilen Aufbau von Brunnen, Schulen, Infrastruktur etc. zum eigentlichen Ziel ihrer Teilnahme an dem Afghanistaneinsatz gemacht haben. Aber dagegen wird vorgebracht, der Einsatz der westlichen Truppen diene gar nicht dem inneren Frieden Afghanistans, sondern der Sicherung einer eigenen Machtbasis in der zentralen Weltregion. Die „Unterstützung“ der afghanischen Regierung sei lediglich die „Hülle“ für diesen Machtkrieg. Aber Skepsis ist berechtigt. Friedensethisch wäre eine solche Position für die Kampfeinsätze höchst kritisch zu beurteilen. Denn dann ginge es in Wahrheit gar nicht um Frieden.
b. Besteht eine necessitas, Notwendigkeit?
Als geeignetere Alternative zu militärischen Maßnahmen, zumindest gegen eine Truppenverstärkung, wird die stärkere Förderung des, wenn nicht gar die ausschließliche Konzentration auf den zivilen Aufbau zur Herstellung des Friedens eingebracht. Ziviler Aufbau ist in der Tat nicht nur das Ziel nach der Besiegung der Aufständischen, sondern der zentrale Inhalt gegenwärtigen Handelns sowohl der afghanischen Regierung als auch ihrer Unterstützer bereits seit 2001. Nur durch ihn lassen sich die genannten inhaltlichen Elemente des Friedens herstellen. Das kann man mit Waffen in der Tat nicht erreichen. Zu denken gibt aber, daß die anfangs durchaus erfolgreiche Wirksamkeit der deutschen Truppen im zivilen Aufbau in der Region Kundus nicht verhindert zu haben scheint, daß sich die Aufständischen auch dort wieder Stützpunkte verschaffen konnten und sich dadurch die Sicherheitslage für alle katastrophal verschlechtert hat. Eine zunächst befriedete Region ist heute wieder Kriegsschauplatz.
Der zivile Aufbau in der Region bedürfe daher nach allgemeiner politischer Meinung zunehmend des massiven militärischen Schutzes, für den nach Presseberichten inzwischen auch amerikanische Truppen dorthin verlegt wurden. Damit rechtfertigt auch die deutsche Regierung den militärischen Einsatz. Die Abwehr der konkreten Störer oder Angreifer im jeweiligen Angriffsfall scheint danach nicht mehr zu genügen. Passive Patroullienfahrten geraten in Hinterhalte; bloßes Präsenzzeigen genügt also anscheinend nicht mehr. Vielmehr müssen offenbar weitergehend allgemein und grundlegend friedliche Strukturen hergestellt oder wiederhergestellt und dann dauerhaft gesichert werden. Dazu braucht es nun einmal Sicherheitskräfte, d.h. auch Truppen. Frieden hat viele Stufen. Grundvoraussetzung aller anderen ist auf der ersten notwendigen Stufe Abwesenheit von Krieg und militärischer oder dauerhafter terroristischer Gewalt.
Auch hier gibt es jedoch einen praktischen, an der Wirklichkeit gewonnenen Einwand. Rupert Neudeck, Gründer von Cap Anamur und später der „Grünhelme“, betreibt mit diesen mehrere Schulprojekte im Süden Afghanistans, also in einer besonders unsicheren Gegend. Neulich las ich, daß ein Gießener Unternehmer, der Skatebord-Anlagen herstellt, mit Neudeck zusammen in Afghanistan eine solche Anlage aufgebaut hat. Er sagt ganz eindeutig, daß die ISAF Truppen nicht schützen können, daß im Gegenteil durch ihr Auftauchen derartige Projekte gefährdet wurden und würden. Wenn das so ist, und ich kenne Neudeck und seine oft sehr unbequeme, aber äußerst kenntnisreichen Aussagen seit Jahren recht gut, dann ist das friedensethisch zu bedenken, weil insoweit die Gefahr droht, daß gut gemeint nicht gut für den Frieden in Afghanistan ist. Vielleicht genügen afghanische Polizeikräfte, die dafür gut genug ausgebildet sind und bezahlt werden, um den Schutz sicherzustellen, soweit er wirklich notwendig ist.
Aber ob ziviler Aufbau allein hinreicht, um Frieden zu schaffen, erscheint jedoch zweifelhaft, wenn wir davon ausgehen, daß es sich in Afghanistan um einen Machtkampf und einen Kampf um das bessere islamische Konzept handelt. Es gilt also, sinnvolle Parallelaktionen oder Doppelstrategien von zivilem Aufbau und dessen polizeilicher und nur im Notfall militärischer Absicherung voranzutreiben.
c. Werden patientia, Geduld, und benevolentia, Achtung, geübt?
Ist mit anderen Worten Frieden ohne Krieg oder kriegerische Maßnahmen zum Frieden zu erreichen? Das heißt konkret, fanden oder finden Verhandlungen zwischen den Parteien statt, sind solche überhaupt gewollt und ins Auge gefaßt? Gerade sie werden von Kritikern des kriegerischen Vorgehens immer wieder als friedliche Mittel der Konfliktbewältigung eingefordert. Ob und inwieweit gegenwärtig versucht wird, durch Verhandlungen mit den Aufständischen den Bürgerkrieg zu beenden und Frieden herzustellen, läßt sich von außen nicht feststellen. Denn von Friedensgesprächen oder auch nur Verhandlungen wird in der Öffentlichkeit nicht berichtet. Das schließt aber nicht aus, daß sie auf irgendwelchen verborgenen Wegen versucht werden oder sogar laufen. Es werden jedoch offenbar Überlegungen in diese Richtung angestellt, da auch von offizieller Seite Kontaktaufnahmen mit „gemäßigten Taliban“ ins Spiel gebracht werden. D.h. es scheint Überlegungen zu geben, auch auf friedlichem Wege durch Verhandlungen zu einem neuen Friedenszustand zu kommen. Dabei werden gewiß sehr viel patientia, Geduld, und benevolentia, Achtung der anderen, investiert werden müssen.
Aber Gespräche als solche bringen nicht sofort ein Ende der Gewalt. Um das Ende der Angriffe und Terrorakte der Aufständischen und damit das Ende der militärischen Gegenmaßnahmen der Regierung zu erreichen, bedarf es eines gegenseitigen Waffenstillstandes oder einer Waffenruhe, die aber auch Gespräche voraussetzen. Es reicht nicht, daß die militärischen Maßnahmen seitens der Regierung und der mit ihr verbündeten ISAF-Truppen einseitig in der Hoffnung eingestellt werden, daß die andere Seite sich entsprechend verhalten werde. Damit scheint derzeit nicht zu rechnen zu sein.
Ohne Zweifel aber besteht die Notwendigkeit und das friedensethische Gebot, alle Wege, Verbindungen, Beziehungen, offizielle wie inoffizielle, zu nutzen, um Gespräche, Verhandlungen in Gang zu setzen, alle friedlichen Mittel zu suchen und zu nutzen, im Lande wie außerhalb des Landes, und dazu auch die notwendige Geduld und Achtung gegenüber den Partnern einzusetzen. Eine Ablehnung oder auch nur Verschiebung solcher Versuche oder Ansätze widerspricht dem christlichen friedensethischen Ansatz, aber auch der praktischen Vernunft. Es bedarf also auch hier der Parallelaktion oder Doppelstrategie.
d. Eignung der militärischen Mittel?
Sind die militärischen Mittel überhaupt geeignet, um wirklich Frieden herzustellen? Das wird für Afghanistan vielfach bestritten. Man könne mit Waffen keinen Frieden schaffen, hat u.a. Bischöfin Käßmann gesagt. So allgemein stimmt dieser Satz wohl nicht. Mit militärischem Einsatz läßt sich Gewalt sehr wohl beenden und die erste grundlegende Stufe des Friedens herstellen. Aber selbst das ist nicht überall der Fall. Für Afghanistan wird zum einen geltend gemacht, daß die Folgen militärischer Schläge gegen die Aufständischen vor allem wegen ihrer Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung eher dazu geeignet seien, die ausländischen Mächte derart in Mißkredit zu bringen, daß diese nicht als Hilfe, sondern als Besatzer angesehen würden, gegen die der Krieg durch die Aufständischen verstärkt werden müsse. Das stärke also nur das Potential der Aufständischen. Das scheint aber weniger ein Problem militärischer Mittel in Afghanistan überhaupt zu sein, als vielmehr eine Frage der konkreten Anwendung solcher Mittel, also ihrer jeweiligen Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit.
Viel grundsätzlicher ist der zweite Einwand, daß die ausländischen, insbesondere die westlichen Truppen, ganz abgesehen von den genannten „Kollateralschäden“ wie in Kundus, prinzipiell in der islamischen Gesellschaft und ihren internen Auseinandersetzungen kein Ende der Gewalt herstellen können. Dagegen spricht nicht, daß einige Afghanen den Angriff in Kundus begrüßt haben – andere werden das ganz anders gesehen haben. Vielmehr spricht einiges dafür und es muß daher sorgfältig bedacht werden. Sollte es stimmen, dann ist das weitere Truppenengagement friedensethisch grundsätzlich zu überdenken, da durch die Unterstützung für die afghanische Regierung aus dem Westen das gesteckte Ziel Frieden nicht zu erreichen ist, ja ihn geradezu behindert.
e. Sind die „grausamen Übel“ zu groß – Verhältnismäßigkeit – ?
Es ist nicht zu leugnen, daß es bei den Aktionen der Regierungstruppen und der ISAF-Truppen immer wieder zu erheblichen Schädigungen und auch Tötungen und Verletzungen der Zivilbevölkerung kommt. Es war gerade der, bis dahin allerdings einmalige deutsche Fall in Kundus, der in Deutschland die grundsätzlichen Diskussionen um den Einsatz ausgelöst hat, weil er uns zeigte, daß dort kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden und nicht nur deutsche Soldaten fallen, sondern auch Zivilisten durch unsere militärischen Einsätze zu Tode kommen können. Andererseits überwiegen die Folgen der Angriffe und Terrorakte der Aufständischen auch hinsichtlich der Toten und Verletzten unschuldiger Zivilisten bei weitem. Sie scheinen angesichts der Art und Weise ihrer Ausführung auch mit dem Wunsch nach Grausamkeit geplant, um eben durch diese die Ziele zu erreichen. Gerade dies soll durch das Vorgehen gegen die Aufständischen zum Schutz der Bevölkerung abgestellt werden.
So kommt es darauf an, ob und inwieweit bestimmte Kriegshandlungen oder militärische Einsätze seitens der afghanischen Regierung und ihrer Verbündeten angemessen oder verhältnismäßig sind. Gültige ethische Antworten setzen eine genaue Kenntnis der Verhältnisse voraus. Dazu gehören vor allem auch die Kenntnis der Mittel, die beide Seiten in ihrem Kampf einsetzen oder einsetzen können. Gibt es ausschließende Antworten? Sind nur akute Verteidigungsmaßnahmen gegen konkrete Angriffe erlaubt, aber keine vorbeugenden, gar strukturellen militärischen Sicherungs- und Befriedungsmaßnahmen? Gibt es da Unterschiede zwischen der afghanischen Regierung und ihren Verbündeten? Muß vor allem die Tötung von Zivilisten völlig ausgeschlossen sein? Seitens der Regierung und ihrer Verbündeten aber auch seitens der Aufständischen? Gilt ein einseitiger Ausschluß nur für die erstgenannten, jedenfalls aber für die ausländischen Verbündeten? Dafür könnte sprechen, daß es nur um Hilfe für die Regierung, nicht um einen eigenen Krieg oder bewaffneten Konflikt geht. Andererseits sollen die verbündeten Truppen Sicherheit herstellen und gewährleisten. Da kommt die Partisanen-Taktik der Aufständischen ins Spiel, Zivilisten als Schutzschilde, als Deckungsmilieus zu benutzen, hinter oder in denen sie sich verbergen, von denen aus sie ihre Angriffe starten und in die sie sich dann wieder zurückziehen. Zivile Opfer werden daher nicht zu vermeiden sein, es sei denn, man verzichtet auf strategische oder strukturelle militärische Maßnahmen und reduziert sie auf reine Abwehrmaßnahmen in konkreten Fällen.
V. Was folgt?
a. Grundsätzlich ist die Beteiligung Deutschlands an der ISAF friedensethisch zu vertreten. Der Einsatz am zivilen Aufbau im weiten Sinne steht außer Zweifel. Die materielle Hilfe für andere Völker ist nicht nur ein Gebot moderner Solidarität unter den Völkern, sondern auch christlicher Ethik, die spätestens seit der Spätscholastik von der Einheit der einen Menschheit ausgeht. Sie ist völkerrechtlich anerkannt und, wenn auch bezüglich der Ausführung unter gewissen Bedingungen, sogar gefordert. Grundsätzlich sind die Staaten, die die Hilfe empfangen, dafür verantwortlich, daß die notwendige Sicherheit und Ruhe für die Helfer und den Erfolg der Hilfe gewährleistet ist. Ist die Lage in einem Staat nicht hinreichend sicher, unterbleibt die Hilfe oder wird auf die sicheren Regionen beschränkt. Eine militärische Unterstützung der legalen, verfassungsmäßigen Staatsmacht in den internen kriegerischen Auseinandersetzungen geht zwar über die normale Solidarität hinaus. Aber sie ist zulässig. Da sie jedoch bedeutet, daß die ISAF-Mächte Partei ergreifen in einem Konflikt, der sie eigentlich nicht, allenfalls mittelbar betrifft, könnte das friedensethisch zweifelhaft sein. Denn das bedeutet, daß die ISAF-Truppen unter Umständen töten müssen. Daher muß auch diese Form der Unterstützung als solche der necessitas entsprechen, also notwendig sein, um den Frieden in Afghanistan wiederherzustellen und zu sichern. Das ist generell der Fall. Denn ganz ohne Truppen geht es derzeit in Afghanistan nicht, um Frieden zu sichern, und die afghanischen Sicherheitskräfte reichen dafür nicht. Daher verstößt der ISAF-Einsatz und mit ihm der der deutschen Truppen m. E. nicht generell gegen die friedensethischen Kriterien, wie sie Augustinus vor 1600 Jahren entwickelt hat.
b. Aber es gibt doch konkrete friedensethische Forderungen und Anforderungen. Vor allem ist einiges genauer zu prüfen und in den Folgen zu bedenken. Erschwert der Westen durch seine militärische Unterstützung für die afghanische Regierung eher den innerislamischen Friedensprozeß, als daß er ihn voranbringt? Wie steht es mit den eigenen Motiven? Man wird nicht verlangen können, daß völlig uneigennützig Unterstützung gewährt wird. Aber es ist doch eine zentrale Frage, was hier im Vordergrund steht, die Solidarität mit Afghanistan und seinen Menschen bei der Wiedergewinnung einer friedlichen Lebensordnung für alle, oder die eigenen Interessen. Wird genug getan, um friedliche Parallelaktionen zu fördern? Sind die militärischen Notwendigkeiten wirklich immer hinreichend friedensethisch und nicht nur militärisch belegt? Werden den Gegnern Geduld und Achtung im hinreichenden Maße entgegengebracht? Vor allem an letzterem könnte es gegenüber den „fundamentalistischen Taliban“ u. U. mangeln. Hier scheint sich ein Wandel anzudeuten. Schließlich ist immer wieder sehr genau zu prüfen, welche Maßnahmen wirklich jeweils geeignet, notwendig und angemessen sind, um Frieden konkret in Afghanistan allgemein, aber auch in lokaler, regionaler Abgrenzung herzustellen.
c. Friedensethisch nicht zu vertreten sind jedoch zwei über die Sicherheit in Afghanistan hinausgehende Überlegungen. Seit mehreren Jahren wird von verschiedenen Seiten eine internationale „Responsibility to protect“ eingefordert. Damit soll die internationale Intervention im Falle von Menschenrechtsverletzungen einer Regierung gegen ihre eigene Bevölkerung und zur „Wiederherstellung der Demokratie“ begründet werden. In äußersten Fällen wie Völkermord oder intensiven fortdauernden Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll sogar eine militärische humanitäre Intervention gerechtfertigt sein. Darauf berief man sich letzten Endes im Kosovo für den Einsatz der NATO und der EU-Truppen. In Ruanda und im Südsudan unterblieben derartige Eingriffe. Das zeigt bereits die Gefahren des Ansatzes, der sehr schnell ins politische Beliebige und Opportune abrutschen kann. Friedensethisch ist er abzulehnen. Denn zwar kann man Gewalt mit Waffen stoppen, nicht aber eine friedliche innere Ordnung der Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie durch Waffen errichten. Das zeigt sich in einem gewissen Grade gerade auch in Afghanistan. Auch bei Wiederkehr der Taliban ist zwar ein Regime zu erwarten, das nicht unseren Menschenrechtsstandards und unseren Demokratiepostulaten entspricht; aber derart massive tiefgreifende Vorgänge wie Völkermord oder ethnische Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nicht zu befürchten.
d. Zum anderen werden Präventivgründe geltend gemacht. Wenn die Taliban zurückkehren würden, würde Al Quida dort wieder einen „sicheren Hafen“ finden und eine Basis für erneute internationale Terrorakte gewinnen. Das müsse vorbeugend verhindert werden. Erstens ist Al Quida inzwischen in anderen Ländern untergekommen. Zweitens ist fraglich, ob die Neotaliban diesen „Fehler“ der ersten Taliban nach den Erfahrungen wieder begehen würden. Zum dritten sind militärisch-kriegerische Präventivmaßnahmen schon nach geltendem Völkerrecht nicht zulässig, zumindest sehr kritisch zu betrachten. Schon deswegen sind sie auch friedensethisch nicht akzeptabel. Zudem aber darf „auf Verdacht“ hin kein Krieg geführt werden. Denn dieser erfüllt schon per se nicht die Bedingung der necessitas.
Es genügt nicht, daß nach Auffassung des Weltsicherheitsrates durch die Situation in Afghanistan der Weltfrieden ganz allgemein bedroht ist oder bedroht sein könnte, weil es dort diesen noch fortdauernden Bürgerkrieg gibt. Denn der Sicherheitsrat nennt keine konkreten Gefährdungen, geschweige denn friedensbrechende Gewaltakte aus Afghanistan gegen die Staaten oder die Staatengemeinschaft. Die formelhafte Berufung ist das tragende Argument für sein Einschreiten und vor allem, wie die beschlossenen Maßnahmen zeigen, für die Legalisierung der Unterstützung Afghanistans durch die ISAF-Mächte. Daraus folgt für diese oder die Weltgemeinschaft insgesamt auch nach Auffassung des Sicherheitsrates kein eigenes Kriegsrecht gegen die Taliban. Vielmehr weist der Sicherheitsrat die Verantwortung für Sicherheit und Frieden im Lande allein der afghanischen Regierung zu. Die ISAF-Mächte haben dabei Unterstützung zu leisten. Nur im Hinblick auf diese unterstützende, helfende Funktion ist die Teilnahme der ISAF-Mächte einschließlich Deutschlands friedensethisch zu prüfen.
VI. Abzug
Da der Einsatz in einer bestimmten Weise friedensethisch vertretbar ist, ist ein sofortiger Truppenanbzug friedensethisch nicht geboten. Aber auch wenn man in der friedensethischen Bewertung des Afghanistan-Einsatzes zu einem anderen Schluß kommt, müssen bezüglich des Truppenabzuges wiederum ethische Momente bedacht werden.
Ein Abzug ohne Waffenstillstand würde zunächst bedeuten, die noch schwache afghanische Regierung im Kampf mit den Aufständischen sich selbst zu überlassen. Es steht zu vermuten, daß dann der Frieden weder in Bezug auf Sicherheit noch in Bezug auf seine inhaltlichen Ziele erreicht werden könnte, bereits gewonnene Befriedungen und Aufbauleistungen etc. wieder verloren gingen. Ist das mit den Verabredungen und Verpflichtungen gegenüber Afghanistan vereinbar? Die ISAF-Mächte sind spätestens seit der Petersberg-Konferenz in der vereinbarten Pflicht, dem Land und den Menschen beizustehen und den inneren Wiederaufbau mit den genannten Zielen zu fördern. Da die Umstände, wie dargelegt, die militärische Hilfe als Sicherung dieser Grundaufgabe in einem gewissen Maße erfordern können, ist ein Abzug vor dem Ziel friedensethisch nicht verantwortbar.
Für Deutschland allein gilt zudem, daß wir gegenüber der Weltgemeinschaft und insbesondere den anderen ISAF-Mächten Mitverantwortung übernommen und uns zu entsprechender Mitwirkung verpflichtet haben. Darauf verlassen sich die anderen Mächte. Ihr eigenes Engagement nimmt diese deutsche Mitwirkung als konstitutive Voraussetzung für sich auf. Für uns gilt in bezug auf sie das Gleiche. Diese wechselseitige Verläßlichkeit und Angewiesenheit bedeuten Bündnis und „Freundschaft“. Würden wir abziehen, fiele ihnen eine größere Last zu. Immerhin stellen wir das drittgrößte Kontingent und tragen Verantwortung für den ganzen Norden. Wir würden unsere Haut und unsere Gesinnung auf Kosten anderer retten.
VII. Die Tugend der Handelnden
Diese friedensethischen Überlegungen zum Afghanistan-Konflikt wurden aus der von Augustinus begründeten christliche Perspektive entwickelt. Aber es wurde auch immer wieder darauf hingewiesen, daß eine säkulare Friedensethik der praktischen Vernunft nicht zu anderen Schlüssen kommen würde. Jedoch unterscheiden sich beide in ihren Ansätzen. Geduld mit und Achtung gegenüber dem Gegner sind personale Tugenden des Handelns, nicht Prinzipien oder Leitsätze. Auch Gerechtigkeit ist als personale Tugend begriffen und nicht als objektives Ordnungsprinzip. Sie nehmen den Handelnden als Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen in den Blick. So wird deutlich, daß es auf beiden Seiten um die Menschen geht, ihr Leiden, ihr Wohlergehen, ihren Tod, ihren Frieden untereinander. Deswegen ist die letzte Antwort, ob ein Krieg oder eine kriegerische Maßnahme notwendig ist, eine höchst personale Gewissensfrage, die den Handelnden, zwar in ihrem jeweiligen Amt, aber nicht nur als Politiker, als Militärbefehlshaber etc., sondern letztlich als Menschen in die Verantwortung nimmt. In einer Welt ausdifferenzierter Systeme und Rollen mag das nicht mehr funktionsadäquat erscheinen. Aber mir scheint, daß die Debatte um den Afghanistan-Konflikt genau diese personale Dimension der Verantwortlichen zum Kern hat. Aber da wir uns davor fürchten, flüchten wir in politische Scheingefechte über „Krieg“ oder „Stabilisierungseinsatz“, „wer wußte was wann“, welche Befehlsstränge wurden eingehalten oder welche nicht, etc. Krieg oder kriegerische Konflikte sind mehr als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie sind existentielle Herausforderungen. Die Besinnung auf menschliche Tugend könnte hilfreicher sein, sie zu bestehen, als allein der Verweis auf ethische Prinzipien.
Heinhard Steiger