Der Kirchenlehrer Augustinus ist immer neu zu entdecken
Gastbeitrag in der Osterausgabe des Bayernkurier am 03.04.2010. Von Christof Müller
Aurelius Augustinus (354-430) – rhetorisches, philosophisches und theologisches Genie, pastoral und kirchenpolitisch einflussreicher Bischof, wirkungsgeschichtlich mächtiger Kirchenvater – erfreut sich innerhalb der Geistesgeschichte in gewissen Abständen immer wieder verstärkter Beachtung. Dieses Phänomen ist auch gegenwärtig zu beobachten – und zwar nicht nur im päpstlichen Umfeld, sondern im Zentrum des Zeitgeistes: So deklamiert Gérard Depardieu in der Kathedrale Notre Dame aus Augustins Confessiones – Bekenntnissen, so komponiert Wilfried Hiller die Kirchenoper Augustinus – ein klingendes Mosaik, so strahlt die ARD Ostern 2010 einen opulenten Zweiteiler über diese spätantike Gestalt und ihr Leben aus.
Was aber fasziniert uns Heutige an diesem Römer aus der nordafrikanischen Provinz? Zu einem hohen Anteil sicherlich das in Biographie und Werk aufgleißende „Menschlich-Allzumenschliche“, nicht nur wahrgenommen als Zwielicht von „Sünde“ und „Heiligkeit“, sondern als unter die Oberfläche und unter die Haut gehendes Leuchten eines zeitübergreifenden Humanums: des ruhelosen Fragens und Suchens nach demjenigen, das bei Augustinus in den funkelnden Begriffen von „veritas“ (Wahrheit) und „beatitudo“ (Glück) aufscheint und das bei den heutigen Zeitgenossen immerhin in der kleineren Münze des „Orientierungswissens“ aufblitzt.
Doch inwiefern vermag der vor nahezu 1600 Jahren verstorbene Kirchenvater als Mentor auf dem Felde des „Orientierungswissens“ und der „Sinnsuche“ zu figurieren? Augustinus erblickte in Umbruchzeiten das Licht der Welt; alle Sicherheiten des Römischen Reiches waren ins Wanken geraten. Die Menschen suchten Antworten auf ihre Ängste und Fragen nicht nur im staatlich favorisierten Christentum, sondern auch im Götterkult der Alten, in exotischen Mysterien, in einer der zahlreichen Philosophenschulen – oder trösteten sich mit Brot und Spielen. In dieser Gemengelage von Sinnangeboten – durchaus vergleichbar mit unserer weltanschaulich pluralen Gegenwart – suchte auch Augustinus nach Orientierung. Seine Confessiones, inszeniert als „Liebesgeschichte“ zwischen dem gnädigen Gott und dem gnadenbedürftigen Menschen Augustinus, erzählen mitreißend von den seinen Weg zum Glauben begleitenden existentiellen und weltanschaulichen Irrungen und Wirrungen, zu denen Sex und Glamour, Rausch und Absturz ebenso gehörten wie die jahrelange Zugehörigkeit zu einer esoterischen Sekte. Das Suchen nach Sinn und Wahrheit wurde nachgerade zu einem Signum seines Lebens, dessen Quintessenz er, modellhaft für die Existenz eines jeden Menschen, auf die unnachahmliche Formel brachte: „Du (Gott) hast uns zu Dir hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es zur Ruhe kommt in Dir“ (Confessiones).
Der junge Augustinus schaffte es dank Talent und Stipendien bis zum Studium in der Weltstadt Karthago. Hier lernte er neben dem „dolce vita“ auch eine Fülle an philosophischen und weltanschaulichen Thesen und Theorien kennen. Erstaunlicherweise war es gerade das Buch eines Heiden, der Hortensius des Cicero, das dem jungen Mann die Frage nach dem rechten Leben und der Wahrheit ins Bewusstsein bohrte.
Doch zunächst verfolgte Augustinus seine weltliche Karriere: Der kleinbürgerliche Junge wurde zum Professor für die führenden Kulturtechniken der Spätantike; sein Renomée reichte bis nach Rom. Hier wollte man ihn als Rhetor hören, und Augustin folgte dem Werben. Als er einige Zeit später dem Ruf in die prestigeträchtige Position eines Lobredners am Kaiserhof zu Mailand nachkam, eilte die besorgte Mutter – die später heiliggesprochene Monika – ihm hinterher und fand hinter der glänzenden Fassade das Elend einer tiefen Sinnkrise. Doch gerade in der tiefsten Krisis sieht der Geheilte im Rückblick die Kräfte der Genesung wachsen. Stößt Gott ihn denn nicht genau jetzt auf die Bücher der Neuplatoniker und macht ihn mit ihrem geistigen Gottesbild bekannt? Führt Christus, der wahre Arzt, ihn nicht genau jetzt zu Bischof Ambrosius, der theologischen Lichtgestalt Italiens? „Ich selbst wurde unglücklicher, Du (Gott) aber kamst näher. Ganz allmählich griff Deine Hand nach mir, mich aus dem Schlamm zu ziehen und zu waschen“ (Confessiones).
Augustins weitere Vita ist bekannt: Auf den geheimnisvollen Anruf „Tolle lege – Nimm und lies“ hin nahm er sich den Römerbrief des Apostels Paulus zu Herzen, erfuhr ein umwälzendes Bekehrungserlebnis und richtete seine gesamte Lebensorientierung auf Gott aus. Nach einigen Jahren spiritueller Vertiefung ließ er sich zunächst zögernd, dann aber entschieden auf den Dienst an der Kirche ein.
Vorerst kämpft er ausschließlich mit Charisma und theologischer Brillanz, später wird er zögernd die Staatsmacht des Römischen Reiches zu Hilfe rufen, um die Vormacht des Katholizismus in Nordafrika zu sichern. Neben seiner rigide wirkenden Sexualmoral ist es gerade diese Allianz mit der staatlichen Gewalt, die Augustinus in den Jahrhunderten seit der Aufklärung immer wieder – und durchaus mit gewisser Berechtigung – zum Gegenstand der Kritik gemacht hat.
Doch auch nach seinem Bekehrungserlebnis blieb Augustinus weiterhin ständig auf dem Weg, und abseits, bisweilen sogar inmitten von „Dogmatik“ und „Polemik“ begegnet uns der Bischof von Hippo als ein „Suchender“: „Man soll Dich (Gott) lieber nichtfindend finden, als etwas findend Dich nicht finden“, heißt es programmatisch in seinen Confessiones. Es ist wohl nicht zuletzt diese intellektuelle und existentielle Demut, die Augustinus für die „Sinnsucher“ der Gegenwart so attraktiv erscheinen lässt.
Gegenüber der postmodernen Gefahr, die Sinnsuche zu Relativismus oder Reduzierung auf Selbstverwirklichung erschlaffen zu lassen, plädiert Augustinus jedoch mit Leben und Lehre dafür, sich für die Frage nach „umfassender Wahrheit“ offenzuhalten: Nur im Ausgreifen nach Wahrheit – für Augustinus: im Ergriffen-Werden durch Gott – ergreifen und begreifen der endliche Geist und das suchende Herz sich selbst. Die existentielle und religiöse Suchbewegung bedeutet für Augustinus nicht Unverbindlichkeit, sondern zustimmende Bindung an das als wahr Erahnte – mitsamt allen praktischen Konsequenzen!
Dr. Christof Müller ist Mitarbeiter im Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg und Mitherausgeber des Augustinus-Lexikons. Zur Lektüre empfiehlt er Johann Kreuzer, Augustinus zur Einführung, Junius Verlag 2005, 13,50 Euro, sowie Agostino Trapè, Aurelius Augustinus, Ein Lebensbild, Verlag Neue Stadt, Neuausgabe 2006, 22 Euro. Weitere Informationen auch unter www.augustinus.de
© ‹Bayernkurier. Deutsche Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur› Nr. 13 vom 3. April 2010, Seite 22