ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

AUGUSTINUS – SCHULE UND ERZIEHUNG
Hildesheim, am 21.06.2004

Cornelius Petrus Mayer OSA

Gestatten Sie mir zwei kurze Vorbemerkung zu meinem Referat: Augustinus – Schule und Erziehung.

1. Das dem Latein entstammende Wort ‹Schule› hat nach dem Wörterbuch der deutschen Gegenwartsprache (wie übrigens schon im Latein) mehrere Bedeutungen: Es kann damit die Lehranstalt gemeint sein, das Schulgebäude, die Gesamtheit der Lehrer und Schüler, eine künstlerische oder wissenschaftliche Richtung, der Titel bestimmter Lehrbücher und nicht zuletzt der erteilte Unterricht bzw. die erteilte Unterweisung. In meinem Vortrag geht es um diese letztgenannte Bedeutung.

2. In der Antike hatte der Unterricht mehr als in der Moderne zugleich das ethische Verhalten der Schüler zum Ziel. In diesem Sinne war die Unterweisung stets auch Erziehung. Der Lehrer sollte immer Erzieher sein: Erzieher durch Sprache, durch Musik, durch Mathematik etc. etc. Wie dies zu bewerkstelligen ist, auch dies zeigt Augustinus.

Werde ich nach empfehlenswerter Lektüre über Augustinus gefragt, so antworte ich ohne zu zögern: Augustinus der Seelsorger. Leben und Wirken eines Kirchenvaters von Fritz van der Meer. Dieses fast 800 Seiten umfassende, Augustins Alltag mit der ganzen Fülle pastoraler Verpflichtungen abdeckende, ungemein informative und deshalb auch faszinierende Werk ist 1946 erschienen und wurde schon bald darauf in beinahe alle europäischen Sprachen übersetzt.

Gebildete kennen Augustin in der Regel als den Verfasser epochaler Werke, mit denen der Kirchenvater auf die Kultur des christlichen Abendlandes einwirkte, Die Bekenntnisse etwa oder Der Gottesstaat oder Der dreieinige Gott. Die bischöfliche Cathedra, bemerkt van der Meer, sei dem Seelsorger jedoch wichtiger gewesen als der Schreibtisch.

Nun hat Augustinus sich beruflich keineswegs auf die Seelsorge, sondern auf die Schule vorbereitet. Bis zu seiner Bekehrung zum katholischen Glauben im Jahre 386 war er ein Mann der Schule, Pädagoge, Didaktiker, Erzieher. Somit steht zu vermuten, dass es primär seine erzieherischen Fähigkeiten waren, die er in die Seelsorge mit einbrachte: auch als Bischof blieb er Lehrer und Erzieher seiner Diözese.

Unter den Schriften Augustins befindet sich ein kleines Büchlein mit dem Titel De disciplina christiana - Über die christliche Disziplin[1]. Das vom Verb ‹discere-lernen› abgeleitete Nomen ‹disciplina› bedeutet ‹Belehrung, Unterweisung, Unterricht, Zucht›, also intellektuelle wie moralische Erziehung. Das Büchlein beginnt mit dem Bibelzitat aus Sirach 51, 36. 31: «Nehmt Belehrung an im Haus der Lehre». «Das Haus der Lehre», so fährt der Text bei Augustinus weiter, «ist die Kirche Christi. Was lernt man hier und warum lernt man? Wer sind die Lernenden und von wem lernen sie?»

Diese wenigen Sätze zeigen schon, dass Augustinus sein Amt in der Kirche vorzüglich als Vermittlung christlicher Bildungsstoffe verstanden wissen wollte. Es gibt da in seinem Werdegang bei allem Wandel bzw. Wechsel in seiner Biographie eine auf die Notwendigkeit der Vermittlung von Lehr- und Bildungsstoffen, also eine auf den Unterricht und auf die Erziehung hin feststellbare Kontinuität. Ich denke, beides, den Wandel und die Kontinuität gilt es zu sehen, wenn man der Person und dem Werk Augustins gerecht werden will.

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Wenden wir uns zunächst dem Bildungsgang des vor 1650 Jahren am 13. November 354 geborenen Augustinus zu. Ich beziehe mich dabei vorzüglich auf die Bekenntnisse, sofern sie autobiographische Stoffe verarbeiten[2]. Augustins Vater Patricius[3] ließ dem Sohn eine klassische Ausbildung[4] zuteil werden. Trotzdem blieb sein Einfluss auf die geistige Entwicklung des Sohnes geringer als der Monnicas, der Mutter, die als gläubige Katholikin ihre nicht getauften Kinder christlich erzog.

Seinen Elementarunterricht, Lesen, Schreiben und Rechnen, erhielt der Knabe in der Geburtsstadt Thagaste. Er litt unter dem Zwang des gebetsmühlenartig erteilten Unterrichts und hasste alles Griechische[5]. Später bedauerte er diese Lücke in seiner Ausbildung, denn viele Gebildete seiner Zeit sprachen fließend griechisch[6]. Umso inbrünstiger liebte er die lateinische Sprache Er besaß ein empfindsames Gemüt. Es war ihm ein Leichtes, seine Empfindungen bei schulischen Aufführungen auf die Zuschauer zu übertragen. Nicht zuletzt in bezug auf diese schon früh zutage getretenen rhetorischen Fähigkeiten nannte man ihn einen ‹bonae spei puer – hoffnungsvollen Knaben›[7].

Zur Weiterbildung in Grammatik und Rhetorik wurde Augustinus in das etwa 30 km entfernte Madaura geschickt[8]. Als 15jähriger musste er jedoch aus Mangel an Finanzen der Eltern seine dortigen Studien für ein Jahr unterbrechen. Nachdem es dem Vater mit Hilfe eines befreundeten Gönners gelungen war, die Kosten für die weiteren Studien aufzubringen, zog Augustinus 370 nach Karthago. Er genoss dort die Freiheiten des Studentendaseins und nahm sich eine Konkubine. Sie schenkte ihm einen Sohn, den er Adeodatus nannte[9].

Zum Studium der Rhetorik gehörte die Lektüre der Werke Ciceros. Darüber berichten die Confessiones: «Im Verlauf des Studiengangs kam ich an das Buch eines gewissen Cicero ... Das Buch enthält seine Aufforderung, sich der Philosophie zu widmen. Es trägt den Titel Hortensius. Jenes Buch führte eine Wende in mir herbei»[10]. Der von seiner Mutter religiös erzogene Augustinus war enttäuscht, dass ihm Christi Namen darin nicht begegnete. Er las zwar daraufhin die Bibel, indes, ihr Stil gefiel ihm nicht. Außerdem plagte ihn die Frage nach der Herkunft des Bösen in der Welt, worauf die Manichäer ihm eine schlüssige Antwort zu geben versprachen.

Der Manichäismus, eine vom Perser Mani im 3. Jahrhundert nach Christus gegründete Religion, fußte weltanschaulich auf einem Dualismus, wonach das Gute und das Böse gleich zweier Prinzipien einander gegenüberstehen. Das Unheil in der Welt, so lehrten dessen Anhänger, entstamme der Vermengung des Guten mit dem Bösen. Das Heil hingegen erfolge auf dem Weg der Befreiung aus der Umklammerung des Bösen. Augustins missionarischer Eifer für den Manichäismus war beachtlich. Er nahm sogar die Entfremdung zwischen sich und seiner Mutter in Kauf, die ihm vorübergehend das Haus verbot[11].

Augustin rühmte sich, dass er als Student nicht nur die schwerverständliche Schrift des Aristoteles über die Kategorien, sondern auch «alle Bücher der sogenannten freien Künste» für sich selber gelesen und verstanden habe. Dazu gehörten außer den Werken Ciceros über die Rhetorik[12] die Handbücher zur Geometrie, Musik und Arithmetik. Bei den Schilderungen seiner Studien lässt er abermals durchblicken, welch ‹rasche Auffassungsgabe› und welch ‹dialektische Schärfe› zu seinen Geistesgaben zählten[13].

Nach Abschluss seiner Studien lehrte Augustin für eine kurze Zeit Grammatik in seiner Vaterstadt[14] und darauf Rhetorik in Karthago, wo er bis zu seinem 29. Lebensjahr blieb. Er muss schon in seinen jungen Jahren ein faszinierender Lehrer und Erzieher gewesen sein, denn er erzählt, dass der um einige Jahre jüngere Alypius, später ein namhafter Jurist, Bischof und sein bester Freund, entgegen den Willen seines Vaters, der mit Augustinus ein Zerwürfnis hatte, dennoch seinen Unterricht besuchte – zunächst aus Neugier, dann aber ostentativ, weil er ihn schlicht ‹für gut und für gelehrt› hielt[15].

In Karthago noch schloss Augustinus sich dem akademischen Skeptizismus an. D.h., er hielt es in Punkto Weltanschauung für besser, sich eines Urteils zu enthalten. In dieser Geisteshaltung verließ er im Jahr 383 Karthago und zog nach Rom.

Als Grund für diesen Wechsel geben die Bekenntnisse das lümmelhafte Benehmen der karthagischen Studenten an[16]. Aber die Studenten in Rom enttäuschten ihn nicht weniger, da sie ihm vielfach das Honorar schuldig blieben[17]. Er war darum froh, als sich seine Verhältnisse durch seine Berufung zum Professor der Rhetorik in der Kaiserstadt Mailand entschieden verbesserten.

In Mailand begegnete Augustinus das Christentum in der Gestalt des hochgebildeten Ambrosius. Er begann die Gottesdienste des Bischofs zu besuchen, zunächst freilich nur «um zu prüfen, ob dessen Redekunst mit ihrem Ruf in Einklang stünde»[18]. Allmählich interessierte er sich auch für den Inhalt. Ambrosius entnahm nämlich das theoretische Gerüst seiner Darlegungen nicht nur der Bibel, sondern auch der damals weitverbreiteten neuplatonischen Philosophie, so dass Augustinus die biblisch-christliche Verkündigung schon im Kontext des platonischen Denkens kennen lernte.

Hinzu kommt, dass Augustin in Mailand Kontakte zu einem Kreis von Intellektuellen knüpfen konnte, die alle Anhänger jener Philosophie waren. Die Neuplatoniker, namentlich Plotin ihr Haupt, Porphyrios sein Schüler und Jamblich Schüler wieder des Porphyrios waren Erneuerer der Philosophie Platons im 3. Jahrhundert nach Christus. Mit dem Christentum verband sie ihr rein geistiger Gottesbegriff. Der Rhetor Marius Victorinus, ein Landsmann Augustins, übersetzte Schriften von ihnen ins Lateinische und machte ihre Gedanken zugleich auch für die christliche Theologie des Westens akzeptabel.

In den Bekenntnissen, in denen Augustinus von seiner ersten Lektüre neuplatonischer Schriften berichtet, heißt es: «Du (Gott) spieltest mir .... einige aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte Bücher der Platoniker in die Hände»[19]. Welche Bücher dies im einzelnen waren, ist für unser Thema unerheblich. Erheblich ist aber die Tatsache, dass erst deren Lektüre ihm den definitiven Zugang zum Christentum ermöglichte[20].

Die Bekehrung selbst mit dem vielzitierten Höhepunkt des «Nimm und lies!» schildert Augustin freilich unter Aufbietung seines ganzen literarischen Könnens als einen alleinigen Akt der göttlichen Gnade. In den bald darauf entstandenen Frühschriften hingegen hebt er die Wirkung der Lektüre jener neuplatonischen Schriften gebührend ins Licht. Er vergleicht sie mit «Tropfen kostbarsten Öls», die in ihm ein «unglaublich loderndes Feuer» entzündet hätten, und die er deshalb «mit größter Aufmerksamkeit und Hingabe ganz und gar durchlas»[21].

Zu den gelesenen ‹Büchern der Platoniker› gehörte höchst wahrscheinlich die Schrift des Porphyrios über Die Rückkehr der Seele. Hinter diesem Titel verbirgt sich das philosophische Programm einer Ethik, die an eine ganz bestimmte Ontologie, an eine Lehre über das Sein des Seienden, des Universums, gebunden ist.

Im Hinblick auf dieses Sein unterschieden die Platoniker zwischen einer dem Raum und der Zeit enthobenen geistigen und unveränderlichen Welt sowie einer davon abhängigen, dem Raum und der Zeit unterworfenen, materiellen und veränderlichen. Zugleich teilten sie die aus beiden Welten bestehende Wirklichkeit in gestufte Seinssphären auf. Man spricht deshalb in bezug auf diese ihre Lehre von einer Ontologie der Stufen. An deren Spitze steht ein begrifflich nicht näher fassbares Prinzip, das die Neuplatoniker schlicht ‹das Eine› nannten. In der Mitte dieser Skala von Seinsstufen, die zugleich eine Werteskala ist, befindet sich der Mensch; mit seiner Geistseele gehört er dem oberen, mit seinem Leib aber dem unteren Bereich an.

Man sieht unschwer, worauf es bei der Rückkehr der Seele ankommt. Nach der Philosophie der Neuplatoniker gewinnt und sichert der mit Vernunft und Willensvermögen ausgestattete Mensch seinen Heilsstand in der ‹Um- und Rückkehr›, in der ἐπιστροφή, in der ‹conuersio›. Darin, in der Um- und Rückkehr, vollzieht sich zugleich der ‹Aufstieg›[22] zum ‹Einen›, dem Ursprung allen Seins. Auf diese Rückkehr der Seele zielt auch das neuplatonischen Bildungs- und Erziehungsprogramm ab.

Nun bekehrte Augustinus sich nicht zum Neuplatonismus, sondern zum Glauben der katholischen Kirche. Ist aber im Evangelium nicht ebenfalls von der ‹Umkehr›[23] die Rede? Zur Zeit seiner Bekehrung erblickte Augustinus noch in beiden Forderungen zur ‹Um- bzw. Rückkehr› ein gewisses Maß an Übereinstimmung, was er bei der Abfassung seiner Bekenntnisse, ein Jahrzehnt später, nicht mehr tat. Jetzt war er vom neuplatonischen Bildungs- und Erziehungsprogramm so begeistert, dass er sich unverzüglich anschickte, es, wenngleich christlich modifiziert, in die Tat umzusetzen.

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Schon bald nach der Bekehrung im Sommer 386 gab Augustinus sein Lehramt in Mailand auf, nicht jedoch das Lehren. Mit einer kleinen Schar von Verwandten, Freunden und Schülern zog er sich auf das Landgut Cassiciacum[24] unweit Mailand zurück. Dort entstanden seine ersten philosophischen Dialoge, stenographisch festgehaltene und im Nachhinein stilistisch überarbeitete Diskurse über die Möglichkeit sicherer Erkenntnisgewinnung, über die Frage nach dem wahren Glück und schließlich über das Vorhandensein einer von Gott gelenkten Ordnung.

Im großen und ganzen glich der ein Vierteljahr dauernde Lehrbetrieb dem eines Internats mit einem festem Erziehungskonzept[25]. Die jungen Leute, die sich auch mit ländlichen Arbeiten befassten, oblagen ihren Studien unter der Leitung Augustins. Es wurden Dichter gelesen, Vergil, Schriften Ciceros und Varros und wahrscheinlich auch einige neuplatonische Schriften in lateinischer Übersetzung. Daneben gab es Zeit für Muße und Erholung.

Die Höhepunkte des Unterrichtes bildeten die aufgezeichneten Diskurse. Sie bezeugen den hohen Stellenwert der Philosophie im Unterricht, und zwar für eine Bildungselite. Gleich im ersten Diskurs über den Nutzen und den Sinn des Philosophierens, steht nämlich der an Klarheit nichts missen lassende Satz: «Es pflegen die bedeutendsten Sachen bzw. Sachverhalte (maximae res), wenn sie von Schülern (a paruis) erörtert werden, diese selbst bedeutend (magnos) zu machen»[26].

Eine Reihe von Diskursen hatte die Ordnung im Aufbau der Welt zum Thema. Dabei tauchten Fragen auf wie die, ob die Welt angesichts der unübersehbaren Widrigkeiten überhaupt von einer Ordnung durchwaltet werde. In seiner Antwort verweist Augustin auf die Wichtigkeit der Perspektive. Wer z.B. ein Mosaik betrachte, dürfe sich nicht bei einzelnen Steinchen aufhalten. Es gelte vielmehr, das Ganze aus nötigem Abstand zu sehen, anders werde man dessen Schönheit und Harmonie nicht ansichtig.

Der Seinsordnung habe eine Ordnung der Wissenschaften und dieser wieder der Unterricht zu korrespondieren. Was alle diese Ordnungen miteinander verbinde sei die Vernunft, der λόγος, die ‹ratio›. Sie walte sowohl im Kosmos wie auch in der Geistseele des Menschen, die daran einen Anteil hat. Nur kraft dieses Anteils könne sinnvoll von einer in die Seinsordnung gleichsam eingebetteten Bildungsordnung die Rede sein.

Ehe Augustin auf diese Bildungsordnung zu sprechen kommt, erörtert er das Verhältnis von Autorität und Vernunft als die beiden Quellen der Erkenntnis. Am Anfang des Wissenserwerbs steht das Vertrauen auf eine Autorität, sei es die der Eltern, sei es die der Lehrer, sei es die Gottes. Der Vernunft allerdings obliegt die Aufgabe, das Geglaubte soweit möglich in gesichertes Erkennen zu überführen. «In zeitlicher Hinsicht», so das Fazit, «nimmt die Autorität die erste Stelle ein, in sachlicher die Vernunft»[27].

Mit der Definition, die Vernunft sei «eine Bewegung des Geistes, der die Fähigkeit zu eigen ist, das Gelernte zu unterscheiden und zu verbinden»[28], eröffnet Augustin den Diskurs über die Studienordnung. Er unterscheidet zunächst zwischen den Begriffen ‹vernünftig› und ‹vernunftgemäß›. Ersteres ist, was der seine Vernunft Gebrauchende tut, letzteres, was mit Vernunft getan wird. Wissen im strengen Sinn des Wortes gewinnt der Mensch nur, wenn er mit Hilfe der Vernunft das Vernunftgemäße an den Objekten der Erkenntnis sucht.

Bei der Suche steht dem Suchenden ein Zyklus von sieben Einzeldisziplinen zur Verfügung. Sie werden aufgeteilt in eine ‹Trivium› genannten Kanon mit den die Sprache betreffenden Fächern der Grammatik, der Dialektik und der Rhetorik[29], sowie einem ‹Quadrivium› genannten mit den die Zahlen betreffenden Fächern der Musik, der Geometrie, der Astronomie und der Arithmetik[30].

Gewiss haben die genannten Fächer ihr Eigengewicht und ihren Nutzen, die Grammatik z.B. für das korrekte Sprechen, Lesen und Schreiben, sie gewinnen jedoch ihre im Zyklus intendierte Bedeutung erst in der Wahrnehmung der sämtliche Bildungsstoffe durchziehenden und sie verbindenden Rationalität.

Wie ein Blick in eine lateinische Wortkunde zeigt, bedeutet ‹ratio› primär die Zahl und das Gezähltes. Am Ende der Erörterung der Arithmetik, der obersten Stufe auf der Bildungsleiter, heißt es von der über die Zahl reflektierende Vernunft: weil ihr bereits in allen Disziplinen Zahlen begegnet seien, begann sie sich zu fragen, ob sie nicht vielleicht selbst Zahl sei, durch die alles gezählt werde, oder ob die Zahl nicht identisch sei mit dem Ziel, zu dem sie, die Vernunft, gelangen wolle[31].

Was ist dieses Ziel, wenn nicht die Zahl ‹Eins› an der Spitze des von Zahlen beherrschten Kosmos? Und was sind die Zahlen insgesamt, wenn nicht das unbegrenzt Vielfache der ‹Eins›, gleichsam der Mutter aller Zahlen? Nach der idealistischen Philosophie der Platoniker konstituieren und strukturieren sie, obgleich ihrem Wesen nach raum- und zeitlos das Universum.

Die Musik z.B., um das Gesagte zu illustrieren, ist nicht vermöge ihrer akustischen Wahrnehmbarkeit eine Disziplin, sondern vermöge ihrer aus Zahlen bestehenden Harmonien und Disharmonien. Die reine Oktav, die reine Quart, die reine Terz, sind mathematische Größen, die nicht wie die Töne vergehen, sondern jenseits aller Töne bestehen und deshalb, weil sie bestehen, von der Vernunft, unabhängig davon, ob Töne erklingen, einsichtig gemacht werden können[32]. Von einer anderen Disziplin, der Geometrie, lehrt Augustinus, ehe könne man auf dem Trockenen mit einem Schiff fahren, als mit den Sinnen Geometrie treiben[33].

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Noch während seines Aufenthaltes in Cassiciacum plante Augustinus die Abfassung einer Dutzende von Bänden umfassenden Enzyklopädie. In den gegen Ende seines Lebens geschriebenen kritischen Revision seiner Werke heißt es dazu: «In der Zeit, da ich in Mailand die Taufe empfangen sollte, habe ich versucht, Bücher über die Wissenschaften zu schreiben». Die pädagogische Absicht, die er damit verfolgte war klar. Sie sollten die Schüler «durch den Bereich körperlicher Dinge und Sachverhalte gleichsam auf gesicherten Stufen zu den unkörperlichen ... hinführen»[34]. Er habe aber davon lediglich den Teil über die Grammatik fertig stellen können. Sie sei ihm jedoch abhanden gekommen. Von den Disziplinen der Dialektik, der Rhetorik, der Geometrie, der Arithmetik und der Philosophie habe er jeweils nur die ebenfalls verloren gegangenen Anfänge geschrieben.

Erhalten blieben aber die ersten sechs Bücher der etwa um 388/89 abgefassten Schrift Über die Musik[35]. Von ihnen beschäftigen sich die ersten fünf ebenfalls ausschließlich mit dem Rhythmus, der Metrik der Verse und Versfüße. Bei der Lektüre des sechsten Buches gerät man ins Staunen, denn es hat einen unverkennbar anderen sprachlichen wie inhaltlichen Duktus. Stammten die Zitaten in den ersten fünf Büchern so gut wie ausnahmslos aus heidnischer Feder, aus Catull, Horaz, Vergil und Terenz, so strotzt das sechste von Sentenzen aus der Bibel. Ausdrücklich beteuert Augustinus, dass er sich allzu lange bei den Grammatikern und Poeten aufgehalten habe, was er nicht für gut halte.

Was ist geschehen? Wie lässt sich dieses Sich Distanzieren von den einst vertretenen Bildungs- und Erziehungsidealen in ein und demselben Werk erklären? Es gibt dafür einen doppelten Grund, einen biographischen und einen theologischen.

Augustinus wurde 391 Priester in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo. Er war nun als Seelsorger nicht nur für die Gebildeten, sondern auch für die des Lesens und Schreibens Unkundigen zuständig. Ihr Bildungs- und Erziehungsprogramm entnahm aber die Kirche der Bibel. Aus diesem Grunde ließ er sich bald nach seiner Ordination zum Zwecke «eines erneuten und tieferen Eindringens in die hl. Schrift» von seinem Bischof für einige Monate beurlauben. Er war überzeugt, dass in der Bibel auch bezüglich der Seelsorge Anleitungen zu finden seien, die diese Aufgabe erleichterten[36].

Kaum zum Bischof geweiht, erhielt Augustinus um 396/97 einen Brief von Simplizian, dem Nachfolger des Ambrosius in Mailand, in dem dieser ihn um die Beantwortung verschiedener Fragen bat, darunter einige, die das Zusammenwirken von der Freiheit des Willens und von der Gnade betreffen. Augustin vertiefte sich erneut in die Briefe des Apostels Paulus. Er las Rm 9,16: «So kommt es nicht auf das Wollen und Streben des Menschen an, sondern auf das Erbarmen Gottes»; er las Phil 2,13: «Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt». Aufgrund solcher Texte sah er sich er sich genötigt, seine bisherige Lehre über die Gnade zu modifizieren. «Bei der Lösung dieser Frage», schreibt er später, «ist zwar eine Menge zugunsten der freien Willensentscheidung vorgebracht worden, die Gnade Gottes blieb jedoch Siegerin»[37].

Man wird die Tragweite dieser neu gewonnenen Sicht über das Christ werden und Christ sein für die pädagogisch wie pastoralen Aktivitäten Augustins nicht unterschätzen dürfen. Vieles wurde jetzt anderes gesehen und anders bewertet, nicht zuletzt die Bildungsprogramme mit ihren Bildungsstoffen.

Ein luzides Beispiel liefern gerade die sechs Bücher Über die Musik. Um das Jahr 408/409 erhielt nämlich Augustinus einen Brief von einem Bischofskollegen namens Memorius, der ihn um eine Abschrift von De musica bat. Augustin verweigerte die Bitte mit der Begründung, er sei noch nicht dazu gekommen, die ersten fünf Bücher, die von Prahlereien voll seien, zu überarbeiten. Überarbeitet habe er aber inzwischen das sechste Buch; das wolle er ihm gerne zusenden[38].

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Wie eingangs erwähnt, erblickte Augustinus in der Kirche eine Art Schule und Erziehungsanstalt mit Christus dem eigentlichen Lehrer und Erzieher. Als Bischof, hatte er in dessen Namen die Gläubigen zu unterweisen und zu erziehen. Gleich zum Beginn seines Episkopates verfasste er eine seiner bedeutsamsten Schriften, mit der er die Fundamente und die Ziele der christlichen Gelehrsamkeit wie auch die des Unterrichtes für ein Jahrtausend festlegte[39]. Er gab ihr den programmatischen Titel De doctrina christiana – Die christliche Wissenschaft bzw. Unterweisung (oder Belehrung)[40].

Wohlgemerkt, Augustinus hat nicht gesagt es gäbe nur eine Wissenschaft, die christliche. Er wollte aber dem von der Kirchen vermittelten Wissensstoff den Rang einer Wissenschaft einräumen, und dies in aller Deutlichkeit. Augustinus gehört nicht in den Kreis Bildungsfeindlicher Fanatiker wie jener legendäre Kalif, der die Bibliothek von Alexandrien mit der Begründung anzünden ließ, alles Wahre stünde bereits im Koran.

Die christliche Wissenschaft entnimmt ihren Bildungsstoff der Bibel. Sache der Bibel aber ist Gott. «Seit Erschaffung der Welt», dies las Augustinus im Römerbrief, werde Gottes «unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen» (1,20). Darüber hinaus offenbart der dreieinige Gott sich in der Geschichte seines Volkes, die in der Menschwerdung Christi gipfelt. Davon berichtet das Neue Testament und das darauf hin zu lesende Alte. Gottes Heilshandeln in der Zeit, das also ist der Stoff der Bibel.

Weil allerdings die Texte der Bibel unterschiedlich ausgelegt werden können, bedarf es der Normen und Regeln für deren Auslegung. Für Regeln aber sind die Wissenschaften insgesamt, nicht nur die bereits erwähnten sieben, sondern auch alle anderen, die Geschichte, die Botanik, die Medizi etc. zuständig[41]. Sie werden jetzt erneut behandelt und in den Dienst des christlichen Unterrichtes gestellt.

Sind diese Regeln ebenso zuverlässig wie die Sache, von der Bibel berichtet? Augustinus beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja. Denn Erkenntnisse sind Einsichten in wahre Sachverhalte, die Geltung beanspruchen. Da Gott Quelle alles wahren Wissens ist, darf es keinen Grund für eine Ausklammerung der Wissenschaften aus dem christlichen Unterricht geben. Der Christ, sofern er dazu befähigt ist, soll sich nicht nur ihrer bedienen, er muss von ihnen Gebrauch machen. Augustin vergleicht diese in den Dienst der Verkündigung genommenen Wissenschaften aus der heidnischen Antike mit dem Gold und dem Silber, das die Israeliten, wie die Bibel erzählt, beim Auszug aus Ägypten auf ausdrücklichen Befehl Gottes hin mitgenommen hatten[42].

Aufgabe der christlichen Wissenschaft bzw. Unterweisung ist somit das Lehren und Lernen von Regeln, die bei der Lektüre biblischer Texte Christen helfen sollen, Gott zu erkennen und zu verehren. War dies aber nicht Ziel auch der von den Neuplatonikern empfohlenen Disziplinen? Ja und Nein. Ja, sofern ihr Bildungsprogramm auf die Erkenntnis Gottes als Prinzip des Seins, als Quelle alles Wahren, Guten und Schönen abzielte. Nein, sofern sie das in der Menschwerdung Christi gipfelnde Handeln Gottes in der Zeit und damit den biblischen Gottesbegriff vehement ablehnten.

Worin aber liegt die Überlegenheit und der Vorzug der biblischen Gottesvorstellung gegenüber die der Neuplatoniker? Diese Frage beantwortet die Schrift Von der christlichen Unterweisung.

Gewiss ist Gott auch nach der biblischen Offenbarung Prinzip des Seins, Quelle des Wahren, Guten und Schönen. Er ist aber darüber hinaus seinem Wesen nach allem voran ‹caritas-Liebe›. Keiner der Theologen hat zuvor gerade diesen Aspekt des Gottesbegriffes für das christliche Bildungsprogramm so überzeugend aus der biblischen Offenbarung abgeleitet und für den Unterricht aufbereitet wie der Bischof von Hippo. Gott ist nicht allein Inbegriff der Wahrheit, er ist die Liebe. Erst beides, Wahrheit und Liebe liefern den Verstehensschlüssel zu den biblischen Texten.

Augustinus hatte aufgrund seiner intensivierten Bibelstudien erfasst, dass die Texte der Bibel uns nichts anderes lehren, uns zu nichts anderem erziehen wollen als zur ‹caritas›, zur Gottes- und Nächstenliebe. Mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen ging er deshalb daran, das Studium der ‹caritas› dem der ‹ueritas› gleichzustellen. Bildung ist nicht allein Sache des Intellektes, sondern auch der Herzens. Gottes Wahrheit, Liebe und Ewigkeit bilden gleichsam einen Zirkel. Bündig und auch sprachlich vollendet nennt er Gott die «ewige Wahrheit, die wahre Liebe und die geliebte Ewigkeit»[43].

Es ist also in bezug auf das Lehren und Erziehen bei Augustinus eine Akzentverschiebung zwischen seinen frühen und späteren Schriften wahrzunehmen. Es gibt da aber bei allem Wandel eine Kontinuität, die sich in der bleibenden Überzeugung von der Notwenigkeit der Unter- und Zuordnung allen Wissens auf ein höheres Ziel hin zeigt.

Wissen hat keinen Eigenwert – darin ist Augustinus sich mit den Neuplatonikern einig. Ein Studium, das lediglich der Sammlung von Wissen dient, wird von ihm lapidar Neugierde genannt[44]. Wo immer Menschen sich dem Wissensstoff allein zuwenden, als gäbe es sonst nichts, dort gebiert die Wissenschaft Hochmut, die ins Verderben führt. Worin zeigt sich der Wandel? In der zunehmenden Wertschätzung der ‹caritas›. «Füge dem Wissen die Liebe hinzu», sagt der Bischof in einer Predigt, «und es wird nützlich werden das Wissen – nicht durch sich selbst, sondern durch die Liebe»[45].

Augustinus war, wie bereits erwähnt, ein exzellenter Pädagoge, dessen didaktische Fähigkeiten unbestritten sind. Zu seinen pastoralen Aufgaben gehörte die Erteilung des Unterrichtes für die Katechumenen. Ebenfalls noch in seinen früheren Bischofsjahren schrieb er ein Büchlein mit dem Titel Vom ersten katechetischen Unterricht[46]. Darin befinden sich zwei Katechesen, eine kürzere und eine längere, die musterhaft zeigen, worauf es im Christentum sowohl hinsichtlich der Lehre wie auch der Sittlichkeit ankommt. Und da ein erfolgreicher Unterricht nicht zuletzt von der Methode der Darbietung des Stoffes abhängt, geht er ausführlich auf die Fragen ein, wie die Lernmüdigkeit und der Überdruss am Stoff zu überwinden sei. Er empfiehlt einen heiteren Unterricht. Gelingt es dem Lehrenden ein von Furcht und Angst freie Atmosphäre zu schaffen, so dürfte er des Erfolges sicher sein. Die Dialoge von Cassiciacum legen ein beredtes Zeugnis davon ab, wie es Augustinus gelang im Diskurs eine Spannung zu entfachen und diese durch eine geschickte Gesprächsführung im Gang zu halten. Seine Predigten – viele reisten aus fernen Ländern an, um sie nicht nur zu lesen, sondern auch zu hören – waren alles andere als langweilig.

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Am Ende meines Vortrages soll Kritisches nicht verschwiegen werden. Man lastete Augustinus die Verkümmerung der Naturwissenschaften während der folgenden Jahrhunderte in Europa an, weil er die Wissenschaften vorzüglich auf die Bibelinterpretation hin einschränkte. So lange das kirchliche Lehramt, sich auf die überragenden Autorität Augustins berufend, sich gegen eine Revision ihrer Blockade den Wissenschaften gegenüber sperrte, kultivierte sie eine die Naturgesetze nicht wahrhaben wollende Ignoranz (Gallilei, Darwin). Erst als in der Neuzeit der Prozess der Emanzipation aus dem kirchlich gebundenen Wissenschaftsverständnis einsetzte, habe sich in den Naturwissenschaften der Erkenntnisfortschritt eingestellt.

Diese Kritik trifft Augustinus insofern, als er den Quellgrund der Erkenntnisgewinnung tatsächlich der Bibel zusprach. Daraus zogen allerdings nicht er, sondern Epigonen, die mit dem Wissen ihrer Zeit nicht mehr so souverän wie er umzugehen verstanden, den verhängnisvollen Schluss, Wissen als solches sei schädlich und mit dem Glauben als Erkenntnisquelle nicht vereinbar. Beschäftigt man sich indes ein wenig näher mit jenen Schriften, in denen Augustinus biblische Texte auslegt, so staunt man darüber, in welcher Dichte und mit welcher Aufgeschlossenheit er das Wissen seiner Zeit zu Rate zog, um in den Sinn dieser Texte eindringen zu können.

Folgendes halte ich indessen im Hinblick auf unser Thema für erwägenswert: Heute, da die Desillusion hinsichtlich einer Heilserwartung seitens der Wissenschaften auch die breiten Schichten der Gesellschaft ergreift, und der Mensch angesichts des kaum mehr überschaubaren und registrierbaren Wissens sich wieder auf die Suche nach dem Sinn aufmacht, könnte ein Bildungsprogramm, das auch den emotionalen Schichten des Menschen mehr Rechnung trägt eine Hilfe bedeuten.

Wenn also der Kirchenvater, wie gezeigt, die Wissenschaften zwar der Offenbarungslehre unterordnete, den Sinn und Zweck der Offenbarung selbst jedoch in der Anleitung des Menschen zur Gottes- und Nächstenliebe erblickte, dann dürften die an einem solchen Bildungsprogramm sich Orientierenden an einer Auflösung humaner Werte kaum beteiligen. Positiv gewendet heißt das: Der nicht allein vom Intellekt, sondern auch vom Herzen her gebildete Christ, worin das augustinisch-christliche Bildungsideal kulminiert, wird sich bemühen, mit dem Wissen selektiv umzugehen. Denn, so wichtig Wissen in unserer technisch hochentwickelten Zivilisation auch sein mag, nicht dessen Beherrschung macht den Menschen im Sinne auch der Humanität gebildet, sondern dessen Verankerung in Gott, bei dem sich der Mensch mit allem, was zum Menschsein gehört geborgen weiß.

Und noch ein Letztes: Auf der Homepage des Zentrums für Augustinus-Forschung in Würzburg www.augustinus.de verzeichnet die Statistik Tag für Tag 3-400 Besucher aus aller Welt mit Tausenden von An- und Abfragen. Fachleute sagen, dieses Interesse für einen Kirchenvater aus der Zeit der Spätantike sei enorm. Wir bemühen uns auch die Veröffentlichungen über Augustinus ihn aus aller Welt zu erfassen und bibliographisch aufzuarbeiten. Jahr für Jahr erscheinen immer noch rund 300 Titel – ebenfalls eine enorme Zahl. Kein geringerer als Adolf von Harnack, Universalgelehrter und Wissenschaftsorganisator zugleich, Mitglied zahlreicher Akademien der Wissenschaften, sagte über Augustinus: «Er ist der Mann, der überhaupt in der Antike und in der Kirchengeschichte nicht seinesgleichen gehabt hat»[47]. Eine Schule, die sich mit seinem Namen schmückt, darf darauf stolz sein. Ich wünsch ihren Schülern und Lehrern für die kommenden Zeiten Gottes Segen beim Lehren und Lernen.

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[1] A. Zumkeller, Disciplina christiana (De-), AL 2 (1996-2002) 464-471.

[2] Siehe dazu meinen Aufsatz im Internet, www.augustinus.de: Die ‹Confessiones› – Autobiographe oder Werbeschrift für das Christentum?

[3] Conf. 2,5.

[4] Zum Begriff Bildung bei Augustsinus: C. Mayer, Eruditio: AL 2 (1994-2002) 1094-1114.

[5] Conf. 1,19sq.

[6] I. Hadot, Erziehung und Bildung bei Augustin, in: Internationales Symposion über den Stand der Augustinus-Forschung (hrsg. von C. Mayer/K.H. Chelius), Würzburg 1989, 99-130, 116-118.

[7] Conf. 1,26.

[8] Conf. 1,5.

[9] Conf. 4,2 und 9,14.

[10] Conf. 3,7.

[11] Conf. 3,19.

[12] I. Hadot, 120

[13] Conf. 4,28-30.

[14] Possid. uita Aug. 1,2 (p. 42 Pellegrino)

[15] Conf. 6,11..

[16] Conf. 5,14.

[17] Conf. 5, 22.

[18] Conf. 5,23

[19] Conf. 7,13.

[20] Hadot, 127.

[21] Acad. 2,5.

[22] G. Madec, Ascensio, ascensus: AL 1 81986-1994) 465-475.

[23] Mc 1,15.

[24] G. O’Daly, Cassiciacum: AL (1986-1994) 771-781.

[25] M.P. Steppat, Die Schola von Cassiciacum. Augustins ‹De ordine›, Bad Honnef 1980.

[26] Acad. 1,6.

[27] Ord. 2,26. Dazu K.-H. Lütcke, Auctoritas: AL 1 (1986-1984) 498-510.

[28] Ord. 2,30.

[29] Ord. 2,35-38.

[30] Ord. 2,38.43,

[31] Ord. 2,43

[32] Ord. 2,41.

[33] Sol. 1,9

[34] Retr. 1,6. Siehe dazu auch M. Fussl/D. Pingree, Disciplinae liberales: AL 2 (1996-202) 472-485.

[35] Siehe dazu die Monographie: A. Keller, Aurelius Augustinus und die Musik. Untersuchungen zu ‹De musica› im Kontext seines Schrifttums, Würzburg 1993.

[36] Ep. 21,4

[37] 1 Retr. 2,1.

[38] Ep. 101. Siehe dazu J. Divjak/Red, Epistulae: AL 1 (1986-1994) 893-1057, 967, sowie A. Keller, op. cit. 154-157.

[39] C. Mayer, Der gebildete Christ. Fundamente und Ziele christlicher Gelehrsamkeit nach dem heiligen Augustinus: Theologie und Philosophie 52 (1977) 272-279.

[40] K. Pollmann, Doctrina christiana (De-): AL 2 (1996-2002) 551-575. R. Lorenz, Die

[41] Einzellerörterungen dieser Wissenschaften in doctr. chr. 2.

[42] Ex 3,22; 12,35sq.; Doctr. chr. 2,60-63. Dazu auch C. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins, Würzburg 1974, 320.

[43] Conf. 7,16.

[44] Siehe dazu ep. 118 an Dioscorus und R. Lorenz, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955) 29-60; 213-251, 244-246.

[45] Io. eu. tr. 27,5.

[46] C. Mayer, Catechizandis rudibus (De-): AL (1986-1994), 794-805. Die Schrift wurde unter dem Titel Vom ersten katechetischen Unterricht, München 1985, von W. Steinmann neu übersetzt und mit Erläuterungen von O. Wermelinger versehen.

[47] Was verdankt unsere Kultur den Kirchenvätern? in: Aus Wissenschaft und Leben, Gießen 1911, 3-22, 20. Dazu C. Mayer, «Er ist der Mann, der überhaupt in der Antike und in der Kirchengeschichte nicht seinesgleichen gehabt hat». Augustinus im Werk Adolf von Harnacks, in: Gießener Universitätsblätter 28 (1995) 81-92.

ÖKUMENISCHE BILDUNGSTAGE 2004
«LEBENSBILDER – VORBILDER (?)»
Männer und Frauen aus verschiedenen Epochen als Vorbilder neu entdecken[1]

von Cornelius Petrus Mayer OSA

Der heilige Augustinus

Seine Person, sein Werk und seine Vermittlung einer auf Christus und auf die Kirche bezogenen Spiritualität

Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, dass Ihr Rahmenthema, «Lebensbilder – Vorbilder (?). Männer und Frauen aus verschiedenen Epochen als Vorbilder neu entdecken», meine Aufgabe, Augustinus Ihnen nahe zu bringen, zum Teil erleichtert, zum Teil auch erschwert. Erleichtert, weil es kaum mehr autobiographisches Material über eine Persönlichkeit aus der christlichen Spätantike gibt als über Augustinus, erschwert, weil Augustinus trotz der Fülle an Informationen, die wir über ihn haben, und trotz der Bedeutung, die er in den Kirchen hat, kein Volksheiliger wie etwa Franziskus oder Elisabeth von Thüringen geworden ist.

Das Fragezeichen hinter dem Wort ‹Vorbilder› mochte dies vielleicht bereits andeuten. Dennoch meine ich, Sie trafen mit Augustinus für einen Ihrer drei Abende eine gute Wahl, und zwar aus einem doppelten Grund: Sie nennen Ihre Veranstaltung ‹Bildungstage› – wer war gebildeter als Augustinus? Dann aber verfolgen Sie mit Ihren Bildungstagen eine ‹ökumenische› Zielsetzung – welche der christlichen Kirchen beruft sich in bezug auf ihre Theologie nicht auf diesen Kirchenvater. Ich hoffe also, mit meinem Referat diesem doppelten Anliegen gerecht zu werden.

Adolf von Harnack, der renommierte evangelische Kirchenhistoriker, nannte Augustinus den Mann, «der überhaupt in der Antike und in der Kirchengeschichte nicht seinesgleichen gehabt hat»[2]. Des Kirchenvaters Stellung in der abendländischen Geistesgeschichte ist in der Tat einmalig. Die Literatur um seine Person und um sein Werk wächst von Jahr zu Jahr immer noch um einige hundert Titel. In Würzburg entsteht zur Zeit ein von zahlreichen Spezialisten in aller Welt erarbeitetes Augustinus-Lexikon. Dort gibt es auch eine mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung erstellte, mehr als fünf Millionen Wörter umfassende Konkordanz all seiner Schriften.

Wer war dieser Mann, der trotz einer schon mehr als anderthalb Jahrtausende anhaltenden Wirkungsgeschichte an Aktualität nichts eingebüßt zu haben scheint? Worüber dachte, redete und schrieb er? Wodurch und womit faszinierte er seine Zeitgenossen, prägte er seine Umgebung und wirkte er so mächtig in die Geschichte hinein, dass am Gespräch mit ihm selbst unsere Gegenwart noch interessiert ist?

Augustinus wuchs aus der antiken Kultur hervor. In seiner Person hat die Antike die in ihr vorhandene künstlerische Gestaltungskraft noch einmal zusammengefasst. Er wuchs aber durch seine Bekehrung zum Christentum über sie hinaus. Im Unterschied zu den meisten Persönlichkeiten der alten Kirche sind unsere Kenntnisse über Augustinus alles andere als dürftig. Der Grund dafür liegt zunächst darin, dass er seine Confessiones - Bekenntnisse schrieb. In diesem außergewöhnlichen Werk der Weltliteratur hatte er seine eigene Biographie von frühester Jugend bis zu seiner Bekehrung zum Christentum deutend verarbeitet.

Über sie vermerkt Augustinus: «Die dreizehn Bücher meiner Bekenntnisse preisen Gott, den Gerechten und Guten um des Bösen und des Guten willen, das ich in mir gefunden, und sie lenken des Menschen Sinnen und Trachten auf ihn hin. Was mich betrifft, so erfuhr ich dies schon beim Schreiben und ich erfahre es immer noch beim Lesen. Was andere davon halten, das mögen sie selber sehen. Ich weiß jedoch, dass sie vielen Brüdern gefallen haben und immer noch gefallen»[3].

Selbstverständlich dient auch das übrige Schrifttum Augustins, seine Bücher mit 113 Titeln, 245 Briefe (etwa ein Achtel derer, die er schrieb) und 575 Predigten (etwa ein Zehntel der gehaltenen), als Quelle für seine Biographie. Von außergewöhnlicher biographischer Dichte sind die sogenannten Retractationes - Nachprüfungen. Der greise Bischof hat nämlich in einer Art schriftstellerischer Beichte jedes einzelne seiner Werke nochmals durchgesehen, und dabei fügte er zu vielen Schriften wertvolle Informationen über die Zeit, die Dauer und den Ort des Entstehens sowie über den Anlass zur Abfassung eines Werkes bei.

Neben all diesem autobiographischen Material ist schließlich noch die Vita des Bischofs Possidius, eines Zeitgenossen und engen Vertrauten Augustins, zu erwähnen. Freilich kann sie sich weder in Form noch in Inhalt mit den Confessiones messen.

Aurelius Augustinus wurde am 13. November 354 in Thagaste (heute Algerien) geboren. Sein Vater Patricius, ein städtischer Beamter und möglicherweise Nachkomme eines römischen Veteranen, ließ dem begabten Sohn eine klassische Ausbildung zuteil werden. Trotzdem blieb sein Einfluss auf die geistige Entwicklung seines Sohnes geringer als der der Mutter Monnica, die im Gegensatz zu ihrem Mann gläubige Katholikin war und ihre nicht getauften Kinder christlich erzog.

Den Elementarunterricht erhielt Augustinus in seiner Vaterstadt. Zur Weiterbildung in Grammatik und Rhetorik wurde er nach Madaura, unweit Thagaste, gesandt. Da die Mittel für ein Hochschulstudium fehlten, kehrte Augustin für ein Jahr in seinen Heimatort zurück. Nachdem es den Eltern gelungen war, mit Hilfe eines Gönners, des Großgrundbesitzers Romanianus, die Kosten aufzubringen, zog der junge Mann im Jahre 370 nach Karthago. Dort genoss er die Freiheiten eines sorglosen Studentendaseins. Er ging häufig ins Theater, nahm sich eine Konkubine, die ihm, dem Neuzehnjährigen, einen Sohn gebar. Er gab diesem den Namen ‹Adeodatus - von Gott geschenkt›.

Zum Studium der Rhetorik gehörte die Lektüre der Werke Ciceros. Augustin berichtet: «Im Verlauf des Studiengangs kam ich an das Buch eines gewissen Cicero ... Es enthält seine Aufforderung, sich der Philosophie zu widmen, und trägt den Titel Hortensius. Jenes Buch führte eine Wende in mir herbei»[4]. Wie sehr sich indes Augustin diese Wende nur unter religiösen Leitbildern vorzustellen vermochte, zeigt seine Reaktion: Er war enttäuscht, dass er darin den Namen Christi, «den er schon mit der Muttermilch fromm in sich hineingetrunken hatte» nicht fand[5]. Er beschloss deshalb, in Sachen Weisheit mit Hilfe der Bibel weiterzukommen. Als Grammatiker und Rhetor hatte er jedoch mit dem Stil der Bibel Schwierigkeiten. Außerdem plagte ihn die ungelöste Frage nach dem Ursprung des Bösen.

Die Manichäer, Anhänger einer vom Perser Mani im 3. Jahrhundert n. Chr. aus unterschiedlichen Strömungen zusammengesetzten Religionsgemeinschaft, versprachen, ihm eine einsichtige Antwort auf diese Frage zu geben. Sie lehrten, in der Welt stünden sich das Gute und das Böse als einander ausschließende Prinzipien gegenüber (ontologischer Dualismus), in der Sprache des Mythos: die Mächte der Finsternis denen des Lichtes. Das gegenwärtige Unheil bestehe in der Vermischung der beiden Prinzipien; Erlösung hingegen meine letztlich Befreiung und Sammlung des Guten aus der mit der Materie identischen Welt des Bösen.

Was Augustin am Manichäismus fasziniert hatte, war der Rationalitätsanspruch der manichäischen Dogmatik. Dennoch vermochte er sich nicht dem engeren Kreis der ‹Auserwählten› anzuschließen. Er blieb während seiner neunjährigen Mitgliedschaft ein bloßer ‹Hörer›. Sein missionarischer Eifer war trotzdem beachtlich. Er gewann nicht wenige für die Sekte und nahm sogar die Entfremdung zwischen sich und seiner Mutter in Kauf, die ihm vorübergehend das Haus verbot.

Augustin brachte als Zwanzigjähriger seine Studien zum Abschluss. Er lehrte zunächst kurze Zeit in seiner Vaterstadt Thagaste (373-374) und dann bis 383 in Karthago Rhetorik. Seine Lehrtätigkeit ließ ihm genug Zeit zu intensiven wie extensiven Studien. Er las ohne Anleitung die Schrift des Aristoteles über die Kategorien, die als besonders schwierig galt. Er vertiefte sich in das Studium der Freien Künste und eignete sich eine Unmenge enzyklopädischen Wissens an, das ihn allmählich vom Manichäismus entfremdete.

Um diese Zeit wachsender Distanz zum Manichäismus verließ Augustin 383 seine Wirkungsstätte. Er zog nach Rom. Als Grund geben die Confessiones das lümmelhafte Benehmen der karthagischen Studenten an[6]. Aber die Studenten dort enttäuschten ihn nicht weniger, denn sie blieben ihm vielfach das Honorar schuldig[7]. Er war darum froh, als sich seine finanziellen Verhältnisse durch seine Berufung zum Professor der Rhetorik in Mailand entschieden verbesserten. Der Umzug erfolgte noch vor dem dreißigsten Geburtstag 384. Monnica zog bald mit den Verwandten von Afrika nach. Auf ihren Einfluss hin entließ er jetzt, da er eine standesgemäße Heirat anstrebte, die Mutter seines Sohnes. Weil ihm sexuelle Enthaltsamkeit zusetzte, verschaffte er sich zwischenzeitlich eine andere Konkubine[8].

In Mailand begegnete Augustin das Christentum in der imponierenden Gestalt des Bischofs Ambrosius. Er begann dessen sonntägliche Gottesdienste zu besuchen, zunächst freilich nur «um zu prüfen, ob dessen Redekunst mit ihrem Ruf in Einklang stünde»[9]. Der Prediger entnahm das weltanschauliche Gerüst seiner Darlegungen nicht nur der Bibel, sondern auch der neuplatonischen Philosophie, so dass Augustin die biblische Theologie wahrscheinlich schon im Kontext platonischen Denkens kennen lernte. Hinzu kommt, dass er in Mailand Kontakte auch zu einem Kreis christlicher Intellektueller geknüpft hatte. Von einem solchen wurden ihm die Schriften Plotins in die Hände gespielt[10].

Augustin verdankte deLektüre dieser Schriften die Einsicht in die Immaterialität des geistig Seienden und damit zugleich die Überwindung des manichäischen Dualismus. Er begriff die raum- und zeitlose Natur Gottes sowie die ordnende und strukturierende Macht des Geistigen in der materiellen Welt. Hand in Hand mit solchen Klärungen philosophisch-weltanschaulicher Fragen ging eine Annäherung an das Christentum. Augustin verglich seine durch den Neuplatonismus gewonnenen Einsichten mit der Bibel. Er stellte dabei Gemeinsamkeiten – freilich auch Unterschiede – fest[11]. Die Gemeinsamkeiten reichten jedoch hin, um ihn vom Zugang zur christlichen Offenbarungslehre auch mit Hilfe der Vernunft ein für allemal überzeugt zu haben.

Christsein ist jedoch mehr als natürliche Gotteserkenntnis und Sittlichkeit. Es hat das Ein- und Zugeständnis der Ohnmacht, das Heil aus eigenem Vermögen wirken zu können, zur Voraussetzung. Gewiss gipfelt das Christsein in der ‹caritas›, aber nur jene Liebe baut auf, die in der Demut gründet, und sie wird in Christus Jesus erfahren[12]. «Noch fasste ich nicht in Demut Jesum, meinen demütigen Gott», schreibt Augustin am Ende seines Berichtes über das Kennen lernen der für seine Bekehrung so wichtigen Philosophie der Neuplatoniker. «So suchte ich nach dem Weg ... und ich fand ihn nicht, bis ich umfasste ‹den Mittler zwischen Gott und Mensch, den Menschen Christus Jesus› (1 Tm 2,5)»[13].

Nach der Schilderung der Confessiones begegnet uns von diesem kognitiven Wandel ab in Mailand ein Augustinus, dem sein gewohntes Leben von Tag zu Tag mehr zur Last wurde. Er sucht neue Wege, um vorwärts zu kommen, und greift zu den Schriften des Apostels Paulus[14]. Diesen Griff nach den Paulinen zeichnet er besonders anschaulich in dem bald nach seiner Bekehrung geschriebenen Dialog Gegen die Akademiker: «Eilends kehrte ich ganz und gar zu mir zurück. Dennoch, ich gestehe es, schaute ich mich gleichsam wie auf einer Wanderung nach jenem Land um, das uns als Kindern eingepflanzt und ins Mark eingesenkt wurde. In der Tat, dieses Land meiner Kindheit zog mich ohne mein Wissen an. Und siehe, da greife ich bald schwankend, bald eilend, bald wieder zögernd nach dem Apostel Paulus ... Mit größter Aufmerksamkeit und Ehrerbietung las ich ihn ganz durch»[15].

Waren auf der kognitiven Ebene bereits alle Hindernisse beseitigt, so musste auf der emotionalen noch einiges in Gang gesetzt werden. Sein Wille sei noch «wie in Ketten gebunden» heißt es in den Confessiones[16].

Diese Trägheit überwanden Impulse, die Augustinus durch Erzählungen dreier Bekehrungserlebnisse gerade zur rechten Zeit zu hören bekam: die Bekehrung des Marius Victorinus, des Mönchsvaters Antonius und zweier kaiserlicher Offiziere.

Was das Leben des Victorinus betraf – er kam ca. 340 nach Rom, wurde im Jahre 355 getauft und starb im Jahre 361 –, so musste Augustinus in dessen Bekehrungsgeschichte gleichsam das Spiegelbild seiner eigenen sehen. Jener war ein gefeierter Rhetor, ein belesener Philosoph, Lehrer, dazu Landsmann, Afrikaner, der durch die Lektüre der Schrift zum Christentum kam[17]. Die Bekehrungsgeschichte des Antonius konfrontierte ihn mit der Existenz des christlichen Mönchtums. Die Idee eines gemeinsamen Lebens mit Gleichgesinnten war im Mailänder Freundeskreis Augustins schon des öfteren besprochen worden. Der Plan scheiterte jedoch an der Frage der Teilnahme der Ehefrauen an dieser Lebensform (conf. 6,14). Antonius und die ägyptischen Mönche brachten es fertig, wozu die Bibel riet: zum Rückzug aus der Welt. Zwei kaiserliche Offiziere, so lautete die dritte Geschichte, fanden auf einem Ausflug bei Trier in einer Mönchszelle die Vita dieses Antonius. Nach deren Lektüre verließen sie ihre Bräute, gaben ihre Karriere auf und wählten für sich die monastische Lebensform[18].

Nun schlug für Augustin die Stunde der Bekehrung. Die Confessiones schildern sie mit hohem sprachlichen Können. Augustin spricht «von einem großen Aufruhr im Innern seines Hauses»[19]. Er stürmt auf seinen Freund Alypius zu, der schon seit der Zeit in Karthago seine geistige Entwicklung mitverfolgte: «Hast du das gehört? Ungebildete stehen auf und reißen den Himmel an sich, und wir mit unserer Bildung ohne Herz wälzen uns in Fleisch und Blut». In diesem Zustand ging er in der Garten. Er ließ sich dort unter einem Feigenbaum nieder und klagte sich unter Tränen heftig an: «Wie lange noch, wie lange morgen und morgen? Warum nicht jetzt? ... Solches sprach ich ... Und siehe, da höre ich eine Stimme aus dem Nachbarhaus, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist, weiß ich nicht, die in singendem Ton oftmals wiederholt: ‹Nimm und lies! Nimm und lies!› Sofort veränderte sich mein Antlitz und ich begann gespannt nachzudenken, ob Kinder in irgendeinem Spiel derartiges zu leiern pflegen, aber ich erinnerte mich nicht, je solches gehört zu haben. So hielt ich den Strom meiner Tränen zurück und erhob mich; denn ich konnte es nicht anders deuten, als daß mir von Gott befohlen werde, ein Buch zu öffnen und dort das erste Kapitel zu lesen, das ich finden würde». So kehrte er eilends zu Alypius zurück, wo er die Briefe des Apostels liegengelassen hatte. Er greift danach und liest Rm 13,13f.: «Nicht in Gelagen und Zechereien, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Hader und Eifersucht, ziehet vielmehr den Herrn Jesus Christus an und pflegt nicht das Fleisch zur Erregung eurer Lüste». Weiter wollte er nicht lesen, denn Licht erfüllte sein Herz, und alle Finsternis war wie zerstoben[20].

Nach der Bekehrung gab Augustin sein Lehramt auf. Er zog sich mit einer kleinen Schar von Verwandten, Freunden und Schülern auf das Landgut Cassiciacum, unweit Mailand, zurück, das ihm sein Freund Verecundus für einige Zeit zur Verfügung stellte[21]. Dort verbrachte er den Herbst und auch den Anfang des Winters in philosophischen Gesprächen, mit Vergillektüre, Meditation und Gebet. Dort entstanden auch seine ersten uns überlieferten Schriften. Im Winter kehrte er zur Vorbereitung auf die Taufe, die er in der Osternacht aus den Händen des Bischofs Ambrosius empfing, nach Mailand zurück[22].

Noch in diese Zeit seines Mailänder Aufenthaltes fällt die Konzeption eines auf viele Bände geplanten Unterrichtswerkes zu den Freien Künsten. Ziel dieser neu konzipierten Enzyklopädie war eine Reform des gesamten Unterrichtswesens. Die neuen Lehrbücher sollten das pädagogisch-didaktische Anliegen verfolgen: «die Lernenden vom Körperlichen zum Unkörperlichen zu führen»[23].

Wie sehr der Neubekehrte von diesem zweifelsohne nicht nur christlichen, sondern weithin auch neuplatonischen Programm des ‹Aufstiegs› fasziniert war, zeigt das Gespräch, das er mit seiner Mutter Monnica kurz vor deren Tod in der Hafenstadt Ostia führte. Gewiss, die Confessiones geben den Inhalt dieses in eine Exstase mündenden Gespräches aus verklärter Erinnerung wieder[24]. Dennoch dürfte der Tenor des Gespräches, dessen beinahe lyrischer Text mit zu den Höhepunkten der Confessiones zählt, treffend die Geistesverfassung des in die Heimat Zurückkehrenden spiegeln, der seit seiner Bekehrung nichts Wichtigeres mehr im Sinne hatte als den ‹Stufengesang›, wie er den kontemplativen Aufstieg nannte[25].

Monnica starb kurze Zeit später im 56. Jahre ihres Lebens. Augustin versuchte zunächst seinen Schmerz über den Verlust der Mutter zu unterdrücken, nachdem aber die Trauerfeier zu Ende und er mit seinem Gott allein war, gab er dem Ungestüm seines Empfindens nach. Auch durch die Schilderung dieser seiner Empfindungen setzte er seiner Mutter ein literarisches Denkmal: «Und ich ließ meinen Tränen, die ich zurückhielt, freien Lauf, dass sie entströmten, wie sie wollten, und ich bettete mein Herz auf sie: Und es fand Ruhe in ihnen ... Und nun, Herr, bekenne ich es dir in geschriebenen Worten. Und mag es lesen, wer will, und mag es deuten, wie er will, und findet er es sündhaft, dass ich den Bruchteil einer Stunde um meine Mutter geweint, die Mutter, die meinen Augen für jetzt gestorben war, die so viele Jahre um mich geweint, dass ich vor deinen Augen zum Leben käme, der lache nicht, es weine vielmehr auch er selbst, wenn er reich an Liebe ist, für meine Sünden zu dir, dem Vater aller Brüder deines Christus»[26].

Nach einem durch die Wintermonate und politische Wirren erzwungenen einjährigen Aufenthalt in Rom, wo Augustin seine schriftstellerische Arbeit fortsetzte, kehrte er 388 nach Thagaste zurück. Er verkaufte einen Teil der väterlichen Besitzungen und zog sich mit Gleichgesinnten zu einem gemeinsamen, philosophisch geprägten asketisch-monastischen Leben zurück (388-390).

Indes, der Ruf der Gelehrsamkeit und des Lebenswandels Augustins verbreitete sich rasch. Und so geschah es, dass er, als er eines Tages in der Hafenstadt Hippo Regius weilte und den dortigen Gottesdienst besuchte, von der versammelten Gemeinde zum Priester gewählt wurde. Gerade an dem Tag trug der schon greise Bischof Valerius seiner Gemeinde den Wunsch nach der Wahl eines jüngeren Priesters vor. Augustin war 37 Jahre alt, als Valerius ihm Anfang 391 die Hände auflegte. Er ließ sich zunächst für einige Wochen beurlauben, um sich durch intensiveres Bibelstudium auf seine kommenden Aufgaben vorzubereiten[27].

Obgleich das Predigeramt nach der damaligen afrikanischen Gepflogenheit dem Bischof allein zustand, beauftragte Valerius dennoch seinen Presbyter mit der Wahrnehmung auch dieser Aufgabe. Augustin sollte dieses Amt nahezu 40 Jahre ausüben. Seine Predigten, mit denen er seine Hörer faszinierte, waren so gut wie immer biblisch ausgerichtet.

Valerius hatte es eilig, Augustinus zu seinem Mitbischof zu bestimmen; er befürchtete zu Recht, man könne ihm seinen begabten Presbyter schon bei der nächsten Sedisvakanz irgendwo in Afrika entreißen. Daher ließ er ihn noch zu seinen Lebzeiten um 395 zu seinem Mitbischof weihen. Als er kurz darauf starb – wahrscheinlich 396 –, übernahm Augustin die Leitung der Diözese.

Als Bischof hatte er allem voran der Liturgie vorzustehen, Sakramente zu spenden und zu predigen. Hinzu kam das breite Feld der Seelsorge mit ihrer Vielfalt von Aktivitäten, zu denen damals neben den ausgesprochen pastoralen Aufgaben wie z.B. der katechetischen Unterweisung der Taufbewerber, den karitativen Werkenund der Verwaltung des Kirchenvermögens auch bestimmte Bereiche in der Rechtsprechung gehörten. Da nämlich die christlichen Bischöfe kraft kaiserlicher Gesetze ermächtigt waren, bei Rechtsstreitigkeiten Schiedssprüche zu fällen, und da sie diese Aufgaben für gewöhnlich schneller und unkomplizierter erledigten als die staatlichen Organe, zogen die Prozessierenden es vor, die Erledigung ihrer Fälle bei ihrem zuständigen Bischof zu erwirken. Das bischöfliche Forum von Hippo war oft von Morgen bis zum späten Nachmittag belegt.

Obgleich Augustin nach eigenen Angaben nicht gerne reiste[28], verließ er dennoch unzählige Male die Grenzen seines Bistums, um an Synoden und Konzilien in Afrika teilzunehmen. Oft hielt er sich mehrere Monate lang in Karthago auf, wo er auch regelmäßig predigte und fleißig die gutausgestatteten Bibliotheken frequentierte, um sich allerlei Notizen für seine diversen Publikationsvorhaben zu verschaffen.

Gewiss hatte das kirchliche Amt Augustins Arbeitsfeld und Lebensrhythmus verändert. Trotzdem blieb er auch während seines Episkopates allem voran Theologe und Schriftsteller. Seine bleibende Bedeutung gründet letztlich in den großen theologischen Werken, die er erst als Bischof in Angriff nahm und die er darum auch bewusst als eine Dienstleistung an der Kirche verstanden wissen wollte. Dies zeigt sich bis in die Wahl der Themen.

Innerhalb seiner Werke kann man drei größere Themenbereiche unterscheiden: Gegen die schon erwähnten Manichäer sind uns rund ein Dutzend Schriften überliefert, darunter eine 33 Bücher umfassende Auseinandersetzung mit dem Manichäerbischof Faustus. Zur Zeit Augustins gab es nahezu in jeder Stadt Nordafrikas Donatisten, die sich als die Kirche der Reinen, weil angeblich in Zeiten der Verfolgung nicht Abgefallenen betrachteten. Das gegen diese Sektierer gerichtete Schrifttum Augustins, dessen Abfassungszeit sich auf rund 25 Jahre erstreckt, umfasst ebenfalls ein Dutzend Titel.

Noch während der Kontroverse mit den Donatisten begann um 412 die dritte Periode im schriftstellerischen Schaffen Augustins, die Bekämpfung des die Rolle der Gnade im Rechtfertigungsprozess hintansetzenden Pelagianismus. Auch dabei erreichte Augustin durch seine unermüdliche Auseinandersetzung mit den Gegnern – 16 Titel – die Verurteilung der Pelagianer nicht nur seitens der Kirche, sondern auch seitens des Staates. Sein letztes Werk gegen den Pelagianer Julian blieb unvollendet, weil der Tod ihm gleichsam die Feder aus der Hand nahm.

Freilich bekämpfte Augustinus noch zahlreiche andere Häresien. Zwei Jahre vor seinem Tode verfasste er auf Drängen eines Diakons in Karthago ein Handbuch der Häresien, in dem er nicht weniger als 88 verschiedene Irrlehren beschrieb, be- und verurteilte. Zweifelsohne war der Bischof von Hippo einer der größten Apologeten der Kirche. Und dennoch erschöpfte sich sein theologisches Interesse nicht in der Apologetik.

Zu nennen ist vor allem das exegetische Werk. Es dürfte kaum einen anderen Schriftsteller in der alten Kirche gegeben haben, der bis in seine Sprache hinein die Bibel so zum Fundament seines Denkens gemacht hat wie er. Den Schöpfungsbericht der Genesis legte er insgesamt siebenmal aus. Den Römerbrief versuchte er zweimal auszulegen. Ferner interpretierte er den Galaterbrief, den Jakobusbrief (verlorengegangen), den Ersten Johannesbrief, die Bergpredigt, das Johannesevangelium und die 150 Psalmen. Kaum zum Bischof geweiht, begann er ein 4 Bücher umfassendes Werk Über die christliche Wissenschaft zu schreiben. In dieser als Handbuch für das theologische Studium konzipierten epochalen Schrift entfaltete er die Prinzipien seiner Hermeneutik und gab zugleich viele Einzelanweisungen für die Bibelexegese. Teile des 3. und das ganze 4. Buch vollendete er erst kurz vor seinem Tode.

Eine eigene Gattung bilden die sogenannten moraltheologischen Schriften, die – ungefähr ein Dutzend – Augustin während seines Episkopates zu verschiedenen Fragen der Seelsorge (z.B. Enthaltsamkeit, Ehe, Jungfräulichkeit, Witwenschaft, Totenkult etc.) verfasst hat. Ebenfalls pastoraltheologische Ziele veranlassten ihn um 400, ein Büchlein Über den katechetischen Unterricht zu schreiben. Darin gab er nicht nur Anweisungen über die Methode der Einweisung in die christliche Lehre, sondern auch Beispiele eines solchen Unterrichtes.

Wie eng überhaupt Augustin die Seelsorge mit der Theologie verband, zeigt das Buch Über Glaube, Hoffnung und Liebe. Wer allerdings meint, Augustin habe darin zu gleichen Teilen jeweils vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe geschrieben, der sieht sich enttäuscht. Das erbetene Büchlein wurde schlicht ein Kompendium der Dogmatik, in dem die Darlegung der Glaubenswahrheiten den größten Teil ausfüllt. Bei aller Dringlichkeit und Vorrangstellung der Seelsorge, die Augustin als Bischof anerkannte und um deren Anforderungen gerecht zu werden er sich auch ehrlich bemühte, vergaß er mitnichten, dass die Seelsorge ohne die Theologie leer läuft und versandet.

Die Verflechtung von Seelsorge und Theologie kennzeichnet Augustins kirchliches Amtsverständnis. Dies zeigt nicht zuletzt das umfangreiche Corpus seiner Briefe, durch die er auf die gebildete Welt von damals nicht weniger einwirkte als durch seine Bücher.

Aus den Schriften Augustins ragen drei hervor, die bereits dargestellten Confessiones (13 Bücher), Der Gottesstaat (22 Bücher) und das Werk Über die Dreieinigkeit (15 Bücher). Man fragt sich, woher Augustin bei seinen vielseitigen Amtsgeschäften überhaupt noch die Zeit nehmen konnte, so umfangreiche und theologisch tiefsinnige Werke zu schreiben.

Am 24. August 410 besetzte Alarich mit seinen Westgoten Rom. Da sich auf diese nationale Katastrophe hin der Druck der Heiden, speziell der Gebildeten, auf das Christentum verstärkte, dem man die Schuld dafür anlastete, sah Augustin als der Wortführer der Christenheit sich verpflichtet, seine größte apologetische Schrift, Den Gottesstaat, in Angriff zunehmen. Er selbst nennt es ein «großes und überaus schwieriges Werk»[29], das von 413-427 nach und nach in Abschnitten erschien. Schon bei der ersten Lieferung beeindruckte es die Leser, von denen kein geringerer als Macedonius, Prokonsul in Afrika, sich fragte, was er am Verfasser dieses Werkes mehr bewundern solle, dessen priesterliche Vollkommenheit oder dessen philosophische Ansichten, die Fülle seines historischen Wissens oder den Reiz seiner Beredsamkeit[30]. Die ersten 10 Bücher führen den Nachweis, dass nicht die Christen, sondern die Dekadenz der Heiden die Römische Kultur in den Abgrund geführt habe, während die Bücher 11-22 ein geschichtstheologisches Panorama entwerfen und das gesamte Weltgeschehen von Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht aus christlicher Sicht entwickeln und deuten.

Der Kirchenvater besaß die seltene Fähigkeit genialer Geister, bei wachsender Belastung noch Größeres zu leisten. Für gewöhnlich arbeitete er gleichzeitig an mehreren Themen. So hatte er, als er mit der Abfassung Vom Gottesstaat begann, sein spekulativstes Werk, Über den dreieinigen Gott, schon 14 Jahre unter seiner Feder. Nach seiner Fertigstellung bemerkte er, er habe es bereits «als junger Mann» begonnen und erst «als Greis» – 20 Jahre später – zum Abschluss gebracht[31]. Da er die Lektüre dieses Opus nur einer theologisch und philosophisch vorgebildeten Leserschaft zutraute, wollte er es nicht wie andere seiner umfangreicheren Schriften in Teilen, sondern nach einer endgültigen redaktionellen Bearbeitung als ganzes herausgeben. Die elitäre Leserschaft vermochte jedoch den Abschluss des Werkes nicht abwarten, so entwendete man ihm die ersten 12 Bücher, ehe die restlichen 3 geschrieben waren[32]. De trinitate bildete den Höhepunkt in Augustins theologisch-schriftstellerischem Schaffen. Mit diesem Werk hat er die abendländische Trinitätslehre bis in unsere Zeit herein beeinflusst und beherrscht.

Augustin war 72 Jahr alt, als er seiner Gemeinde mitteilte, er habe, da er noch alle seine Schriften einer kritischen Revision unterziehen wolle, den Priester Heraklius zu seinem Nachfolger bestimmt[33]. Er schrieb jedoch auch während dieser Zeit der Revision noch 8 weitere Werke. Aber im Jahre 430 – seine Bischofsstadt war schon seit 3 Monaten von den Vandalen umlagert – waren seine Kräfte erschöpft. Er ahnte wohl den bevorstehenden Untergang Hippos; denn Possidius berichtet, Augustin habe sich trotz eines vielfältigen Engagements zur Rettung der Stadt mit dem Ausspruch eines Weisen (Plotins) getröstet: «Der ist kein Großer, der es für Großes hält, dass Holz und Steine dahinsinken und Sterbliche sterben»[34].

Die letzten 10 Tage verbrachte er allein, die Bußpsalmen betend, die er an die Wand heften ließ. So starb er am 28. August in Gegenwart seines für ihn betenden Klerus. Sein Name und seine Werke hingegen lebten fort, dominierten das Mittelalter und prägten die Neuzeit, ja sein Denken veranlasst Wissenschaft, Kultur und Frömmigkeit bis heute zu staunender Bewunderung oder scharfer Kritik – jedenfalls aber allemal zu außerordentlicher Anerkennung.

Hätten wir jetzt genug Zeit, um der Frage nach der Vorbildfunktion Augustins ebenfalls noch in der gebotenen Gründlichkeit nachzugehen, so wäre einiges, auch Kritisches, zu sagen. Ich beschränke mich auf weniges und beginne mit dem Kritischen. Augustinus gilt in theologisch gebildeten Kreisen weithin als Vater der ‹Erbsünde›, sofern man darunter die auf dem Wege der Zeugung erfolgte Verflechtung aller Adamskinder in eine ererbte Schuld und somit in den Zustand der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen versteht.

Die augustinische Sicht der Erbsünde hat also mit der Sexualität und diese der Ehe zu tun. Wir erwähnt, war Augustin 9 Jahre lang Manichäer, Anhänger einer gnostischen Sekte, die das Böse schlicht mit der Materie identifizierte. Die Zeugung als materiellen und Materie hervorbringenden Vorgang lehnte der Manichäismus als teuflisches Werk ab, diente doch der Zeugungsakt dazu, die Seele, eine geistige Substanz, in den materiellen Leib einzuschließen.

Augustinus gelang es zwar, wie ebenfalls bereits erwähnt, diese Sicht der Sexualität mit Hilfe der neuplatonischen Philosophie zu überwinden. Aber die Neuplatoniker erblickten ihrerseits in der Geschlechtlichkeit des Menschen eine eigenständige Macht, die den Geist hinderte, sich ausschließlich mit Geistigem zu beschäftigen. Von Plotin, dem Haupt der Neuplatoniker berichtet seine Biograph Porphyrios, er habe sich geschämt, in einem Leib zu sein[35]. Wie schon die Stoiker, so erstrebten auch die Neuplatoniker das Ideal einer möglichst ungetrübten Souveränität des Geistes gegenüber den Affekten, besonders gegenüber der eigenmächtigen Regung der Geschlechtsorgane.

Augustinus las die einschlägigen Texte über Vorzüge der Ehelosigkeit und der Jungfräulichkeit im Unterschied zum Ehestand wie z.B. 1 Cor 7,25-38 in der Optik einer solchen, die Bedürfnisse des Leibes hintansetzenden Anthropologie. Er ging so weit, dass er die venerischen Regungen des Leibes mit der Erbsünde in einen Begründungszusammenhang brachte. Solche Gedanken beherrschen auch seine Lehre von der Ehe. So beurteilte er jede Geschlechtsbegegnung inklusive der ehelichen als Makel. Allerdings hielt er den auf die Kindererzeugung gerichteten Ehevollzug für sittlich gerechtfertigt. Akte, die innerhalb der Ehe dies ausschließen, sind seiner Auffassung nach ‹lässliche Sünden›, «eben, weil die Ehe u.a. die Zügelung der geschlechtlichen Begierde zum Zweck hat» [36], sei es doch laut 1 Cor 7,9 «besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren».

In dem zwei Jahrzehnte anhaltenden Streit mit den Pelagianern versteifte Augustinus diese seine Sicht von der menschlichen Sexualität. Während der Pelagianer Julian lehrte, die sexuelle Konkupiszenz sei etwas Natürliches und darum an und für sich ein Gut, blieb Augustinus bei seiner zum guten Teil vom philosophischen Zeitgeist beeinflussten Überzeugung von ihrer generellen Sündhaftigkeit außerhalb der Ehe und von ihrer Nähe zur Sünde innerhalb der Ehe dann, wenn der eheliche Akt nicht auf Zeugung abzielte[37]. Freilich, was Augustin von nicht wenigen christlichen Schriftstellern seiner Zeit abhebt, ist gerade die Verteidigung der Ehe als ein Gut. Um das Jahr 400 verfasste er eine Schrift, der er den Titel gab: ‹Über das Gut der Ehe›. Die Kritik an seiner Beurteilung der Sexualität will zurecht nicht verstummen.

Ein zweiter Punkt der Kritik sei wenigstens erwähnt. Augustin ist der Vater der Inquisition, kann man nicht selten lesen. Bei der Bekämpfung der sektiererischen Donatisten habe er den schon christlichen Staat seiner Zeit mit dem Hinweis auf den Satz im Gleichnis aus dem Lukasevangelium 14,15-24: «nötigt die Leute zu kommen, denn ich will, dass mein Haus voll wird» (23), gezwungen gegen diese gewaltsam vorzugehen. Die Empfehlung der Zwangsanwendung erscheint in der Tat in mehreren Schriften[38]. Wenngleich Augustinus vor den letzten Konsequenzen dieses Zwanges zurückschreckte, so hatte doch das Zitat für die Bekämpfung der Ketzer und Häretiker im Mittelalter eine verheerende Wirkung.

Selbstredend kann Augustins Wirkungsgeschichte – und in diesem Zusammenhang auch sein Einfluss auf die Frömmigkeit aller größeren christlichen Glaubensgemeinschaften nicht hoch genug eingeschätzt werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Im sogenannten Eucharistiestreit des 9. Jahrhunderts beriefen sich sowohl die Vertreter des Realismus – der historische Leib Christi sei in den Gaben von Brot und Wein gegenwärtig – wie auch die Symbolisten – Christi Leib sei nur geistig (nicht leiblich) gegenwärtig – auf Augustinus[39]. Nicht anders verlief die Kontroverse zur Zeit der Reformation: sowohl Luther als auch Calvin und das Tridentinum argumentierten mit Sätzen aus den Werken Augustins. Dessen überragende Autorität zeigt aufs Deutlichste die Sentenzensammlung des Petrus Lombardus (+1160). In den dort aufgenommenen ca. 1500 Sentenzen aus der Frühzeit der Kirche, stammen rund 950 von Augustinus. Wer immer im Mittelalter Magister in der Theologie werden wollte, musste diese Sammlung kommentieren.

Augustinus ist, wie Eingangs erwähnt, kein Volksheiliger geworden. Seine Vorbildfunktion beschränkt sich auf eine Fülle von Leitgedanken, die auf die christliche Lebensgestaltung, auf die christliche Spiritualität einwirkten. Diese sollte allem voran biblisch geprägt sein. Was aber ist die Bibel? Wie sollen Christen mit ihr umgehen? Die Antworten, die der gelehrte Bischof auf diese Fragen gab, sind für Christen aller Zeiten ungemein aufschlussreich. Deshalb will ich mich auf dieses Thema, zumal vor einer ökumenisch interessierten Hörerschaft beschränken.

Im Werk des Bischofs kommt die Stelle aus 2 Cor 3,6: «Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht» 54mal vor. Was ist die Bibel ohne den Geist? Buchstabe, der tötet. Die Sache der Bibel – dies gilt es in der Kirche zu sehen! – ist Gott. Die Kernfrage des christlichen Glaubens lautet deshalb: Wer bzw. was ist diese Gott genannte Sache der Bibel? Der offenbarte Gott, ‹Vater, Sohn und Hl. Geist› lautet die Antwort[40]. Als solcher gab Gott sich kund, als solcher offenbarte er sich im Evangelium seines Sohnes Jesu Christi.

Offenbarung ist Gottes Heilshandeln in der Zeit mit der Schöpfung als Anfang, mit der im Erlösungswerk Jesu Christi gipfelnden Geschichte seines Volkes als Mitte, und mit der Vollendung der Schöpfung im Heiligen Geist als Abschluss. Wer erkennt darin nicht die drei Eckdaten des Credos der Kirche: Schöpfung, Erlösung und Vollendung? In der Mitte steht Christi Erlösungswerk, steht ‹das Fleisch gewordene Wort›, das Anfang und Ende miteinander verbindet. Wie in einem Kreis alles auf dessen Mittelpunkt hin ausgerichtet ist und alles über diesen Mittelpunkt miteinander in Beziehung steht, so verhält es sich auch mit der Heilsgeschichte. Christus, ‹das Fleisch gewordene Wort› ist darum auch der Verstehensschlüssel aller Ereignisse, von denen die Bibel redet.

Die biblischen Texte des Alten Testamentes haben somit für Christen einen doppelten Sinn. Einmal den historischen: Gott hat durch die Patriarchen, durch das Gesetz des Mose, durch die Propheten und alle Gerechten gesprochen und an seinem Volk Israel gehandelt. Dann aber haben diese Texte noch einen über das Geschehene hinaus verweisenden tieferen geistlichen Sinn. Dieser im Alten Testament noch verborgene liegt im Neuen Testament offen. Wenn Augustinus einschärft, die Bibel müsse durch die Bibel erklärt werden, dann meint er häufig diese innere Beziehung bzw. Verflechtung der in den Schriften der beiden Testamente zugrundeliegenden Ereignisse. In der Emmauserzählung des Lukasevangeliums heißt es: «Und Jesus legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der ganzen Schrift über ihn geschrieben steht» 24,27).

In Bezug auf das Verhältnis der beiden Testamente lehrte Augustinus: Die Texte des Alten Testamentes sind vom Neuen her zu lesen, zu verstehen und auszulegen. Die liturgische Praxis der katholischen Kirche verdeutlicht dies durch die Zuordnung der Lesungen aus beiden Testamenten in den Wortgottesdiensten. Die ausgewählten alttestamentlichen Lesungen in der Osternacht z.B. werden auf die Auferstehungsbotschaft hin verkündet und sollen auch im Lichte dieser Botschaft verstanden und erklärt werden.

Natürlich wusste Augustinus, dass die Bibel mehrere Verfasser hat, dass die vier Evangelien z.B. von vier verschiedenen Evangelisten geschrieben wurden. Jeder der biblischen Schriftsteller gab durch seinen ihm eigenen Wortschatz in einer Vielzahl von Wörtern ‹Gottes Wort› (Einzahl) wieder.

Gibt es da einen Unterschied zwischen den Wörtern der biblischen Schriftsteller und ‹Gottes Wort›? Augustinus beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja, und darin gipfelt sein Verständnis von der Offenbarung. Offenbart und Offenbarer ist nicht der biblische Schriftsteller, also Johannes oder Paulus, sondern ‹Gottes eingeborener Sohn›, die zweite Person dieses Dreieinigen Gottes, Inbegriff der Weisheit, ‹des Lichtes› und ‹des Lebens›, ‹Gottes Wort› (Io 1,1-18), das ‹in der Fülle der Zeit› (Gal 4,4) Mensch geworden ist.

Das Bibelwort, das von der Offenbarung Gottes berichtet, geht somit der ‹Menschwerdung des Wortes Gottes› sowohl zeitlich voraus (Altes Testament) wie auch zeitlich nach (Neues Testament). Obgleich also uns von Christus selbst keine schriftlichen Texte überliefert sind, so ist doch er, weil ‹Gottes Wort›, der eigentliche Verfasser der Bibel, deren Worte ihn als den Mensch gewordenen Gottessohn bezeugen.

Mit diesem auf Gottes zeitloses Wort hin konzentrierten Offenbarungskonzept hängt jenes vom ‹ganzen Christus›[41] aufs Engste zusammen. Wäre Christus nicht Gottes ewiges Wort, also nicht ‹wahrer Gott und wahrer Mensch›, woran die Kirche festhält, so entbehrte Augustins Reden von einem ‹ganzen Christus› jeglicher Grundlage. So aber ist seine Lehre gerade darüber das Fundament, auf dem er seine christliche Spiritualität errichtet.

Schon dem Neuen Testament ist der Gedanke von der Einheit der Kirche mit Christus nicht unbekannt. Die Paulusbriefe kommen wiederholt darauf zu sprechen, am ausführlichsten im Ersten Korintherbrief. Dort steht im 12. Kapitel der fundamentale Satz: «Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus» (ib.12).

Nun kommt das Wortpaar ‹ganzer Christus› weder im Neuen Testament noch in der christlichen Literatur vor Augustinus vor. Es ist somit seine Schöpfung und im Hinblick sowohl auf seine Theologie wie auch auf seine Spiritualität geradezu eine genial zu nennende. Mit ihm gelang es nämlich dem Kirchenvater, zwischen einer ‹sichtbaren› und einer ‹unsichtbaren Kirche› nicht nur zu unterscheiden, sondern auch zu scheiden und letztere mit dem ‹Gottesstaat› zu identifizieren. Zur ‹unsichtbaren Kirche› zählen nicht allein die verstorbenen Seligen, sondern alle, die bleibend zu den Gliedern des Leibes Christi gehören, und dazu zählen auch die Frommen aller Zeiten und Zonen. Dieses ‹Glied am Leib Christi sein› ist nicht physisch, sondern mystisch zu verstehen.

Was folgt daraus? Ich denke viel. Unter anderem dies: Wir müssen uns verabschieden von einer Vorstellung von Mystik, die mit Magie, Ekstase, Verzückung und dergleichen zu tun hat. Ist Mystik die Bindung einer Person an ein höheres Wesen, dann ist christliche Mystik Bindung an den Gottmenschen Jesus Christus. Bindung mit dem Ziel der Vereinigung, der ‹unio mystica›, meint aber keineswegs das Aufgeben oder gar das Auslöschen der eigenen Identität, der Person, des Ich mit seinen intellektuellen und emotionalen Kräften, sondern deren Hin- und Ausrichtung auf ein das eigene Vermögen übersteigendes Größeres, auf ein umfassenderes Ganzes – das eben der ‹ganze Christus› ist.

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[1] Am 11.3.2004 in Erlangen-Dechsendorf gehaltener erster Vortrag zum angegebenen Rahmenthema.

[2] A. von Harnack, Was verdankt unsere Kultur den Kirchenvätern?, in: Aus Wissenschaft und Leben, Bd. II. Gießen 1911, S. 1.22, dort S. 20.

[3] Retr. 2,61

[4] Conf. 3,7.

[5] Ebd.

[6] Vgl. conf. 5,14.

[7] Vgl. conf. 5,22.

[8] Vgl. conf. 6,23.25.

[9] Conf. 5,23.

[10] Vgl. conf. 7,13; 8,3.

[11] Vgl. conf. 7,13-15.

[12] Vgl. conf. 7,26.

[13] Conf. 7,24.

[14] Vgl. conf. 7,27.

[15] Acad. 2,2.

[16] Ebd. 8,10-12.

[17] Vgl. conf. 8,3.

[18] Vgl. conf. 8,13-15.

[19] Conf. 8,28.

[20] Conf. 8,28-30.

[21] Vgl. conf. 9,5.

[22] Vgl. conf. 9.14.

[23] Retr. 1,6.

[24] Vgl. conf. 9,23-26.

[25] Conf. 9,2.

[26] Conf. 9,29-33.

[27] Vgl. ep. 21.

[28] Vgl. ep. 124,1.

[29] Ciu. 1,8.

[30] Ep. 154,2.

[31] Ep. 174.

[32] Retr. 2,15.

[33] Ep. 113.

[34] Vita 28.

[35] Porphyrios, Über Plotins Leben 1,1, in: Plotins Schriften, Band Vc, Hamburg 1958.

[36] Zum Ganzen W. Molinksi, Ehe, in: Sacramentum mundi I, Freiburg 1967, S. 969-970.

[37] Ausführlich dazu M. Lamberigts, A critical Evaluation of Critiques of Augustine’s View of Sexuality, in: Augustine and his Critics. Essays in honour of Gerald Bonner, Ed. R. Dodaro/G. Lswless, London/New York 2000, 176-197.

[38] Siehe K. H. Chelius, ‹Compelle intrare› in: Augustinus-Lexikon 1 (1986-94) Sp. 1084f.

[39] J. Betz, Eucharistie, Hanbuch theologischer Grundbegriffe 1, Hrsg. H. Fries, München 1962, S. 336-355, hier 345.

[40] Ausführlich ist dies der Gegenstand der Untersuchung in De doctrina christiana 1. Siehe dazu C. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins. II. Teil: Die antimanichäische Epoche, Würzburg 1974, S. 88-96.

[41] Siehe dazu E. Franz, Totus Christus. Studien über Christus und die Kirche bei Augustinus, Bonn 1956.

Die Psalmen der Bibel als Quelle christlicher Spiritualität nach der Lehre des hl. Augustinus
(Ein Studientag im Mutterhaus der Ritaschwestern in Würzburg am 21.2.2004

Referent: Cornelius Petrus Mayer OSA)

Ziel des Studientages

Nicht die wissenschaftliche Theologie, sondern das betende Gottesvolk bezeugt und bestimmt den Glauben der Kirche. Zum Gebetsschatz der Kirche zählte von Anfang an der Psalter. Schon in den Evangelien, in der Verkündigung Jesu, der mit dem Psalmvers «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» auf den Lippen starb, spielen die Psalmen eine dominierende Rolle – so auch nahezu in der gesamten neutestamentlichen Briefliteratur einschließlich der Offenbarung des Johannes.

Diese Hochschätzung des Psalters, die in der frühen Kirche anhielt, erreichte in den Schriften des hl. Augustinus ihren Höhepunkt. Der fromme Bischof legte jeden der 150 Psalmen aus und er ließ diese Auslegungen unter dem Titel ‹Enarrationes in Psalmos – Erklärungen zu den Psalmen› veröffentlichen. Sie fassen seine Gedanken wie in einem Brennpunkt zusammen und gelten gleich den Confessiones als sein persönlichstes und spirituell reifstes Werk.

Der Interpretationskunst Augustins gelang es, die Psalmen im Lichte der neutestamentlichen Verkündigung für die christliche Gebetspraxis so zu erschließen, dass deren Auslegung gleich den Confessiones zu einer unverzichtbaren Quelle der augustinischen Spiritualität geworden sind.

Programm

Thema des ersten Vortrags: Die wichtigsten theologischen Voraussetzungen der Predigten Augustins über die Psalmen.

Der Bischof war der Überzeugung, dass die Bibel vorzüglich durch die Bibel auszulegen sei. Wie dies im Hinblick auf die Auslegung der Psalmen zu verstehen ist, ist Thema des ersten Vortrags.

Thema des zweiten Vortrags: Der Christ als Pilger in der Welt.

Die Psalmen artikulieren auf Schritt und Tritt das Unterwegssein des Menschen auf Erden. Auf Christus hin ausgelegt, verdeutlichen sie den Ausgang, den Weg und das Ziel dieser Lebensreise.

Thema des dritten Vortrags: Die Bedeutung von Glaube, Hoffnung und Liebe für den Vollzug der christlichen Pilgerschaft.

Die Psalmen bringen häufig in leidenschaftlicher Sprache eine Fülle von Emotionen, Erregungen, Affekten und Gemütszuständen zum Ausdruck, die, sobald sie auf die drei göttlichen Tugenden hin interpretiert werden, helfen, auf dem Weg der christlichen Pilgerschaft voranzukommen.

Erster Vortrag

Die wichtigeren theologischen Voraussetzungen der Predigten Augustins über die Psalmen

(Leitfaden durch den Vortrag)

Augustins ‹cathedra› (Kanzel); – Anzahl der noch erhaltenen Predigten; – der Psalm in der Liturgie des Gottesdienstes.

Die Verkündigung ein Werk des Heiligen Geistes; – die Abfassung eines Lehrbuches für die Prediger gleich nach der Übernahme des Bischofsamtes: Die christliche Wissenschaft; – Eigentümlichkeit der Texte der Heiligen Schrift; – die Rolle der Wissenschaften bei der Bibelauslegung; – die Bibel im Lichte der Weisung des Apostels Paulus aus 2 Cor 3,6: Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht; – These: Die Sache der Bibel ist Gott.

Gott der Dreieinige und das Heilshandeln Gottes in der Zeit als Kern der christlichen Verkündigung; – das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes; – Eckdaten des Credos der Kirche: Schöpfung, Erlösung und Vollendung; – das Erlösungswerk Jesu Christi ‹Mitte der Heilsgeschichte› und ‹Verstehensschlüssel› aller Heilsereignisse; – die auf das Erlösungswerk Christi hin zentrierte Bibelauslegung; – These: Die Texte der Bibel verfolgen ein doppeltes Ziel: sie informieren Menschen über Geschehnisse, die ihr Heil betreffen, und sie leiten diese zugleich zu einer dem christlichen Heilsverständnis entsprechenden Spiritualität an.

Die Bedeutung der Allegorese (= Textauslegung, die hinter dem Wortlaut einen verborgenen Sinn sucht) für die geistliche Schriftauslegung; – Beispiele: 1 Kor 10,1-4: Christus der Fels sowie Gal 4,25f.: ‹Hagar› und ‹Sara›; – das theologische Konzept von Christus als dem eigentlichen Verfasser beider Testamente der Bibel; – These: die Texte des Alten Testamentes sind vom Neuen her zu lesen, zu verstehen und auszulegen.

Augustins Verständnis von der Offenbarung und seine Auffassung von Christus als dem eigentlichen Verfasser der Bibel; – der aus Wörtern (Mehrzahl!) bestehende Text des Alten und Neuen Testamentes (= Bibel als Buch der Offenbarung) und ‹Gottes Wort› (Einzahl! = Offenbarer des Offenbarten); – These: Die biblischen Schriftsteller schrieben nieder, was ihnen Christus als das zeitlose, ewige ‹Wort Gottes› zu schreiben eingab (Lehre von der Inspiration).

Augustins Lehre vom ‹ganzen Christus› als Fundament seiner christlichen Spiritualität; – die neutestamentlichen Voraussetzungen dieser Lehre (z.B. 1 Kor 12); – die ‹sichtbare› und die ‹unsichtbare Kirche› und die das Heil sichernde Zugehörigkeit zu der ‹unsichtbaren Kirche›, zum ‹ganzen Christus›; – die Lehre vom ‹ganzen Christus› unter dem Aspekt der Mystik; – These: Christliche Mystik ist als Bindung an den Gottmenschen Jesus Christus zugleich Hin- und Ausrichtung der Person auf ein umfassenderes Ganzes, eben auf den ‹ganzen Christus›.

Die 1997 erschienene Studie Der Psalm – Stimme des ganzen Christus; – die an Affekten reiche Sprache der Psalmen; – Augustins Anweisung, beim Beten der Psalmen die Affekte nicht zu unterdrücken, sondern diese auf Gott hin zu lenken; – Psalmen als Worte an Christus oder an die Kirche, als Wort über Christus oder über die Kirche, gar als Worte Christi oder als Worte der Kirche; – Beispiele; – These: Weil Augustinus die Kirche bevorzugt unter dem Bild eines einzigen Menschen (Haupt und Glieder) beschrieb, konnte er das in den Psalmen sich artikulierende ‹Ich›, den Verfasser des betreffenden Psalmes, mit des ganzen Christus Stimme identifizieren. Aufgrund der im Neuen Testament verkündeten Mysterieneinheit zwischen Christus, dem Haupt, und der Kirche, dem Leib, können Beter der Psalmen sagen: «Seine Stimme ist auch unsere und unsere Stimme ist die seine» (Psalmenerklärungen 62,2).

Zusammenfassung und Ausblick.

Vortrag

Hippo, die Stadt am Mittelmeer, in der Augustinus Bischof war, besaß eine ansehnliche Basilika mit einer angebauten Taufkirche sowie einer Kapelle für die Reliquien des hl. Stephanus. In der Apsis, der die Basilika abschließenden Rundung, stand auf einigen Stufen erhöht die ‹cathedra›, auf welcher der Bischof Augustinus, nach dem ältesten Bild von ihm aus dem Lateran eine schmächtige Gestalt mit kahlgeschorenem Haupt, aber feingeschnittenem Profil, sitzend predigte.

Er predigte natürlich auch in Kirchen anderer Städte Afrikas, in Karthago z.B., wo er sich häufig für längere Zeit aufhielt. Wann immer er außerhalb seiner Diözese weilte, bedrängte man ihn, Gottes Wort auszulegen. Lediglich ein Zehntel der gehaltenen Predigten sind uns überliefert – immerhin etwa 600 von 6000. Das Johannesevangelium legte er zusätzlich in 124 Traktaten aus, das Meiste davon in Predigten, und die 150 Psalmen ebenfalls zumeist in Predigten.

Wie noch in der heutigen Liturgie, hatte der Psalm im Gottesdienst seinen Platz zwischen den Schriftlesungen. Er wurde teils vorgetragen, teils auch unter Beteiligung der Gemeinde gesungen. Da es eine Leseordnung nur für Festtage gab, wählte Augustinus den Psalm in der Regel frei aus. Dabei konnte es vorkommen, dass der Lektor einen anderen Psalm las als den, auf den Augustin sich für die Predigt vorbereitet hatte. Statt aber den Lektor zu korrigieren, erblickte der redegewandte Bischof bei solchen Fehlgriffen des Lektors einen Wink Gottes, nicht über den vorbereiteten, sondern über den vorgetragenen Text zu predigen. Er pflegte nämlich seine Predigten nicht schriftlich auszuarbeiten. Er begnügte sich mit einigen Notizen. Der Bibeltext lag auf seinem Schoß, davon ließ er sich inspirieren, anregen. Da er die Bibel so gut wie auswendig kannte, fiel es ihm nicht schwer, der Forderung nachzukommen, die er an jeden Prediger stellte: die Bibel vorzüglich durch die Bibel zu erklären und auszulegen.

Die Verkündigung des Glaubens – davon war Augustinus zutiefst überzeugt – ist nicht des Menschen, sondern des Hl. Geistes Werk. Ohne seine Hilfe ist ein rechtes Deuten der biblischen Texte nicht möglich. Ebenso wenig reicht es aus, dass nur der Prediger seine Hilfe empfängt. Der Hl. Geist muss auch in den Herzen der Hörer wirksam sein. «Herr, gib uns Mut zum Hören auf das, was du uns sagst. Wir danken dir, dass du es mit uns wagst», heißt es treffend in einem Lied. Gottes Wort verbindet die Gemeinde mit dem Prediger und den Prediger mit der Gemeinde.

Trotz der Überzeugung von der führenden Rolle des Hl. Geistes bei der Glaubensverkündigung nahm Augustinus das Predigeramt, das zu seiner Zeit dem Bischof allein zustand, sehr ernst. Als er um das Jahr 396 die Leitung der Diözese von Hippo übernahm, betrachtete er es als eine seiner ersten und wichtigsten Pflichten, ein Lehrbuch für Prediger zu schreiben. Das A und O der Predigt ist danach die Heilige Schrift – genauer: die Sache, die sie verkündet. Aufgabe des Predigers ist es, die Texte der Bibel unter Zuhilfenahme bestimmter Regeln zu erschließen.

Nun sind aber die Texte der Bibel nicht alle leicht zu verstehen. Gott hat es gewollt – so Augustinus –, dass darin auch dunkle, geheimnisvolle Stellen vorkommen. Er habe diese in pädagogischer Absicht gewissermaßen mit einem Schleier verhüllt. Ist es nicht so, fragt der ehemalige Pädagoge, dass Verschleiertes, von Geheimnis Umgebenes, uns reizt, unsere Wissbegierde erregt, dieses zu entschleiern? Und dient die Entschleierung solcher Texte nicht zugleich der Schärfung unseres Geistes?

Augustinus gab jenem Lehrbuch für Prediger den vielsagenden Titel: Die christliche Wissenschaft. Das Verstehen aller Texte der Bibel erfordert nämlich gediegene Kenntnisse in den einschlägigen Wissenschaften, Kenntnisse der Sprachen, der Geschichte, der Botanik und der Zoologie usw. usf.

Und überhaupt: Was ist die Bibel? Wie sollen Christen mit ihr umgehen? Die Antworten, die der gelehrte Bischof auf diese Fragen gibt, ist erhellend und für seine Auffassung von der Verkündigung des Christentums ungemein aufschlussreich.

Augustinus schätzte die Bibel sehr hoch ein. Er kannte sie, wie schon erwähnt, auswendig. Dennoch – besteht sie im Prinzip nicht aus Buchstaben? Prägte nicht schon der Apostel Paulus das später von Augustinus so oft zitierte Wort: «Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht» (2 Kor 3,6)? Etwa 15 Jahre nach seiner Bischofsweihe verfasste er ein Buch, dem er den Titel gab: Der Geist und der Buchstabe.

Was ist die Bibel ohne den Geist? Buchstabe, nichts als Buchstabe, der tötet. Die Sache der Bibel – dies gilt es zu sehen! – ist Gott, Gott aber ist Geist. Deshalb handelt das erste der vier Bücher Über die christliche Wissenschaft davon. Darin wird in 44 Kapiteln erklärt und dargelegt, weshalb Gott und nichts als Gott die eigentliche Sache der Bibel ist: weil jede andere Sache, die wir in dieser Welt kennen, vergeht; er allein kann von sich sagen, dass er bleibt und darum auch er allein des Menschen Heil ist.

Die Kernfrage des christlichen Glaubens lautet deshalb: Wer bzw. was ist diese Gott genannte ‹Sache› der Bibel? ‹Vater, Sohn und Heiliger Geist›, lautet die Antwort. Als solcher gab Gott sich kund, als solcher offenbarte er sich im ‹Evangelium› seines Sohnes Jesu Christi. Unter ‹Evangelium› wieder ist primär nicht das in unseren vier Evangelien fixierte Wort zu verstehen, sondern Christi Person und Werk. Davon aber heißt es im Schlusssatz des Vierten Evangeliums: «Wenn man alles aufschreiben wollte, (was Jesus, Gottes Sohn, getan hat) so könnte es, wie ich glaube, die ganze Welt der Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste».

Offenbarung ist Gottes Heilshandeln in der Zeit mit der Schöpfung als Anfang, mit der im Erlösungswerk Jesu Christi, seines Sohnes gipfelnden Geschichte seines Volkes als Mitte und mit der Vollendung der Schöpfung im Heiligen Geist als Abschluss. Wer erkennt darin nicht die drei Eckdaten des Credos der Kirche: Schöpfung, Erlösung und Vollendung? In der Mitte steht Christi Erlösungswerk, steht ‹das Fleisch gewordene Wort›, das Anfang und Ende miteinander verbindet.

Gewiss gleicht die Heilsgeschichte mit der Schöpfung als Anfang und der Wiederkunft Christi als Ende einer Linie. Sie gleicht aber auch einem Kreis mit der Menschwerdung Christi, ‹des Wortes Gottes›, als Mitte. Wie in einem Kreis alles auf dessen Mittelpunkt hin ausgerichtet ist und alles über diesen Mittelpunkt miteinander in Beziehung steht, so verhält es sich auch mit der Heilsgeschichte. Christus, ‹das Fleisch gewordene Wort›, ist der Verstehensschlüssel aller Ereignisse in der Geschichte unseres Heils.

Aus diesem Verständnis der Offenbarung mit der Person und dem Werk Christi als Mitte folgt, dass alles, was sich im Heilsgeschehen des Alten Bundes ereignete, letztendlich auf Jesus Christus abzielte und deshalb auch nur von ihm her zu verstehen ist. In der Emmauserzählung des Lukasevangeliums erklärt Jesus den ihn begleitenden zwei Jüngern, die es nicht fassen konnten, was mit ihrem Rabbi geschehen ist, wie dies alles zu verstehen sei. Dort lesen wir: «Und Jesus legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der ganzen Schrift über ihn geschrieben steht» (24,27). Und im gleichen Kapitel, das von der Erscheinung des Auferstandenen in Jerusalem im Kreise aller Apostel berichtet, wiederholt Jesus: «Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose und in den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht» (24,44).

Die biblischen Texte des Alten Testamentes haben somit für Christen einen doppelten Sinn. Einmal den historischen: Gott hat durch die Patriarchen, durch das Gesetz des Mose, durch die Propheten und alle Gerechten gesprochen und an seinem Volk Israel gehandelt. Dann aber haben diese Texte noch einen über das Geschehene hinaus verweisenden tieferen geistlichen Sinn. Dieser im Alten Testament noch verborgene liegt im Neuen Testament offen. Wenn Augustinus einschärft, die Bibel müsse durch die Bibel erklärt werden, dann meint er häufig diese innere Beziehung bzw. Verflechtung der in den Schriften der beiden Testamente zugrundeliegenden Ereignisse.

Augustinus hat mit seiner Bibelauslegung lediglich die Tradition der alten Kirche weitergeführt. Er sah diese auf Christus bezogene Deutung der alttestamentlichen Ereignisse bereits in den Briefen des Apostels Paulus beispielhaft praktiziert. Etwa im Ersten Korintherbrief: «Ihr sollt wissen, Brüder», schreibt dort der Apostel, «dass unsere Väter alle unter der Wolke waren, alle durch das Meer zogen und alle auf Mose getauft wurden in der Wolke und im Meer. Alle aßen auch die gleiche Speise, die der Geist Gottes gab, und alle tranken den gleichen Trank, den der Geist schenkte; denn sie tranken aus dem Felsen, der mitzog und den Geist spendete. Und dieser Fels war Christus» (10,1-4).

Beim geistlichen Verstehen der Texte der Hl. Schrift spielt die sogenannte Allegorese, ein Fachbegriff der Literaturwissenschaften, eine wichtige Rolle. Darunter versteht man jene Auslegung von Texten, die hinter dem Wortlaut einen weiteren, verborgenen Sinn sucht. Der erwähnte ‹Wüstenfels› z.B., auf den Moses mit seinem Stab schlug, war gewiss ein realer Fels, aber in seiner durstlösenden Funktion im Rahmen des Berichtes von Num 20,7-11 versinnbildlichte er zugleich den lebensspendenden Christus, der den Felsen in der Wüste bei weitem übertrifft. Christus ist der ‹wahre› Fels, auf welchen der ‹Wüstenfels› wie ein Zeichen auf die bezeichnete Sache verweist.

In seinem Brief an die Galater stellt der Apostel die beiden Frauen Abrahams einander gegenüber. ‹Hagar›, die Sklavin, versinnbildlicht ‹Jerusalem›, die irdische Stadt in Israel, ‹Sara›, die angetraute Freie, hingegen das künftige, aber bleibende und darum ‹wahre, himmlische Jerusalem› (4,25f.). In den alttestamentlichen Schriften ist generell, auch wenn die Zukunft Jerusalems in faszinierenden Bildern geschildert wird, die konkrete irdische Stadt gemeint. Lesen wir hingegen, um ein Beispiel zu nennen, in den Laudes der 4. Woche im Stundengebet als ‹Canticum› Jes 66,10-13 – der Prophet preist darin das Jerusalem seiner Zeit, das Jahwe mit der Fülle des Segens überschütten wird –, so sollen wir Christen dabei im Sinne des geistlichen Schriftverständnisses nicht mehr jenes konkret irdische Jerusalem, sondern laut Gal 4,26 ‹das himmlische Jerusalem› im Blick unseres Geistes haben, das Jerusalem, ‹das frei und unsere Mutter ist›.

Der an einprägsamen Bildern reiche Text lautet: «Freut euch mit Jerusalem, der heiligen Stadt, jubelt alle, die ihr sie liebt! Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr über sie traurig wart! Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust, trinkt und labt euch an ihrem mütterlichen Reichtum. Denn so spricht der Herr: Seht her: Wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und den Reichtum der Völker wie einen rauschenden Bach. Ihre Kinder wird man auf den Armen tragen und auf den Knien schaukeln. Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost». Ähnliche Texte über Jerusalem finden wir in den Psalmen. Wir werden einen solchen näher betrachten.

Halten wir in Bezug auf das Verhältnis der beiden Testamente die Weisung Augustins, die eine Weisung der Kirche geworden ist, fest: Die Texte des Alten Testamentes sind vom Neuen her zu lesen, zu verstehen und auszulegen. Die liturgische Praxis der Kirche verdeutlicht dies durch die Zuordnung der Lesungen in den Wortgottesdiensten. Die ausgewählten alttestamentlichen Lesungen der Osternacht z.B. werden auf die Auferstehungsbotschaft hin verkündet und sollen auch im Lichte dieser Botschaft verstanden und erklärt werden.

Zum Verständnis der Bibelauslegung Augustins sind noch zwei weitere seiner theoretischen Konzepte von denkbar großer Bedeutung: das Konzept von Christus als dem eigentlichen Verfasser der Bibel sowie das von der Kirche, in der er, ihr Erlöser, fortlebt, die mit ihm gleichsam zu einer Personeneinheit verschmilzt.

Zum ersten Konzept: Selbstredend wusste Augustinus, dass die Bibel mehrere Verfasser hat, dass die vier Evangelien z.B. von vier verschiedenen Evangelisten geschrieben wurden, dass der Prophet Jesaja sich gerade als Schriftsteller, also in seinem Stil, von den anderen Propheten, von Jeremia, von Ezechiel und Daniel – um nur die vier größeren zu nennen – unterscheidet. Jeder der biblischen Schriftsteller gab durch seinen ihm eigenen Wortschatz in einer Vielzahl von Wörtern ‹Gottes Wort› (Einzahl) wieder.

Gibt es da einen Unterschied zwischen den Wörtern der biblischen Schriftsteller und ‹Gottes Wort›? Augustinus beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja, und darin gipfelt sein Verständnis von der Offenbarung. Offenbart wird Gott der Dreieinige und der Offenbarer ist nicht der biblische Schriftsteller, also Moses, Jesaja, aber auch nicht Johannes oder Paulus, sondern ‹Gottes eingeborener Sohn›, die zweite Person dieses Dreieinigen Gottes, Inbegriff der Weisheit, ‹des Lichtes› und ‹des Lebens›, ‹Gottes Wort› (Joh 1,1-18), das ‹in der Fülle der Zeit› (Gal 4,4) Mensch geworden ist.

Das Bibelwort, das von der Offenbarung Gottes berichtet, geht somit der ‹Menschwerdung des Wortes Gottes› sowohl zeitlich voraus (Altes Testament) wie auch zeitlich nach (Neues Testament). Obgleich also uns von Christus selbst keine schriftlichen Texte überliefert sind, so ist doch er, weil ‹Gottes Wort›, der eigentliche Verfasser der Bibel, deren Worte ihn als den Mensch gewordenen Gottessohn bezeugen.

Augustin verfasste ein Buch, dem er den Titel Die Übereinstimmung der Evangelien gab. Darin heißt es, man dürfe nicht sagen, Christus sei unmöglich der Verfasser der Bibel, weil er sie nicht geschrieben habe, denn es verhalte sich so, dass die biblischen Schriftsteller gleichsam als die Glieder des Leibes Christi das niederschrieben, was dieser als Haupt ihnen zu schreiben eingab. Was er uns wissen lassen wollte, das trug er ihnen zu schreiben auf (1,53).

Mit diesem auf Gottes zeitloses Wort hin konzentrierten Offenbarungskonzept hängt jenes vom ‹ganzen Christus› aufs Engste zusammen, was soeben in den Begriffen von ‹Gliedern› und ‹Haupt› anklang. Wäre Christus nicht Gottes ewiges Wort, also nicht ‹wahrer Gott und wahrer Mensch›, woran die Kirche festhält, so entbehrte Augustins Reden von einem ‹ganzen Christus› jeglicher Grundlage. So aber ist seine Lehre gerade darüber das Fundament, auf dem er seine christliche Spiritualität errichtet.

Dazu im Einzelnen Folgendes: Dem Neuen Testament ist der Gedanke von der Einheit der Kirche mit Christus nicht unbekannt. Die Paulusbriefe kommen wiederholt darauf zu sprechen, am ausführlichsten im Ersten Korintherbrief. Dort steht im 12. Kapitel der fundamentale Satz: «Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus» (12,12).

Das Wortpaar ‹ganzer Christus› kommt weder im Neuen Testament noch in der christlichen Literatur vor Augustinus vor. Es ist seine Schöpfung und im Hinblick sowohl auf seine Theologie wie auch auf seine Spiritualität geradezu eine geniale zu nennende. Mit ihm gelang es nämlich dem Kirchenvater, zwischen einer ‹sichtbaren› und einer ‹unsichtbaren Kirche› nicht nur zu unterscheiden, sondern auch zu scheiden und letztere mit dem ‹Gottesstaat› zu identifizieren. Zur ‹unsichtbaren Kirche› zählen nicht allein die verstorbenen Seligen, sondern alle, die bleibend zu den Gliedern des Leibes Christi gehören, und dazu zählen auch die Frommen aller Zeiten und Zonen. Dieses ‹Glied am Leib Christi sein› ist nicht physisch, sondern mystisch zu verstehen.

Was folgt daraus? Ich denke viel. Unter anderem dies: Wir müssen uns verabschieden von einer Vorstellung von Mystik, die mit Magie, Ekstase, Verzückung und dergleichen zu tun hat. Mystik ist die Bindung einer Person an ein höheres Wesen. Christliche Mystik ist dann Bindung an den Gottmenschen Jesus Christus. Bindung mit dem Ziel der Vereinigung, der ‹unio mystica› meint keineswegs das Aufgeben oder gar das Auslöschen der eigenen Identität, der Person, des Ich mit seinen intellektuellen und emotionalen Kräften, sondern deren Hin- und Ausrichtung auf ein das eigene Vermögen übersteigendes Größeres, auf ein umfassenderes Ganzes – das der ‹ganze Christus› ist.

1997 erschien eine ebenso umfassende wie ausgezeichnete Studie von Michael Fiedrowicz über die Psalmenerklärungen des hl. Augustinus mit dem bezeichnenden Titel: Psalmus vox totius Christi – Der Psalm Stimme des ganzen Christus. Zutreffender könnte man des Kirchenvaters Bemühungen, den Reichtum der Psalmen den Gläubigen zu erschließen, nicht wiedergeben, denn darin begegnet dem Leser das Thema ‹der ganze Christus› auf Schritt und Tritt.

Die Psalmen sind nach Augustinus nicht einfach Gebete Davids oder irgendwelcher Frommen aus der Zeit des Alten Testamentes, sondern Gebete der Kirche. Wo und wann immer deshalb Christen sie beten, sollen sie bedenken, dass sie dies als ‹Glieder am Leibe Christi› tun. Zugleich sollten sie bedenken, dass den Psalmen eine an Affekten, an Leidenschaften, an seelischen Erregungen aller Art ungemein reiche Sprache eigen ist. In ihnen dominiert ein emotionaler Wortschatz. Da begegnen einem häufig das ‹Seufzen› und das ‹Klagen›, das ‹Stöhnen› und das ‹Weinen› und das ‹Schreien›, freilich auch das ‹Jubeln› und das ‹Jauchzen› und das ‹Lachen›.

Begegnen einem solche Gemütsäußerungen nicht auch in den Evangelien? «Als er auf Erden lebte», heißt es von Jesus im Hebräerbrief, «hat er Gebete und Bittrufe mit lautem Schreien und mit Tränen vor den getragen, der ihn aus dem Tode retten konnte, und seiner Ängste wegen ist er erhört worden» (5,7). Sprechen deshalb Christen den Psalm 21, den Jesus am Kreuz hängend betete und der mit dem Vers beginnt «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», so sollen sie als ‹Glieder des Leibes Christi› nicht nur im Geiste, sondern möglichst auch im Gemüte jene Empfindungen wieder lebendig werden lassen, die er, der ‹Erlöser› und das ‹Haupt seines Leibes›, als der ‹Gekreuzigte› hatte. Auch das ist Mystik.

Eingedenk dieser emotionalen Sprache der Psalmen ermuntert der predigende Bischof seine Zuhörer wiederholt, ihre Affekte, Empfindungen und Gefühle beim Beten nicht zu unterdrücken, sondern sich ihrer verwandelnden Wirkung auszusetzen und die eigene Gemütsregungen mit dem Psalmisten auf Gott hin zu lenken. «Betet der Psalm», heißt es in einer Predigt, «so betet mit ihm, seufzt er, so seufzt mit ihm, bezeigt er Freude, so freut euch mit ihm, hofft er, so hofft mit ihm, äußert er Furcht, so fürchtet euch mit ihm» (en. Ps. 30,2,3,1).

Weil Psalmen, wie bereits gesagt, als Prophetien auf Christus grundsätzlich im Lichte des Neuen Testamentes zu verstehen sind, bemerkt Augustinus nicht selten gleich zum Beginn einer Predigt über einen Psalm, es sei darauf zu achten, ob dessen Verse als Worte an Christus oder über Christus oder gar als Christi Wort zu verstehen sind, ebenso freilich auch an die Kirche oder über die Kirche oder gar als Wort der Kirche.

Dazu einige Beispiele: Selbstredend redet der ganze Psalm 109 «So spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten ...» über Christus. Augustinus brauchte hierin nur der Auslegungstradition der Kirche zu folgen, zumal Jesus selbst nach den Evangelien diesen Vers zum Beweis für seine Messianität in Anspruch nahm, als er den Schriftgelehrten entgegenhielt: Wenn David ihn (Jesus) seinen Herrn nennt, «wie kann dann er (der als Gottes Wort vor David und vor Abraham war) Davids Sohn sein?» (Mk 12,35-37).

Wie ebenfalls schon erwähnt, identifizierte Augustinus die Kirche mit dem Gottesstaat, welchen Begriff er den Psalmen entnommen hatte. «Wir sprechen vom Gottesstaat», schreibt er in dem gleichnamigen Werk. «Ihn bezeugt die Heilige Schrift ... Denn in ihr lesen wir: ‹Herrliche Dinge werden von dir gesagt, du Stadt Gottes›, und in einem anderen Psalm: ‹Groß ist der Herr und hochberühmt in der Stadt des Herrn der Heerscharen, der Stadt unseres Gottes›». Auch die zahlreichen Bildbegriffe in den Psalmen wie die ‹Königstocher› und die ‹Braut›, den ‹Weinstock› und die ‹Kelter›, den ‹Sion›, ‹Jerusalem und den ‹Tempel› sowie sämtliche Aussagen über das alttestamentliche Gottesvolk übertrug er mit Vorliebe auf die Kirche.

In mehreren Psalmen vernimmt Augustinus die Stimme der Kirche. «Die Kirche betet in diesem Psalm», heißt es z.B. in der Erklärung zum Psalm 6 (en. Ps. 6,3) und aufgrund der Zugehörigkeit zum ‹Leib Christi› wird jeder Einzelne zum Subjekt des Psalmengebetes, vermag er die in einem Psalm zum Ausdruck gebrachte Erfahrung sich zu eigen zu machen. «Indem Augustinus die Kirche immer häufiger mit dem Bild des ‹einen Menschen› ... beschrieb, konnte er das in den Psalmen sich artikulierende ‹Ich› mit dessen Stimme identifizieren:‹in Christus aber sind alle ein einziger Mensch; weil dieses einen Menschen Haupt im Himmel ist› (en. Ps. 60,1)», heißt es im Artikel des Augustinus-Lexikons zu den Psalmenerklärungen Augustins von M. Fiedrowicz (AL 2, 853f.). Aufgrund dieser Mysterieneinheit zwischen Christus dem Haupt der unsichtbaren Kirche als Leib kann Augustinus sagen: «Seine (Christi) Stimme ist auch unsere und unsere Stimme ist die seine» (en. Ps. 62,2).

Ich komme zum Schluss dieses ersten Vortrages: Augustins Psalmenerklärungen gelten als sein persönlichstes, sein spirituell reifstes und im Hinblick auf seine Theologie auch als sein gedankentiefstes Werk. Alle Aspekte seiner Theologie und Spiritualität findet man darin brennpunktartig zusammengefasst. Man könnte daraus ein ganzes Bündel von Themen zu Referaten zusammenstellen: über die Trinität, über die Schöpfung, über den Sündenfall, über Christus und dessen Erlösungswerk und natürlich über die Kirche.

Eigentlich war in diesem ersten Vortrag vorzüglich von ihr, der Kirche, das will sagen, von uns, die wir zur ‹unsichtbaren Kirche› gehören wollen, die wir diese sein sollen, die Rede. Nun befindet sich gerade dieser Teil noch in jenem Zustand, den das Neue Testament in engem Anschluss an die Psalmen mit dem charakteristischen Begriff ‹Pilgerschaft› aufs Treffendste wiedergibt und beschreibt. Unser Leben als Pilgerschaft auf Erden im Lichte der Psalmen – dieses Thema soll uns im zweiten Vortrag beschäftigen.

Zweiter Vortrag

«Ich bin nur ein Gast bei dir, ein Pilger wie all meine Väter» (Psalm 38,13)

Der Christ als Pilger in der Welt

(Leitfaden durch den Vortrag)

Sprachliches zur Wortgruppe ‹Pilger, pilgern, Pilgerschaft›; – der Pilger als ‹Fremder› und als ‹Beisasse› in der Bibel; – die prinzipielle Heimatlosigkeit des Glaubenden in der Welt; – Phil 3,20: «Unsere Heimat ist im Himmel»; – These: ‹Pilger›, ‹Fremdling› und ‹Beisasse› als Bezeichnungen für Christen als Glieder am Leibe Christi bedeuten in der Verkündigung des Neuen Testamentes nichts Endgültiges, denn diese sind zugleich ‹Bürger des Himmels› und ‹Hausgenossen Gottes› (Eph 2,19).

Die Doppelbewertung der ‹Welt› bzw. des ‹Kosmos› im Neuen Testament; – die ‹Welt› als Schauplatz der Geschichte unseres Heils; – die Devise des Apostels Paulus: «Gleicht euch nicht der Welt an!» (Röm 12,2); – die Devise des Verfassers der johanneischen Schriften: «Liebt die Welt nicht und was in der Welt ist!» (1 Joh 2,15); – These: Eine Doppelbewertung der Welt ist für das Verständnis der christlichen Spiritualität überhaupt und für deren augustinische Prägung im Besonderen von denkbar großer Bedeutung.

Die ‹Pilgerschaft› in den Psalmenerklärungen; – Auslegung des Psalms 119 im Lichte der neutestamentlichen Verkündigung; – die das Thema ‹Pilgerschaft› artikulierenden Verse 5-7: «Weh mir, dass ich als Fremder in Meschech bin und bei den Zelten Kedar wohnen muss!» (Vers 5). «Ich muss schon allzu lange wohnen bei Leuten, die den Frieden hassen» (Vers 6). «Ich verhalte mich friedlich; doch ich brauche nur zu reden, dann suchen sie Hader und Streit» (Vers 7); – was unter ‹leben müssen in der Fremde› zu verstehen ist; – was unter Heimat, Vaterland und Jerusalem zu verstehen ist; – der Notschrei der noch auf Erden pilgernden Kirche; – die Kirche als Alleinerbin Christi, weil Leib Christi, weil mit ihm zusammen der eine Mensch Christus; – der mit seiner Kirche immer noch auf Erden pilgernde Christus; – der Ruf ‹weh mir› ein Ruf im Unheil, aber auch ein Ruf der Hoffnung; – die positiven Aspekte des ‹Stöhnens› und des ‹Seufzens›; – der Aufstieg durch den Stufengesang des Psalms 119; – die theologisch hochinteressante Auslegung «bei den Zelten von Kedar muss ich wohnen» im Lichte der Genesiserzählung von Abrahams zwei Söhnen und Gal 4,29; – das irdische und das himmlische Jerusalem; – die Dauer des ‹weh mir!› bis zum Ende der Zeiten; – das Pilgern im Leib und das Pilgern der Seele; – die Rolle der Affekte während der Pilgerschaft der Seele; – These: Der Pilgerschaft des Leibes steht bei Augustinus die Pilgerschaft der Seele gegenüber. Sie, die mit dem Herzen betende Seele, weiß um das Ziel der Pilgerschaft und verwandelt auf diese Weise die Pilgerschaft in einen Aufstieg zu Gott.

Einige wichtigere Aspekte der Pilgerschaftsidee für unsere christliche Spiritualität; – das unverzichtbare Wissen über das Ziel unserer christlichen Pilgerschaft; – das Ziel der Pilgerschaft im Lichte des Credos der Kirche; – der unaufgebbare Glaube der Kirche an ein ewiges Leben; – das von jedweder Pilgerschaft befreite heilige Jerusalem und das Jerusalem, das noch auf Erden pilgert; – bevorzugte Begriffspaare, die das Unterwegssein zum Ziel verdeutlichen: ‹hier und dort›, ‹noch nicht und schon›; – die Pilgerschaftsidee im Lichte neutestamentlicher Texte: z.B. 2 Kor 5,6; – die notwendigen Drangsale der christlichen Pilgerschaft; – der christliche Pilger als Bürger des Himmels; – die doppelte Pilgerschaft Christi: die während seines irdischen Daseins und die immer noch andauernde seines Leibes, der Kirche; – der heilsgeschichtliche Rahmen der christlichen Pilgerschaft; – These: Augustins Lehre von der christlichen Pilgerschaft steht und fällt mit seiner Lehre von der sogenannten Eschatologie (= Lehre von den letzten Dingen, vom Jenseits, vom Himmel, vom Leben bei Gott und mit Gott).

Vortrag

Wirft man einen Blick in eine Bibelkonkordanz, so ist man erstaunt, dass darin die Wortgruppe ‹Pilger›, ‹pilgern› und ‹Pilgerschaft› insgesamt nur etwa zehnmal vorkommt. Spielt also der mit dem Wort ‹Pilgerschaft› bezeichnete Sachverhalt in der Bibel keine Rolle? Mitnichten! Das eingedeutschte Wort ‹Pilger› hat einen lateinischen Ursprung. Es kommt vom ‹peregrinus› und bedeutet ‹ausländisch›, ‹fremd›. Ein ‹Pilger› ist also zunächst ein Fremder. Im Mittelalter erhielt das Wort ‹Pilger›, weil vorzüglich in der Kirchensprache in einem engeren Sinn verwendet, die Bedeutung Wallfahrer.

Der Begriff ‹Fremder› begegnet einem häufig auch in der Bibel. Im Alten Testament ist der ‹Fremde› einmal der ‹Beisasse›, der als Nichtisraelit im Volke Israel lebt, wo er gewisse eingeschränkte Rechte genießt. Selbstredend waren die Israeliten in fremden Ländern, in Ägypten etwa oder in Babylon, ebenfalls ‹Beisassen›. Darüber hinaus erhält das Wort ‹fremd› eine typisch religiöse Bedeutung. Ja, der Gläubige wird ermahnt zu bedenken, dass vor Gott eigentlich jedermann nicht Besitzer, sondern ‹Beisasse› ist. Ein Muster solcher Beisassenschaft ist Abraham, der in Ur in Chaldea lebte, aber aufgefordert wurde, auszuwandern und so ein Zeichen des Glaubens und des Gehorsams Gott gegenüber zu setzen.

Im Neuen Testament wird dieser Gedanke der prinzipiellen Heimatlosigkeit der Glaubenden erweitert und vertieft. Vom ‹Wort›, das Mensch geworden ist, sagt das Johannesevangelium: «Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf» (1,11). Und im Matthäusevangelium sagt Jesus von sich: «Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest; der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann» (8,20).

Christen sind Fremde unter und gegenüber allen Nationalitäten, Rassen und Ständen. Ihr Fremdsein wird religiös fundiert und zugleich überhöht. «Da gilt nicht mehr Jude und Hellene, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr eins in Christus Jesus», verkündet der Apostel Paulus in seinem Galaterbrief und er fährt fort: «Seid ihr aber Christi, so seid ihr Abrahams Nachkommen und der Verheißung gemäß Erben» (3,28f.). Was unter ‹Erben der Verheißung› zu verstehen ist, verdeutlicht der Apostel in beinahe jedem seiner Briefe. Kurz und bündig formuliert der Philipperbrief 3,20: «Unsere Heimat ist im Himmel». Dem entsprechend mahnt auch der Verfasser des Ersten Petrusbriefes: «So lange ihr in der Fremde seid, führt ein Leben in der Gottesfurcht, während der Zeit eurer Pilgerschaft» (1,17) und einige Sätze weiter heißt es lapidar: «Ihr seid Pilger und Fremdlinge» (2,11).

Das Pilger- und Fremdlingsein gilt für Christen allerdings nur in Bezug auf ihr Dasein auf Erden. Sofern sie Erlöste sind, haben sie ihren Erdenstand grundsätzlich überwunden. So kann der Verfasser des Epheserbriefes sagen: «Ihr seid jetzt nicht mehr Fremde oder Beisassen, vielmehr seid ihr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes» (2,17). Es ist also dieser Doppelaspekt in der neutestamentlichen Pilgerschaft zu sehen: Weil Christen ‹die zukünftige Stadt suchen›, haben sie ‹hier keine bleibende› (Hebr 13,14).

Eine weitere Voraussetzung für ein besseres Verständnis der Rolle der Pilgerschaft in der Spiritualität des hl. Augustinus bietet uns das Wissen um die Bewertung der ‹Welt› im Neuen Testament. Der Begriff ‹Welt› bzw. ‹Kosmos› ist ebenfalls alles andere als eindeutig. ‹Welt› ist zunächst das ‹Weltall› mit allen Kreaturen, die Gott zum Schöpfer haben. Diese ‹Welt› ist von begrenzter Dauer; ‹ihre Gestalt vergeht› (1 Kor 7,31). Um den Kosmos von Gott und der kommenden neuen Schöpfung Gottes abzuheben, spricht das Neue Testament häufig von ‹diesem Kosmos› (vgl. 1 Kor 3,19; 5,10; Joh 12,31; 16,11 u.a.).

Eingeschränkt auf die ‹Erde› ist die ‹Welt› Schauplatz der Geschichte. Jeder Mensch wird auf ihr geboren (vgl. Joh 16,21); auf ihr befinden sich ‹alle Reiche der Welt› (vgl. Mt 8,4); auf ihr wirkte Christus als ‹Licht der Welt› (vgl. Joh 9,5) und aus ihr kehrt er zum Vater zurück (vgl. ebd. 13,1). Gerade im Hinblick auf das Erlösungswerk Christi auf Erden erhält der Weltbegriff des Neuen Testamentes seine eigentümliche Färbung.

Ist die Welt erlösungsbedürftig, so steht sie in Gegensatz zu dem, der sie zu erlösen vermag, zu Gott. Diesen Gegensatz, dessen Grund in der Sünde liegt, hat der Apostel Paulus in aller Schärfe artikuliert. Die ‹Welt› wird in seinen Briefen zum Inbegriff einer zerrütteten Schöpfung. Gerade im Hinblick auf Christi Erlösungswerk kommt es zwischen den Christen und der Welt zu einer eigentümlichen Entfremdung. Zwar leben Christen in der Welt, aber sie treten in eine Distanz zu ihr. Sie sollen ‹die Welt sich so zunutze machen, als nutzten sie diese nicht› (1 Kor 7,31). «Gleicht euch nicht der Welt an», lautet die paulinische Devise, «sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist» (Röm 12,2).

Eine noch deutlichere Sprache in Bezug auf eine Distanz zur Welt begegnet uns in den johanneischen Schriften. Zwar heißt es da, ‹Gott habe die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn für sie hingab» (Joh 3,16), zugleich aber erscheint die ‹Welt› als die große Gegenspielerin Gottes, die nach wie vor ‹vom Bösen beherrscht› wird (vgl. 1 Joh 5,19). Wie bei Paulus gehören auch bei Johannes die Gläubigen nicht mehr der ‹Welt› an, obwohl sie ‹aus der Welt› erwählt sind (Joh 15, 19). In der ‹Welt› lebend, werden sie die ‹Welt› besiegen, denn der Sieg ist durch den Erlöser bereits grundsätzlich erkämpft (vgl. 1 Joh 5,4). Gleich dem Christus in seinen Erdentagen befinden sich die Christen zwar immer noch ‹in der Welt› (vgl. Joh 9,5), sie gehören aber der Welt nicht mehr an. Daher die Weisung in 1 Joh 2,15: «Liebt die Welt nicht und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht in sich».

Diese Doppelbewertung der ‹Welt› ist für das Verständnis der christlichen Spiritualität überhaupt und für deren augustinische Prägung im Besonderen von denkbar großer Bedeutung: Sofern die ‹Welt› von Gott herkommt, ist an ihrer kreatürlichen Güte festzuhalten, sofern sie durch die Sünde der Ort der Abkehr von Gott und der Gottferne geworden ist, haben Christen sich von ihr zu distanzieren. Eine radikale und totale Ablehnung der Welt kennt das Neue Testament wegen der Verheißung einer neuen Schöpfung am Ende der Zeiten nicht.

Wenden wir uns nunmehr dem Thema der Pilgerschaft in der Psalmenerklärung Augustins zu, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Begriff ‹Pilger›, also das entsprechende lateinische Wort ‹peregrinus›, beim Kirchenvater noch nicht wie in späteren Jahrhunderten ‹den Wallfahrer› meint, sondern, wie in der Bibel üblich, den ‹Fremdling›.

Die Wortgruppe ‹Pilger›, ‹pilgern› und ‹Pilgerschaft› kommt in allen Schriften Augustins 841mal und in den Psalmenerklärungen 299mal vor. Einen besonders aufschlussreichen Text liefert der kurze Psalm 119, den die Kirche in ihrem Stundenbuch als dritten der Psalmen in den kleinen Horen jeweils am Montag in der vierten Woche betet. In dem aus sieben Versen bestehenden Psalm beklagt der Beter seine Not inmitten ihm feindlich gesonnener Stämme, dass er also in der Fremde wohnen bzw. leben müsse.

Die Verse 5-7 artikulieren diese Not; in der Übersetzung des Stundenbuches lauten sie: «Weh mir, dass ich als Fremder in Meschech bin und bei den Zelten von Kedar wohnen muß!» (5) «Ich muss schon allzu lange wohnen bei Leuten, die den Frieden hassen» (6). «Ich verhalte mich friedlich; doch ich brauche nur zu reden, dann suchen sie Hader und Streit» (7). «Meschech› und ‹Kedar› waren für Israel feindliche Stämme.

Was macht Augustinus, der Bischof und Theologe der Kirche und zugleich glänzende Redner aus diesen Versen? Wie legt er sie im Lichte der neutestamentlichen Verkündigung aus? Was versteht er unter einem ‹leben müssen in der Fremde›? Wer überhaupt ist der Fremde? Der Christ, sagt Augustinus, der Christ inmitten der Welt. «Weit habe ich mich von dir entfernt, meine Pilgerschaft ist eine lange währende. Ich befinde mich noch nicht in jenem Vaterland, wo ich mit keinem Bösen mehr leben werde; noch befinde ich mich nicht in der Gesellschaft von Engeln, in der keine Skandale mehr zu befürchten sind.

Warum bin ich noch nicht dort? Weil mein Dasein als Beisasse noch andauert. Beisasse sein bedeutet Pilgerschaft. Beisasse ist, der in einem fremden Land wohnt, nicht in seiner Gemeinde. ... Gelegentlich kommt es vor, Brüder, dass ein Mensch in der Fremde besser lebt, als er vielleicht in seiner Heimat leben würde. Dies aber ist nicht der Fall, wenn wir fern von jenem Jerusalem leben, das im Himmel ist. Der Mensch wechselt seine Heimat und bisweilen ergeht es ihm in der Fremde gut: Er trifft dort auf treue Freunde, die er in der Heimat nicht antraf. (Nehmen wir an,) Er hatte Feinde, so dass er die Heimat verlassen musste; und als er in der Fremde lebte, fand er, was er in der Heimat vermisste.

So verhält es sich mit jenem Jerusalem, wo alle gut sind, nicht. Wer immer sich außerhalb Jerusalems aufhält, lebt unter Bösen; ja, er vermag sich von diesen nicht zu entfernen, es sei denn, er kehrt zur Gesellschaft der Engel zurück, um dort zu sein, von wo aus gesehen er sich in der Fremde aufhält. Dort befinden sich alle Gerechten und Heiligen, die sich Gottes Wort, ohne es auf Buchstaben lesen zu müssen, zu eigen machen. Was uns auf Blättern geschrieben wurde, dies schauen sie in Gottes Angesicht. Welch ein Vaterland! Fürwahr, ein großes Vaterland, und wie elend sind jene, die sich fern davon auf aufhalten.

Aber die Klage ‹Allzu lange schon muss ich in der Fremde wohnen› ist der Notschrei jener Kirche, die hier auf Erden pilgernd leidet. Es ist die Stimme jener (Kirche), die von den Enden der Erde laut ruft, wie es in einem anderen Psalm heißt: ‹Von den Enden der Erde rufe ich zu dir› (Ps 60,3). Wer von uns ruft von den Enden der Erde? Nicht ich, nicht du, nicht er; von Enden der Erde ruft vielmehr die Kirche selbst, die Alleinerbin Christi, denn sie ist seine Erbin, von ihr, der Kirche, wird gesagt: ‹Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Besitz die Grenzen der Erde› (Ps 2,8).

Wenn demnach der Besitz Christi sich bis zu den Grenzen der Erde erstreckt und dieser Besitz Christi alle Heiligen umfasst und alle Heiligen einen einzigen Menschen in Christus bilden, weil doch eine heilige Einheit in Christus ist, dann ist er selbst dieser Eine, der so spricht: ‹Von den Enden der Erde rufe ich zu dir, weil mein Herz sich ängstigt› (Ps 60,3).

Von dieses einzigen Menschen langem Aufenthalt unter Bösen in der Fremde handelt (unser Psalm). Und als ob er gefragt würde: Bei welchen Menschen weilst du, dass du so klagst? Antwortet jener: ‹Mein Aufenthalt in der Fremde dauert schon allzu lange›. Was aber, wenn er bei Guten wohnte? Wohnte er bei Guten, so klagte er nicht ‹Wehe mir!› ‹Weh mir› ist ein Ruf im Elend, ein Ruf im Unheil und im Unglück; dennoch auch ein Ruf der Hoffnung – der Hoffnung, weil er bereits zu seufzen und zu stöhnen gelernt hat.

Viele gibt es nämlich, die sich im Elend befinden und nicht seufzen, sie leben in der Fremde und weigern sich zurückzukehren. Der Beter der Psalmen hingegen erkennt (bereits) das Ungemach seiner Pilgerschaft und weil er (diese seine Lage) erkannt hat, kehrt er um; er beginnt aufzusteigen, indem er den Stufengesang zu singen anhebt.

Wo seufzt er? Und inmitten welcher Menschen wohnt er?‹Bei den Zelten von Kedar muss ich wohnen›». Was meint ‹Kedar›, fragt der Prediger und er antwortet: «Kedar, soweit ich mich an die Bedeutung hebräischer Name erinnere, heißt Finsternis».

Der Bischof holt dann zu einer ausführlichen Interpretation der Genesiserzählung von den zwei Söhnen Abrahams aus: von Isaak und von Ismael, der, wie bereits im ersten Vortrag dargelegt, nach dem Galaterbrief des Apostels Paulus das irdische Jerusalem versinnbildlicht, das lediglich als eine Abschattung jenes lichtdurchfluteten himmlischen Jerusalems gilt, das dem Isaak und seinen Erben verheißen ist. Augustinus zitiert Gal 4,29, wonach der auf natürlichem Weg des Fleisches Geborene jenen verfolgte, der aufgrund geistlicher Verheißung zur Welt kam, und fährt dann fort: «Die Geistlichen erleiden durch die Fleischlichen Verfolgung. Was aber sagt die Schrift? ‹Vertreibe die Magd und ihren Sohn, denn der Sohn der Magd darf nicht mit meinem Sohn Isaak Erbe sein› (Gen 21,10)».

«Wann wird dieses ‹Vertreibe!› erfolgen?», fragt der Prediger, und er beantwortet die Frage indirekt mit dem Hinweis auf das Gleichnis Jesu vom Unkraut im Weizen: bis ‹die Zeit der Ernte› gekommen sein wird (vgl. Mt 13,30), so lange dauert das ‹Weh mir›, das Wohnen müssen in der Fremde unter Fremden.

«Meine Seele muss lange schon in der Fremde weilen», lautet der Vers 6 des Psalms 119 bei Augustinus und die Erklärung, die er dazu gibt, ist wieder höchst aufschlussreich: «Der Psalmist spricht von der Seele», hebt der Prediger hervor, «damit du nicht an eine leibliche Pilgerschaft (an ein leibliches Verweilen in der Fremde) denkst. Der Leib pilgert in Räumen, die Seele in der Kraft ihrer Affekte. Liebst du die Erde, so weilst du fern von Gott; liebst du Gott, so steigst du zu ihm auf. In der Gottes- und in der Nächstenliebe wollen wir uns üben, um zur Liebe zurückkehren zu können». Der Psalmist, der seinen Zustand in der Fremde beklagt, demonstriert sozusagen durch diese seine Klage, dass er kraft seiner Affekte selbst in der Fremde bei Gott zu verweilen versteht.

Der Pilgerschaft im Leib steht die Pilgerschaft im Geist gegenüber. Letztere hat den Aufstieg, den von Augustinus so viel gepriesenen Stufengesang im Sinn. Die pilgernde Seele überwindet das Jammertal, sie erleidet den Unfrieden und erstrebt den Frieden. «Friedfertig war ich zu denen, die den Frieden hassen», heißt es im Schlussvers des Psalms und der diesen Vers auslegende Bischof ermahnt den betenden Christen zu tun, was er da betet. «Ihr vermögt die Wahrheit dessen, was ihr da singt, nicht anders zu bezeugen, als indem ihr zu tun beginnt, wovon ihr singt».

Mit dem Herzen wollen die Psalmen gebetet und gesungen werden, lehrt Augustinus und er stellt die Frage in den Raum: «Wie viele beten nur mit der Stimme, bleiben aber im Herzen stumm? Wie viele hingegen beten schweigend, verleihen jedoch den Affekten laut ihre Stimme? Zu Recht», sagt er, «denn es ist das Herz, auf das Gottes Ohren sich richten. ... Es ist also das Herz, das betend so spricht: ‹Meine Seele muss lange schon in der Fremde weilen: friedfertig war ich zu denen, die den Frieden hassen›».

In der Erklärung Augustins zu diesem Psalm 119 stößt man auf nahezu sämtliche Aspekte seiner Lehre über die Spiritualität der christlichen Pilgerschaft. Ich möchte lediglich einige der wichtigeren nochmals aufgreifen und zu vertiefen versuchen.

Da ist zunächst das Ziel der Pilgerschaft, ohne dessen Kenntnis von einer christlichen Spiritualität überhaupt nicht gesprochen werden kann. Dieses Ziel ist praktisch mit dem Kern der christlichen Verkündigung identisch. Schließt doch das Credo der Kirche bekanntlich mit dem Satz: «Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt». Alles, was zuvor im Credo zur Sprache kommt, die Schöpfung, die Menschwerdung Christi, die Sendung des Geistes und dessen Wirken in der Kirche, zielt bereits auf diesen Schlusssatz ab.

Zu beherzigen ist deshalb trotz allen Redens von einem modernen, aufgeklärten Christentum, das ein Festhalten an einem Leben nach dem Tod für lächerlich und für absurd hält, immer noch der Satz des Apostels Paulus: «Wenn wir nur in diesem Leben auf Christus gehofft haben, ist unser Elend größer als das aller anderen Menschen» (1 Kor 15,19). Dieser Satz erst verleiht der Lehre Augustins über die christliche Pilgerschaft ihren Sinn, denn wer pilgert – dies besagt bereits der im Begriff ‹Pilgern› – kennt ein Ziel und er beginnt sein Pilgern mit festem Blick auf das erfasste Ziel. Augustinus nennt das Ziel mit Vorliebe ‹Vaterland› bzw. ‹Heimat›, ‹Gottesstaat› und allem voran das ‹himmlische Jerusalem›.

Dazu einige luzide Texte: Das Land, das die Sanftmütigen besitzen werden, ist «das heilige Jerusalem, das von jedweder Pilgerschaft befreit mit Gott und von Gott in Ewigkeit lebt» (en. Ps. 36,1,12). In aller Deutlichkeit unterscheidet sich jenes Jerusalem von dem, ‹das noch hier auf Erden pilgert›, wo Christen als Pilger noch allen Verlockungen der Welt ausgesetzt sind (ebd. 103,4,3). Bürger jenes Jerusalem sind die Engel, die uns gewissermaßen als von der Pilgerschaft Heimkehrende erwarten (ebd. 126,3). Zu jenem himmlischen Jerusalem zählen ferner die dort bereits Angekommenen, «die schon die Stadt (Gottes) schauen und uns ermuntern, im Lauf dorthin nicht zu erlahmen» (ebd. 121,2).

Gerne verwendet Augustinus Begriffspaare, die das Unterwegssein zum Ziel, sei es örtlich, sei es zeitlich, besonders einprägsam veranschaulichen wie ‹hier› und ‹dort› oder ‹schon› und ‹noch nicht› oder ‹jetzt› und ‹dann›. In diesem Leben, also hier und jetzt gilt es der Pilgerschaft eingedenk zu sein (ebd. 87,13; 89,15; 93,7), was freilich nur gelingt und was umso mehr gelingt, je intensiver der gegenwärtige Zustand von dem am Ende der Pilgerschaft verheißenen Zustand her bzw. auf diesen hin reflektiert wird.

Zu solch intensiver Reflexion laden über die Psalmen hinaus auch zahlreiche andere Texte der Heiligen Schrift ein, auf die Augustinus bei seinen Erklärungen gerne zurückgreift. Der wohl am meist zitierte ist der Vers 6 aus dem 5. Kapitel des 2. Korintherbriefes: «Wir sind also immer zuversichtlich, auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, so lange wir in diesem Leib zu Hause sind». Im Kontext dieser Stelle ist die Rede vom ‹irdischen Zelt, das abgebrochen wird›, weil wir «dann eine Wohnung von Gott haben werden, ein nicht von Händen errichtetes ewiges Haus im Himmel», ferner vom «seufzen, so lange wir in diesem Zelt leben» (5,1-4). In diesem Abschnitt begegnet uns ein guter Teil jener Begriffe für die Zustandsschilderungen der christlichen Pilgerschaft, die Augustins Psalmenerklärungen inhaltlich wie auch sprachlich prägen.

Natürlich verstand sich der ehemalige Lehrer der Redekunst auf ein lebhaftes Schildern der Nöte und Lasten, der Leiden und Bedrängnisse der Gläubigen während ihrer Pilgerschaft. Der Kernbegriff bei solchen Schilderungen ist das Wort ‹tribulatio-Drangsal›. «Ich frage euch, weshalb soll dieses Leben (hier und jetzt) keine Drangsal sein, wo doch die Pilgerschaft auf Erden selbst nichts als Drangsal ist?», heißt es in der Erklärung zu Psalm 76,3. Und zum Vers 5 des Psalms 85 «Am Tag der Drangsal habe ich zu dir gerufen, weil du mich erhörst» lautet der Kommentar: «Kurz vorher sagte er (der Psalmist), ‹den ganzen Tag rief ich› (Vers 3), den ganzen Tag war ich in Bedrängnis. Kein Christ soll also sagen, es gäbe einen Tag ohne Drangsal. ... Wie vermag eine Drangsal überhaupt gepriesen werden? Drangsal ist doch Drangsal! ... Wohl deshalb: So lange wir uns im Leib befinden, pilgern wir fern vom Herrn. Was immer hier überhand nimmt, ändert nichts am Zustand, dass wir noch nicht in jenem Vaterland sind, wohin zurückzukehren wir uns beeilen. Wen der Aufenthalt in der Fremde anzieht, liebt sein Vaterland nicht».

Die Liebe zum Vaterland und die Liebe zum Aufenthalt in der Fremde sind also nach Augustinus dialektisch einander zugeordnet und schließen sich gegenseitig aus. Deshalb fährt er fort: «Ist das Vaterland anziehend, so ist der Aufenthalt in der Fremde widerlich. Ist aber der Aufenthalt in der Fremde widerlich, so währt die Drangsal den ganzen Tag (so lange die Pilgerschaft dauert). Wann wird es die Drangsal nicht mehr geben? Wenn wir im Vaterland sein werden, wo die Wonne herrscht».

Wenn schon das Fernsein von geliebten Personen uns Kummer bereitet, soll dann die Ferne von Gott nicht umso mehr als Drangsal empfunden werden? Deshalb gehören zur christlichen Pilgerschaft ‹Beklemmung›, ‹Aufreibung›, ‹Bedrückung›, kurz Drangsale aller Art (ebd. 83,8). Sie, die Drangsale, sind das Stigma der Pilgerschaft (ebd. 85,11 und 137,12).

Freilich hat die Auslegung des Daseins als Pilgerschaft das Selbstverständnis des Christen als eines Bürgers des Himmels zur Voraussetzung. «An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten», so beginnt bekanntlich der Psalm 136 und Augustinus erinnert gleich in der Einleitung seiner Predigt zu diesem Psalm die Zuhörer daran, dass eigentlich jeder Gebildete in der Kirche wissen müsse, 1.) wessen Vaterlandes Bürger er ist, 2.) dass der Grund seiner Pilgerschaft hier auf Erden in der Sünde zu suchen ist und 3.) dass seine Rückkehr ins Vaterland allein kraft der ihm zuteil gewordenen Rechtfertigungsgnade ermöglicht wird.

Erinnern wir uns an das im ersten Vortrag über die Identität zwischen dem Gottesstaat und der unsichtbaren Kirche Gesagte. Bürger des Gottesstaates sind die Glieder am Leibe Christi, die zur unsichtbaren Kirche gehören, von der ein Teil immer noch auf Erden pilgert (vgl. ebd. 41,9). Es pilgerte aber auch das Haupt der Kirche, Christus, hier auf Erden. Als er bei seiner Menschwerdung Fleisch annahm, teilte er mit uns die Pilgerschaft, er vermittelt uns aber nach seiner Verherrlichung auch die Gnade der Rechtfertigung, so dass er in Bezug auf die Kirche der noch zu Rechtfertigenden sagen kann, in ihnen pilgere er immer noch auch auf Erden. Es können aber auch jene, die zu ihm gehören, sagen: Wir pilgern zwar noch hier auf Erden, aber wir sind bereits Bürger des Reiches, in dem er, unser Haupt und Erlöser, König ist (vgl. ebd. 138,2.5).

Ebenfalls im ersten Vortrag erwähnte ich bereits den Begriff der Heilsgeschichte. Eigentlich ist sie nichts anderes als die Geschichte unserer Pilgerschaft. Darauf kommt Augustinus in der Erklärung zum Psalm 146 ausführlich zu sprechen. Der Psalm beginnt mit den Versen: «Gut ist es, unserem Gott zu singen; schön ist es, ihn zu loben. Der Herr baut Jerusalem wieder auf, er sammelt die Versprengten Israels». «Der Herr baut Jerusalem wieder auf». Jerusalem ist, wir wissen es schon, ‹die Stadt Gottes›, Ort der Gottschau: Davon ist der Prediger fasziniert.

Hören wir ihn: «Alle Bürger jenes Staates sind voller Freude bei der Schau Gottes in jener großen und weiten Stadt. Als Schau-Spiel (Augustinus spricht vom ‹spectaculum›) bietet sich ihnen Gott selbst dar. Was allerdings uns (die Menschenkinder) betrifft, so hat die Sünde bewirkt, nicht dort bleiben zu können, sondern uns in die Fremde zu begeben; durch die Sterblichkeit belastet sind wir auch nicht mehr in der Lage, dorthin zurückzukehren. Gott hat jedoch huldvoll auf unsere Pilgerschaft geschaut und jener, der Jerusalem aufbaut (Christus, der Erlöser) hilft dem gefallenen Teil (jener Gottesstadt) wieder auf. Wie hilft er dem gefallen Teil wieder auf? Indem er ‹die Versprengten Israels sammelt› (Vers 2). Es fiel nämlich ein Teil Israels und ward entfremdet. Auf diesen entfremdeten Teil blickte Gott gnädig und er ging denen nach, die ihn nicht suchten. Wie ging er ihnen nach? Wen sandte er in unsere Gefangenschaft? Er sandte den Erlöser, ... der Jerusalem wieder aufbaut» (146,4).

Bei der Lektüre der Psalmenerklärungen Augustins, die von unserer Pilgerschaft hier auf Erden handeln, begegnet man immer wieder Anspielungen auf die Parabel vom verlorenen Sohn. Wie sinnvoll! Dieses sogenannte ‹Evangelium in den Evangelien› aus Lk 15,11-32, illustriert es nicht aufs Schönste, worum es beim Thema ‹der Christ als Pilger in der Welt› eigentlich geht?

Ich denke, wenn wir uns beim Psalmengebet geistig in die Rolle dieser Figur aus der Parabel vom verlorenen Sohn versetzen, dann dürften wir daraus für unsere christliche Spiritualität einen denkbar großen Nutzen ziehen.

Dritter Vortrag

«Also bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe; diese drei;

am grössten unter ihn ist die liebe» (1 Kor 13,13)

Die Bedeutung von Glaube, Hoffnung und Liebe für den Vollzug der christlichen Pilgerschaft

(Leitfaden durch den Vortrag)

Die zentrale Stellung von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› in den Briefen des Apostels Paulus, speziell im Römerbrief; – Röm 5,1-5; – Augustins Schrift Über Glaube, Hoffnung und Liebe; – die Dichte der Vorkommen von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› im Psalmenkommentar Augustins; – These: Wer immer vom Christentum spricht, muss nach Augustins Überzeugung von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› sprechen, und zwar, wie er dieses im Neuen Testament beschrieben vorfindet.

Einschränkung des Stoffes und Bemerkung zur Methode der Psalmenexegese Augustins; – die wichtige Unterscheidung, die Augustinus zwischen einer ‹Glaubenswahrheit› und einem ‹Glaubensakt› machte; – der Vorrang des ‹Glaubensaktes› vor der ‹Glaubenswahrheit›; – zur Illustration: Auslegung von Psalm 31,1-2a: «Wohl dem, dessen Frevel vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zur Last legt» im Lichte von Röm 4,2: «Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet»; – das Thema der Auslegung: die Rechtfertigung des Sünders; – der Einwand der Heiden: Vorrang der guten Werke gegenüber dem Glauben; – Darlegung des Glaubens der Kirche am Beispiel Abrahams aus der Sicht sowohl des Römer- wie des Jakobusbriefes; – These: Nach dem Beispiel Abrahams, der seinen Sohn Isaak Gott zu opfern bereit war, rechtfertigt Augustinus zufolge nicht der Glaube, der die guten Werke ausschließt, sondern jener, der sie einschließt.

Die christliche Hoffnung: ein Wesensmerkmal der Pilgerschaft; – der Hoffnungsbegriff des Alten Testamentes, speziell der Psalmen; – nahezu keine, nur selten und geringfügig zur Sprache gebrachte Jenseitshoffnung im Alten Testament und in den Psalmen; – die aufschlussreichen Überschriften zu den einzelnen Psalmen im ‹Stundengebet› und der Wunsch der Kirche, sie im Lichte der neutestamentlichen Jenseitshoffnung zu beten; – der für das Verständnis der Hoffnung in der neutestamentlichen Verkündigung zentrale Text aus Röm 8,20-26 mit dem Kernsatz: «Denn an die Hoffnung ist unsere Rettung gebunden»; – Auslegung des Psalms 125 «Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende ...»; – der alttestamentlich historische Hintergrund des Psalms und seine neutestamentliche Auslegung bei Augustinus; – das unumgängliche Seufzen der Glieder des Leibes Christi als Glaubende und als Hoffende; – die Hoffnung als Anker des christlichen Glaubens; – These: Neben dem neuen, in der Taufe durch die Rechtfertigungsgnade erworbenen Status – dieser ist unter den ‹Erstlingsgaben des Geistes› zu verstehen – tragen wir noch die Überreste des Alten. Das volle und eigentliche Heil ist uns erst der Hoffnung nach gegeben.

Die ‹caritas› – ihre Bedeutung in den paulinischen und johanneischen Schriften des Neuen Testamentes; – Begriffliches zum Wort ‹Liebe› im Schrifttum Augustins; – der augustinische Imperativ: «Liebe, und tu (!) dann, was du willst»; – die Deutung der ‹caritas› als Wollen des Guten; – die Rolle des Willens dargestellt bei der Bekehrung Augustins; – die durch Gnade bewirkte Umwandlung des ‹fleischlichen Willens› in einen ‹geistigen›; – Augustins Deutung seiner Bekehrung als eine Art Liebeszene: «Spät hab’ ich dich geliebt ...»; – «Gib, was du forderst, und dann fordere, was du willst»; – zur Kritik am Gnaden- und Liebesbegriff Augustins; – ‹die Ordnung der Dinge› und das ‹Gewicht der Liebe›; – die ‹caritas› im Glaubensgehorsam Abrahams; – die Begierde als verkehrte Liebe; – These: Immer ist der eigentliche Gegenstand der ‹caritas› das Gute. Streng genommen haben alle drei göttlichen Tugenden nichts anderes zum Gegenstand. Die Psalmen als Gebete der Bibel laden uns ein, Gott, den Inbegriff des Guten, zu loben, zu preisen und ihm zu danken.

Vortrag

Augustinus war zweifelsohne einer der größten Schüler des Apostels Paulus – vielleicht wurde er von Martin Luther übertroffen. Es gibt keinen Brief des Apostels, in dem der Glaube, die Hoffnung und die Liebe – in der kirchlichen Tradition heißen sie die theologischen Tugenden – nicht eine dominierende Rolle spielten. Allein in dem von Augustinus so überaus bevorzugten Römerbrief nehmen die Ausführungen über den Glauben, der Gerechtigkeit und neues Leben schenkt, einen außergewöhnlich breiten Raum ein. Die Hoffnung und die Liebe sind gleichsam Früchte des Glaubens. Ebenso präzise wie sprachlich vollendet legt der Römerbrief den Zusammenhang von Glaube, Hoffnung und Liebe in den Versen 1-5 des 5. Kapitels dar.

«Gerecht gemacht aus Glauben haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung, mit der wir der Herrlichkeit Gottes entgegengehen. Mehr noch: wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist».

In dem zitierten Abschnitt geht es im Prinzip um die christliche Pilgerschaft, denn darin ist vom ‹Entgegengehen der Herrlichkeit Gottes› die Rede und, wie im zweiten Vortrag schon dargelegt, von der ‹Bedrängnis›, von der ‹Geduld› und von der ‹Bewährung› während des ‹Entgegengehens›.

Für ein christliches Verständnis von Glaube, Hoffnung und Liebe ist es wichtig zu sehen, dass es sich bei deren Vollzug primär nicht um Ethik, nicht um Sittlichkeit, sondern um die Beziehung des Menschen zu Gott, um das Stehen vor Gott handelt – daher auch der Sammelname ‹theologische Tugenden›. Als Augustinus im letzten Jahrzehnt seines Lebens ein Handbuch über das Christentum für Gebildete schrieb, gab er diesem Spätwerk den charakteristischen Titel: De fide, spe et caritate – Über Glaube, Hoffnung und Liebe. Er legte darin, dem apostolischen Glaubensbekenntnis folgend, die Grundwahrheiten des katholischen Glaubens dar, und zwar in der Tiefensicht, die er aus der Zusammenschau von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› im Neuen Testament schöpfte. Wer immer vom Christentum spricht, das war seine tiefste Überzeugung, muss vom ‹Glauben›, von der ‹Hoffnung› und von der ‹Liebe›, und zwar, wie er diese im Neuen Testament beschrieben vorfindet, reden.

Die Gewichtigkeit von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› in der Verkündigung des Apostels Paulus beherrscht unübersehbar das gesamte schriftstellerische Schaffen des Kirchenvaters und darum selbstredend auch seinen Psalmenkommentar. Das in der Fachwelt vielbegehrte Corpus Augustinianum Gissense, der EDV-Text aller Werke Augustins, meldet allein für den Teil dieses Kommentars 939 Treffer für ‹fides-Glaube›, 783 für ‹spes-Hoffnung› und 1185 für ‹amor/dilectio/caritas-Liebe›. Man wird im Hinblick auf diese ihre dichte Präsenz sagen können, ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› durchziehen die Erklärungen zu den Psalmen gleich einem roten Faden. Eine christliche Spiritualität augustinischer Prägung ist ohne sie unvorstellbar.

Ehe wir uns den einzelnen der drei göttlichen Tugenden zuwenden, sei darauf hingewiesen, dass dabei nur wenige Aspekte aus der Fülle der Gedanken Augustins zur Sprache gebracht werden können. Der Prediger geht methodisch in der Regel so vor, dass er jeweils ein Stichwort aus einem Psalm bzw. Psalmvers aufgreift, um an ihm eine Glaubensfrage mehr oder weniger umfassend zu erklären.

Was Augustins Lehre vom Glauben betrifft, so ist auf eine wichtige Unterscheidung hinzuweisen, die in der späteren Theologie vernachlässigt, wenn nicht gar vergessen wurde. Hören wir das Wort ‹Glauben› im Kontext christlicher Verkündigung, so denken wir zunächst und zumeist an bestimmte, im Credo der Kirche oder im Katechismus formulierte Glaubenssätze. Diese kannte Augustinus selbstverständlich auch, sie spielen aber in seinem Denken eine untergeordnete Rolle. Warum? Weil dies auch in der Bibel, speziell in den Psalmen und im Neuen Testament, weithin der Fall ist. Dort begegnen uns nur gelegentlich formelhafte Glaubenswahrheiten, sogenannte Kurzformeln des Glaubens wie «Herr ist Jesus» oder die Taufformel oder die Einsetzungsworte beim Abendmahl.

Nach den biblischen Schriften ist jedoch der ‹Glaube› eher eine Haltung, ein Vertrauen, eine Hingabe. Diesen Unterschied nahm Augustinus nicht nur deutlich wahr, er brachte ihn auch klar zur Sprache, indem er die formelhaften Wahrheiten, ‹das zu Glaubende› (‹fides quae creditur›), von den Akten des Vertrauens Gott gegenüber, ‹dem Glaubensakt› (‹fides qua creditur›), abhob. Zwar sind die Ersteren für die christliche Spiritualität nicht unwichtig, die Letzteren haben jedoch absoluten Vorrang.

Es versteht sich deshalb auch, dass, wie bereits erwähnt, Augustinus seinem Handbuch über den christlichen Glauben den Titel Über Glaube, Hoffnung und Liebe gab – geht es doch darin jeweils um Haltungen, um Vertrauen, um Hingabe. Und es braucht deshalb ebenso wenig wundernehmen, dass die ‹Glaubenswahrheiten› in den Psalmenerklärungen kaum eine Rolle spielen, umso mehr hingegen die ‹Glaubensakte›.

Zur Illustration möge ein aufschlussreicher Text genügen. Im Römerbrief argumentiert der Apostel bei der Darlegung seiner Rechtfertigungslehre mit dem Glauben Abrahams. «Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet», heißt es dort (4,2 = Gen 16,6). Die Auslegung zum Psalm 31, der mit den Sätzen beginnt «Wohl dem, dessen Frevel vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zur Last legt», bietet dem Prediger Gelegenheit, die Bedeutung des Glaubens für das Heil umfassend darzulegen.

Augustin sagt, bereits die einleitenden Verse dieses Psalms über ‹die vergebenen Frevel›, über ‹die bedeckte Sünde›, über ‹die beseitigte Last der Schuld› lüden den Beter ein, über den Glaubensakt als Bedingung des Heils nachzudenken, genauer über die Gnade der Rechtfertigung des Sünders, und zwar ohne vorausgegangene Verdienste. Allerdings sei dies keine Freibrief, über ein bewusstes Verbleiben in der Sünde (etwa im Sinne des Lutherwortes ‹sündige tapfer, aber glaube noch tapferer!›), denn im Vers 5 betet der Fromme: «Ich sagte: Ich will dem Herrn meine Frevel bekennen. Und du hast mir die Schuld vergeben» (ebd. 1)

Die Predigt zum Psalm 31 wurde in einem Gottesdienst gehalten, denn der Prediger erwähnt, er habe eigens im Blick auf dieses Thema der Rechtfertigungsgnade als Lesung das einschlägige Kapitel aus dem Römerbrief über den Glauben Abrahams vorlesen lassen, um gegen jene, die sich ihrer eigenen Gerechtigkeit rühmten, mit der Autorität des Apostels Paulus argumentieren zu können.

«Viele rühmen sich ihrer (guten) Werke», sagt er. Zahlreiche Heiden wollen im Hinblick auf ihre eigene Ethik vom christlichen Glauben nichts wissen. «Was kann Christus mir zu tun schon vorschreiben?», mag da einer einwenden. «Dass ich sittlich gut lebe? Das tu ich bereits: Wozu benötige ich Christus? Ich töte niemanden, begehe keinen Diebstahl, keinen Raub» usw. usf. Solch ein Mensch, bemerkt der Prediger, «hat zwar seinen Ruhm, aber nicht bei Gott» (ebd. 2).

«Nicht so unser Vater Abraham», fährt der Ausleger fort, denn er wurde, wie die Schrift sagt, aufgrund seines Glaubens gerechtfertigt. Eingedenk der Möglichkeit einer exzessiven Auslegung dieses ‹allein aufgrund des Glaubens› im Sinne einer sittlichen Libertinage erinnert Augustinus seine Zuhörer sogleich auch an den Jakobusbrief, in dem das Neue Testament seiner Auffassung nach mit aller Schärfe gegen solche Christen Front macht, die in ihrer Dreistigkeit die guten Werke als Bedingung des Heils verneinten.

«Jakobus nämlich», sagt Augustinus, «... empfahl die Werke Abrahams, dessen Glauben Paulus empfahl: und beide widersprechen sich nicht. Er (Jakobus) bezieht sich nämlich auf ein allen bestens bekanntes Werk Abrahams, das seiner Bereitschaft, seinen Sohn Gott zu opfern (Jak 2,21). Fürwahr», fügt er hinzu, «ein großes Werk, aber aufgrund des Glaubens. Ich lobe den Überbau des (guten) Werkes, aber ich sehe ebenso das Fundament des Glaubens. Ich lobe die Frucht des guten Werkes, aber im Glauben erkenne ich seine Wurzel. Hätte Abraham dies, ohne den rechten Glauben zu haben, getan, es hätte ihm nichts genützt, was immer jenes Werk gewesen sein mochte. Umgekehrt, hätte Abraham im Glauben den Gehorsam, seinen Sohn zu opfern, verweigert und dabei gesagt, ich tu es zwar nicht, glaube aber dennoch, Gott werde mich, den Befehl Verweigernden dennoch retten, so wäre sein Glaube ohne gute Werke tot gewesen, steril gleich einer ausgetrockneten Wurzel ohne Frucht» (ebd. 3).

Das Dargelegte mag genügen, um zu sehen, wie der Theologe und Seelsorger Augustinus jede Chance wahrnahm, um den Christen zu vermitteln, worauf es im ‹Glauben› der Kirche, der von ihm über alles geschätzten ‹catholica›, die im Besitz aller Heilswahrheiten ist und keine vernachlässigen darf, ankommt.

Kommen wir zur christlichen ‹Hoffnung›. Sie ist geradezu ein Wesensmerkmal der Pilgerschaft, denn auf ein Ziel hin ist jedwede Hoffnung ausgerichtet. Sehr oft ergänzen sich beide Begriffe, denn keine christliche Pilgerschaft ohne Hoffnung auf das gesteckte Ziel wie auch jede Pilgerreise von der Hoffnung auf dieses Ziel unternommen wird.

Es sei nochmals daran erinnert, dass die neutestamentliche Hoffnung als theologische Tugend mit irdischen Gütern bzw. Zielen so gut wie nichts zu tun hat. In den Psalmen des Alten Testamentes wird zwar Gott selbst in der Regel als Gegenstand der Hoffnung genannt, aber diese Hoffnung bezieht sich konkret nicht selten auf seinen Beistand in den mannigfachen Bedrängnissen des Daseins. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Im Psalm 60 mit der Überschrift im Brevier ‹Gebet eines Verbannten› fleht der Beter «Gott höre mein Flehen, achte auf mein Beten! ... Du bist meine Zuflucht (= Hoffnung), ein fester Turm gegen die Feinde» (1.4.). Also, der Beter sucht angesichts des Feindes Schutz und Zuflucht bei Gott, um aus der konkreten Not entrinnen zu können. «Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott setzt», heißt es in Psalm 145,5. Der Text fährt aber dann fort, indem er wieder nur Nöte und Bedrängnisse des Daseins aufzählt, aus denen er Hilfe erhofft: «Der Herr öffnet den Blinden die Augen ... Der Herr beschützt die Fremden und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht» und Ähnliches mehr.

In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass die Schriften des Alten Testamentes inklusive der Psalmen ein Leben nach dem Tod kaum kennen. Erst in den Jahrhunderten unmittelbar vor der neutestamentlichen Zeit schafft sich der Gedanke an ein Fortleben in einem ‹Himmel› genannten Jenseits allmählich Bahn. Mit der Verkündigung der Auferstehungsbotschaft wird die Hoffnung zu jener typisch christlich-theologischen Tugend, die alle anderen Hoffnungen auf irdische Güter in den Schatten stellt.

Wirft man einen Blick auf die Überschriften der einzelnen Psalmen im Brevier, so artikulieren diese z.B. gleich in der ersten Vesper des Sonntags der ersten Woche Themen wie ‹Bitte um Bewahrung› zum Psalm 140 oder ‹Hilferuf in schwerer Bedrängnis› zum Psalm 141. Die Kirche wünscht aber, dass wir diese Psalmen möglichst in der Optik des Neuen Testamentes beten. Aus diesem Grunde fügt sie jeweils im Brevier unmittelbar unter der Überschrift einen charakteristischen Satz entweder aus dem Neuen Testament oder aus den Werken eines frühchristlichen Schriftstellers hinzu, der als eine Art Leitgedanke die Aufmerksamkeit des Beters auf die neutestamentliche Verkündigung hin auszurichten helfen soll. Dieses Verfahren entspricht ganz und gar der von Augustinus praktizierten Weisung, die Psalmen zu verstehen und zu beten.

Wir haben bereits zwei zentrale Texte der Hoffnung aus den Briefen des Apostels Paulus kennen gelernt – Röm 5,1-5 sowie 2 Kor 5,1-8 –, ein dritter darf nicht unerwähnt bleiben.

Im 8. Kapitel seines Römerbriefes kommt der Apostel auf die umfassende, auch den Kosmos miteinbeziehende Hoffnung auf eine neue Schöpfung zu sprechen. «Die Schöpfung», so lesen wir dort, «ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; zugleich gab er ihr Hoffnung: auch die Schöpfung soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Mehr noch: Obwohl wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen auch wir in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn an die Hoffnung ist unsere Rettung gebunden. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung; wie kann man auf etwas hoffen, was man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus und warten in Geduld» (20-26).

Es nimmt nicht wunder, wenn man in den Auslegungen von Psalmentexten, in denen von der Hoffnung die Rede ist, einigen dieser Sätze auf Schritt und Tritt begegnet. Begnügen wir uns mit einem Blick in die Auslegung des Psalms 125 mit dem Titel im Brevier ‹Heimkehr aus der Gefangenschaft›, dessen erste drei Verse lauten: «Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel. Da sagte man unter den anderen Völkern: ‹Der Herr hat Großes an ihnen getan›».

Der historische Hintergrund des Psalms ist klar: freudige Rückerinnerung an die Heimkehr aus dem Exil. Augustinus hingegen erblickt in den Gefangenen die noch hier auf Erden pilgernden Glieder des Leibes Christi, die dessen Haupt Christus durch seine Menschwerdung und sein Erlöserleiden befreite (en. Ps. 125,1). Wie aber geriet der Mensch überhaupt in die Gefangenschaft, fragt er und er findet die gesuchte Antwort in Röm 8,20-25. Paulus bezieht die Knechtschaft auch auf die Gläubigen, also ebenso auf sich selbst wie auf alle Gerechtfertigten, ‹die bereits die Erstlingsgaben des Geistes empfangen haben›.

«Demnach», so fährt der Prediger fort, «‹seufzen wir selbst in unserem Inneren, während wir auf die Annahme an Kindesstatt und auf die Erlösung unseres Leibes warten›. Es seufzte also auch er (Paulus) und es seufzen (mit ihm) alle Glaubenden ... Wo seufzen sie? In ihrem noch sterblichen Zustand. (Und) welche Erlösung erwarten sie noch? Die ihres Leibes, jene Erlösung, (so präzisiert er) die sich am Leib des von den Toten erstandenen und in den Himmel aufgestiegenen Herrn bereits ereignet hat. Ehe dies (alles auch) uns zuteil wird, ist es unumgänglich, dass wir (wie die Schöpfung und mit der Schöpfung) seufzen – auch als Gläubige, als Hoffende».

Im Folgenden wehrt der Prediger den Einwand ab, wenn Erlöste immer noch seufzten, was nützte einem dann das Evangelium von einer Erlösung? Ist, wer seufzt, schon heil?, fragt er. Ist ein solcher nicht vielmehr schwach und krank? Richtig, antwortet Augustinus, denn es heißt ja an der zitierten Stelle des Römerbriefes: «Unsere Rettung ist an die Hoffnung gebunden. Eine Hoffnung aber, die schon erfüllt ist, ist keine Hoffnung. Wie kann man etwas erhoffen, das man bereits sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus und warten in Geduld» (en. Ps. 125,2).

Das Gesagte mag genügen, um zu sehen, was die theologische Tugend der Hoffnung für unser Selbstverständnis als Christen bedeutet. Neben dem neuen, in der Taufe durch die Rechtfertigungsgnade erworbenen Status – dieser ist unter den ‹Erstlingsgaben des Geistes› zu verstehen – tragen wir noch die Überreste des Alten. Das volle und eigentliche Heil ist uns erst der Hoffnung nach gegeben. «In spe, nondum in re – der Hoffnung, noch nicht der Sache nach» heißt es wiederholt beim hl. Augustinus.

Auch was die dritte der theologischen Tugenden, die christliche ‹caritas›, betrifft, war Augustinus ebenfalls ein treuer Schüler des Apostels Paulus, aber auch des Verfassers bzw. der Verfasser der sogenannten johanneischen Schriften, des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe. Im Römerbrief konnte er den für die Auslegung des Alten Testamentes wegweisenden Satz lesen: «Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes» (13,10). Und sowohl seine Theologie wie auch seine Spiritualität waren geprägt von der Summe der johanneischen Verkündigung: «Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm» (1 Joh 4,16).

Ehe wir uns der Rolle der ‹caritas› in den Erklärungen zu den Psalmen zuwenden, ist zu klären, was der Kirchenvater Augustinus darunter überhaupt verstand. Im Latein stehen für das Wort ‹Liebe› drei Wörter zur Verfügung: ‹amor› (1328 Belege im CAG) steht eher für die begehrende, sinnliche, ‹amouröse› Liebe; ‹dilectio› (1602 Belege) und ‹caritas› (4835 Belege) stehen für das neutestamentliche Liebesgebot. Die Anzahl der Belege (im Psalmenkommentar: 180 für ‹amor›, 203 für ‹dilectio› und 802 für ‹caritas›) spricht bereits eine deutliche Sprache.

Unter den vielzitierten, zu geflügelten Worten gewordenen Sätzen Augustins über die Liebe dürfte der Imperativ «Dilige, et quod uis fac! – Liebe, und tu (!) dann, was du willst!» zu den bekanntesten, aber auch zu den missverstandensten zählen. Dabei deutet die Verbindung der Liebe mit dem Wollen und umgekehrt die Verbindung des Wollens mit der Liebe im zitierten Satz bereits an, worum es da letztendlich geht. Zielt der ‹Glaube› auf das Erkennen und Verstehen ab, so die ‹Liebe› auf das Wollen. Sittlichkeit hat es mit der Gesinnung zu tun und die Gesinnung ist eine Sache des Willens. Die ‹caritas› ist nicht Neigung, Sympathie, Gewogenheit, Begehren, Lust und dergleichen mehr, sondern schlicht und einfach Wollen – Wollen des Guten bzw. Wille zum Guten.

Diese Deutung der ‹caritas› außerhalb der Sphäre der puren Emotionalität und der Affekte, also der seelischen Angespanntheit, mag aufs Erste überraschen, gar befremden. Aber ein Blick in das Neue Testamente mit der charakteristischen Einbeziehung auch der Feinde in das Liebesgebot – «Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen!» (Lk 6,27) – zeigt bereits die Richtigkeit der Zuordnung und Bindung der ‹caritas› an den Willen. Übrigens, wie soll man Feinde emotional lieben?

In seinen Confessiones schildert Augustinus ausführlich die Rolle des Willens bei seiner Bekehrung in Mailand. Er hörte dort die Predigten des Ambrosius und auch der Umgang mit einem christlichen Freundeskreis trug viel dazu bei, dass er sich von der Wahrheit der christlichen Verkündigung überzeugen ließ. Was ihm aber ein schier unüberwindliches Hindernis zu sein schien, war die Schwäche seines Willens. Es mangelten ihm die nötigen Willensimpulse.

Christ sein, dies legt er an Hand der Ereignisse von damals dar, ist mehr als Einsicht in die Wahrheit des Glaubens, mehr auch als natürliche Sittlichkeit. Christ sein ist Gnade, und diese wird durch die ‹caritas› vermittelt, die ‹durch den Heiligen Geist in die Herzen der Gläubigen gegossen wird›, wie er im Römerbrief (Röm 5,5) lesen konnte. Erst die mit der Gnade identische ‹caritas› war es, die seinen durch die Sünde geschwächten und geknechteten Willen sozusagen besiegte.

Aus diesem Grunde stellte er den Vorgang der Bekehrung selbst in zwei Stufen dar: Während auf der kognitiven, der die Glaubenserkenntnis betreffenden Stufe die Hindernisse bereits beseitigt waren, musste auf der Stufe des Willensvermögens einiges erst noch in Gang gesetzt werden.

Der noch mit sich ringende Augustinus vernahm um diese Zeit die Bekehrungsgeschichte seines Landsmannes Viktorinus und die des Mönchsvaters Antonius und dies schon deuten die Confessiones als Gnade, denn während des Zuhörens entbrannte der Hörer vor Eifer, es den beiden nachzutun. Die Gnade, so schreibt er, verwandelte seinen ‹alten fleischlichen Willen› zu einem ‹neuen geistigen›. Sie ist es, welche die Ketten des niedergehaltenen Willens allmählich, gelegentlich wie bei der Bekehrung des Apostels Paulus auch plötzlich, lockert.

Diese Umwandlung leistet nach Augustinus nicht der Mensch, sondern Gott. Wie aber Gott dies leistet, das ist das erregende Thema der Confessiones. Denn Augustinus, so lesen wir dort, begab sich in den Garten, wo er die Schwäche seines Willens beklagte: «Wie lange noch, wie lange morgen und morgen? Warum nicht jetzt? Warum soll nicht diese Stunde das Ende meiner Schmach sein?» Und dann vernahm er die Stimme: «Nimm und lies!» Licht erfüllte sein Herz und alle Finsternis war wie zerstoben (conf. 8, 28-30).

Viele Jahre später, als Augustinus seine Bekehrung aufzeichnete, beschrieb er diese als eine Art Liebeszene mit den lyrischen Sätzen: «Spät hab ich dich geliebt, du Schönheit, so alt und doch so neu, spät hab’ ich dich geliebt. ... Du hast gerufen und meine Taubheit zerrissen; du hast geblitzt ... und meine Blindheit in die Flucht geschlagen; du hast geduftet, und ich habe deinen Hauch eingeatmet; ... du hast mich angerührt und da bin ich entbrannt nach deinem Frieden» (ebd. 10,38).

Bereits ein Kapitel nach diesem ergreifenden Text formuliert Augustinus jenen Satz, der seine Gnadenlehre auf den Punkt brachte: «Gib, was du forderst, und dann fordere, was du willst». Was soll er geben? Die Liebe, lautet die Antwort, denn sie ist stets mit der Gnade gemeint, die Liebe, welche die Einheit zwischen Gott und den Menschen herstellt. Durch sie «werden wir zur Einheit zurückgeführt, von der wir in die Vielheit uns verströmten», heißt es da weiter. «Denn weniger liebt dich, wer mit dir noch ein anderes liebt, das er nicht deinetwegen liebt. O Liebe, die du immer glühst und nie erlischst, o Liebe, du mein Gott, entzünde mich!» (ebd. 10,40).

Der soeben zitierte Satz wirft ein helles Licht auf die Kritik an der Lehre Augustins über die mit der Gnade identische Liebe. Nicht selten kann man hören, sie vergewaltige die Natur des Menschen. Dem ist nicht so, denn die Gnade als Liebe bzw. die Liebe als Gnade beeinträchtigt andere humane Akte der Liebe mitnichten! Im Gegenteil, sie veredelt jede Art humaner Liebe bis in die Erotik und Sexualität hinein, vorausgesetzt, dass deren Vollzüge ‹die Ordnung der Dinge› selbst (den von Augustin viel gepriesenen ‹ordo rerum›) nicht verletzen. ‹Die Ordnung der Dinge› hat ihren Ursprung in Gott und beruht auf seinem Schöpferwillen.

Im letzten Buch der Confessiones erörtert Augustinus diesen geordneten Aufbau des Erschaffenen: «Unsere Ruhe ist unser Ort (innerhalb dieser Ordnung). Die Liebe erhebt uns dorthin ...». Es folgt dann der viel zitierte Text: «Ein Körper strebt durch sein Gewicht nach seinem Ort. Es strebt das Schwergewicht (jedwedes Erschaffenen) nicht nur nach unten, sondern auch nach seinem Ruhepunkt. Das Feuer strebt nach oben, der Stein nach unten. Sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen nach ihrem Ruhepunkt. Öl, auf Wasser gegossen, schwimmt auf dem Wasser, Wasser, auf Öl gegossen, sinkt unters Öl: Sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen ihren Ruhepunkt. Was nicht in seiner Ordnung ist, ist ruhelos: Es kommt in seine Ordnung und ruht. Mein Gewicht ist meine Liebe; von ihr bin ich gezogen, wo immer ich hingezogen werde. Durch deine Gabe werden wir entzündet und wir werden nach oben gehoben; wir entbrennen und setzen uns in Bewegung. ‹Wir steigen die Stufen in unserem Herzen hinan und wir singen den Stufengesang› (Ps 83,6). Von deinem Feuer, von deinem guten Feuer werden wir entzündet und wir setzen uns in Bewegung hinauf ‹zum Frieden Jerusalems› (ebd. 119,1); denn ‹ich habe mich gefreut an denen, die zu mir sprechen: Ins Haus des Herrn wollen wir ziehen› (ebd. 119,6). Dort wird der gute Wille uns einen Platz anweisen, dass wir nichts anderes wollen, als dort verharren in Ewigkeit› (Ps 60,8)».

In aller Kürze sei an dem bei der Darstellung des Glaubens schon herangezogenen Psalm 31 die Bedeutung auch der christlichen Liebe in der Auslegung Augustins aufgezeigt. Immer noch steht Abrahams Bereitschaft, Isaak hinzuopfern, im Mittelpunkt dieser Auslegung. Aber nun präzisiert Augustin die dominierende Rolle der Liebe in den Handlungen, die unser Heil betreffen. Abrahams Gesinnung war geprägt von der ‹caritas›. Sie ist die Norm allen sittlichen Handelns. Der Prediger zitiert Röm 13,8-10: «Bleibt niemand etwas schuldig außer der Liebe. Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: ‹Du sollst nicht ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, nicht begehren› (Ex 20,13f.) und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst› (Lev 19,18). Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes» .

Das Christ sein steht und fällt mit dem christlichen Liebesgebot, das sowohl die Glaubenden wie auch die Hoffenden in die Pflicht nimmt. Der Prediger schildert, um dies zu illustrieren, einen Menschen, den nicht die ‹caritas›, sondern die ‹Begierde›, die verkehrte Liebe, zum Handeln anleitet. «Vergehen, Ehebrüche, Verbrechen, Morde, Ausschweifungen aller Art, wirkt dies nicht auch eine Art Liebe?», fragt er. Und er antwortet: «Läutere also deine Liebe; Wasser, das sonst in die Kloake fließt, leite in den Garten (der Frucht bringt) ... Heißt man euch etwa, nichts zu lieben? Das sei ferne! Träge würdet ihr werden, tot, verachtenswert und elend, wenn ihr nichts liebtet. Liebt, aber achtet darauf, was ihr liebt» (en. Ps. 31,5).

Immer ist somit der eigentliche Gegenstand der ‹caritas›, wie eingangs zu diesem Abschnitt bereits dargelegt, das Gute. Ja, streng genommen haben alle drei göttlichen Tugenden nichts anderes zum Gegenstand als das Gute. Die Psalmen als Gebete der Bibel laden uns ein, Gott, den Inbegriff des Guten, zu loben, zu preisen und ihm zu danken.

Augustinus erweitert und vertieft diesen Lobpreis in seinen Auslegungen, indem er die Psalmen nicht nur auf die neutestamentliche Verkündigung hin zu lesen, zu verstehen lehrt, sondern den christlichen Beter zugleich anhält, die Psalmen bewusst als der ganze, aus Haupt und Gliedern bestehende Christus, der hier auf Erden pilgert, zu beten.

Der Psalter endet bekanntlich mit einem hymnischen Text, der gleich rauschenden Akkorden aus den verschiedenen Instrumenten eines Orchesters Himmel und Erde zum Lobpreis Gottes aufruft. Augustinus erblickt auch in diesem Orchester die Kirche und er beschließt seinen Kommentar mit dem in jeder Hinsicht vollendeten Satz: «Ihr seid die Posaune, die Harfe, die Zither, die Pauke, das Saitenspiel, der Chor, die Flöte und die Zimbel, die alle gar herrlich klingen, weil sie zusammenklingen» (ebd. 150,8).

DIE BEDEUTUNG DER BIBELAUSLEGUNG FÜR DIE PASTORAL NACH DER LEHRE DES HL. AUGUSTINUS
Konventsansprache am 3.2.2004 von Cornelius Petrus Mayer OSA

Ich hatte bereits im Advent 2002 zum Beginn des Bibeljahres eine Ansprache für den Konvent im Augustinerkloster Würzburg vorbereitet, welche die Rolle der Bibel und ihre Auslegung in der Theologie und in der Pastoral unseres Ordensvaters zum Thema hatte. Ich kam damals nicht zum Zuge, denke aber, das Thema ist nach wie vor aktuell.

Zunächst Folgendes: Augustinus war noch Priester, als im Jahr 393 in der Basilika Pacis zu Hippo eine Generalsynode der Gesamtprovinz Afrika stattfand. Die anwesenden Bischöfe beauftragten dennoch ihn mit einem Referat.

Augustinus nennt es eine ‹disputatio›, also eine Rede, die der Diskussion zugrunde lag, und er wählte ein Thema, dessen Inhalt sich auf die vornehmste Aufgabe der Bischöfe, nämlich auf die Glaubensverkündigung, bezog.

Zugleich sollte das Verkündete so erklärt werden, dass das Kirchenvolk auch verstand, was es glaubte, um, durch die Predigt informiert, den Irrlehren und Spaltungen widerstehen zu können.

Augustin hat dieses Referat – offensichtlich auf Drängen einiger Bischöfe – unter dem Titel Glaube und Bekenntnis veröffentlicht.

Gegenstand der Verkündigung war natürlich die Bibel. Sie las man in den Gottesdiensten, sie erklärte man in den Predigten und auch im katechetischen Unterricht.

Indes, was alles Heilige Schrift ist, lag bis zu dieser Synode von Hippo nicht fest. Es fällt nicht schwer, in der Person Augustins jene Kraft zu sehen, welche die auf der Synode anwesenden Bischöfe von der Notwendigkeit einer Begrenzung des Kanons der Heiligen Schrift überzeugte. Der Beschluss wurde gefasst und auf zwei weiteren Synoden, auf denen in Karthago 397 und 419, auf denen Augustin bereits als Bischof federführend zugegen war, bestätigt. So viel zum Kanon der Bibel.

Kaum hatte Augustinus die Leitung der Diözese von Hippo in den Jahren 395/396 übernommen, als er seine wirkungsgeschichtlich vielleicht bedeutsamste Schrift zu verfassen sich anschickte. Er gab ihr den Titel Die christliche Wissenschaft. Darin geht es um die rechte Auslegung der biblischen Texte und es überrascht nicht, dass gerade diese Schrift durch das ganze Mittelalter hindurch als das Lehrbuch der westlichen Christenheit galt.

Was hat den jungen Bischof zur Abfassung dieser 4 Bücher umfassenden Schrift bewogen? Die Antwort lautet einfach: Die Sorge um das rechte Verstehen der biblischen Texte als Gottes Wort.

Wohlgemerkt, Augustinus hat nicht wie jener legendäre Kalif, der die Bibliothek von Alexandrien anzünden ließ, weil alles Wahre im Koran stünde, gesagt, es gäbe nur eine, nämlich die christliche Wissenschaft. Er wollte jedoch dem Studium der Bibel den Rang einer Wissenschaft einräumen, und zwar in aller Deutlichkeit.

Im Vorwort zu diesem Werk erfahren wir, dass es Christen gab, die einer charismatischen Bibelauslegung das Wort redeten, sich dabei auf den hl. Antonius, den Wüstenvater, beriefen und eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel radikal ablehnten. Sie klammerten sich an innere, letztlich freilich unkontrollierbare Eingebungen. Augustinus begegnet ihnen mit sachlichen, manchmal allerdings auch mit Ironie gewürzten Argumenten.

Zwar könnte uns Gott sein Wort prinzipiell durch Engel rein innerlich vermitteln, aus der bekannten, durch die Sünde beeinträchtigten Heilsordnung erfolgte jedoch die Offenbarung mittels einer Kette von Ereignissen, wovon uns die Bibel, sich dabei der Sprache bedienend, kündet.

Wie man mit der Sprache der Bibel umgeht, dafür gibt es Regeln, Vorschriften für jedwede Textbehandlung, wofür die Wissenschaften, die Grammatik, die Kunst der Rede, die Schlüssigkeit des Argumentierens usw. usf. zuständig sind.

Sind diese Regeln ebenso zuverlässig wie die Bibel selbst? Augustinus beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja. Denn Erkenntnisse sind Einsichten in Sachverhalte, die Geltung beanspruchen. Da Gott nicht allein Quelle der Wahrheit der Bibel, sondern auch die des Wissens ist, kann es keinen Grund für eine Ausklammerung der Wissenschaften bei der Beschäftigung mit den biblischen Texten geben.

Aufgabe der christlichen Wissenschaft ist somit das Lehren und Lernen von Regeln, die uns das rechte Lesen und Verstehen der Bibel ermöglichen. Wer diese Regeln anzuwenden und mit den darin angegebenen Hilfsmitteln umzugehen versteht, der wird, so Augustinus, darin die Wege erkennen, die ihn über die Wahrheit der Heiligen Schrift zu Gott führen.

Ich kann die Mitbrüder, die mit der Verkündigung betraut sind, nur ermuntern, wenigstens das erste Buch von der christlichen Wissenschaft zu lesen und sich das Gelesene anzueignen. In einer sehr einfachen, aber doch eindringlichen Sprache legt Augustinus darin die Prinzipien seiner Hermeneutik, die obersten Normen seiner Bibelauslegung dar, die, wie schon erwähnt, nicht allein für den theologischen, sondern für den geisteswissenschaftlichen Unterricht der folgenden Jahrhunderte wegweisend geworden sind.

Da steht gleich auf den ersten Seiten der lapidare Satz: «Jedwede Wissenschaft hat es mit Sachen und mit Zeichen zu tun; die Sachen werden durch die Zeichen erlernt». Also, die Sachen stehen im Vordergrund. Die Zeichen sind um der Sachen willen da und nicht umgekehrt.

Natürlich sind die Sachen nicht gleichwertig, denn die einen sind zum Gebrauch da, die anderen zum Genuss – zum Gebrauch jene, die vergehen, zum Genuss jene, die bleiben. Die zu gebrauchenden sollen uns zur Erlangung der zu genießenden verhelfen.

Im strikten Sinn des Wortes ist Gott allein, und zwar der dreieinige, Gegenstand des Genusses, und es leuchtet auch ein, weshalb: weil er als der Unveränderliche vor allem Veränderlichen den Vorzug verdient.

Wie aber kommt der sterbliche Mensch – bei Augustinus immer auch der Sünder! – zum Genuss Gottes? Das ist die Frage aller Fragen. Und nun bringt Augustinus die Bibel ins Spiel, denn er beantwortet sie mit dem Heilshandeln des dreieinigen Gottes in der Zeit, das sich als Offenbarung artikuliert und als ‹Wort Gottes› im Kanon heiliger Schriften niederschlägt.

Dreh- und Angelpunkt aller Offenbarung ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Die Schriften der Bibel sind von Christen auf diesen, im Erlösungswerk Christi gipfelnden Höhepunkt des Heilshandelns Gottes in der Zeit zu lesen und zu verstehen und darum auch auszulegen.

Die Sache der Bibel ist direkt der dreieinige Gott und indirekt dessen Heilshandeln in der Zeit. Es ist wichtig zu sehen, dass in diesem Handeln er die Regie führt und dass er sich gerade darin als der Erbarmende, als der Liebende erweist. Deshalb kommt dem Liebesgebot bei der Auslegung der Heiligen Schrift ebenfalls eine zentrale Stellung zu.

Freilich spielen bei der Schriftauslegung auch der Glaube und die Hoffnung eine nicht geringe Rolle, aber sie sind nicht deren Ziel. Weil hingegen die Liebe ‹Ziel und Fülle des Gesetzes› ist, erscheint eine falsche Auslegung – sofern sie die Liebe nicht hintansetzt, sondern fördert – nicht als verkehrt, lehrt Augustinus, wenngleich er hinzufügt, eine falsche Auslegung, wird sie als solche erkannt, solle tunlichst verbessert werden.

Wie dies zu bewerkstelligen ist, das lehren die Bücher 2 und 3, die von den Zeichen handeln, auf die ich hier nicht mehr eingehen kann, obgleich sie es sind, die uns den rechten Umgang mit der Bibel lehren.

Nur so viel: Alles in der Welt kann, sobald es uns auf etwas anderes aufmerksam macht, zu einem Zeichen werden. Weil Zeichen prinzipiell mehrdeutig sein können, deshalb ist ihre gründliche Kenntnis so ungemein wichtig. Die christliche Wissenschaft kann und darf auf sie nicht verzichten.

Ich habe eingangs jene Christen erwähnt, die von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel nichts wissen wollten. Sie gab es in der Kirche offensichtlich schon immer. Mit seiner Schrift von der christlichen Wissenschaft hat Augustinus sie mit guten Argumenten in die Schranken gewiesen.

Es stünde uns Augustinern gut an, wenn wir uns in puncto Bibellektüre – jeder nach seiner Fähigkeit – einiges von dem beherzigen würden, was Augustinus nicht nur von seinem Klerus, sondern von allen mit der Verkündigung in der Kirche Beauftragen erwartete, für die er jenes fundamentale Werk schrieb.

Dass Augustinus damit neben den wissenschaftlichen auch pastorale Absichten verfolgte, dies zeigen seine Confessiones, die er unmittelbar nach Abfassung von den ersten drei Büchern über Die christliche Wissenschaft zu schreiben begann.

Gott allein, so lehrt Augustinus, kann nicht Zeichen sein. Umgekehrt kann und soll alles außer ihm zum Zeichen auf ihn hin werden. Dies illustrieren die Confessiones – und auch die Rolle, welche die Bibel mit ihrem Arsenal von Zeichen bis zur Bekehrung Augustins gespielt hatte und danach immer noch spielte. Letzteres bezeugt beinahe jede Seite der Confessiones, bei deren Lektüre der Leser oft nicht weiß, ob ihr Verfasser sich seines eigenen Wortschatzes oder des Wortschatzes der Bibel bedient.

Die Faszination, die von den Confessiones ausgeht, dürfte ihren Grund nicht zuletzt in diesem ihren erlesenen biblischen Wortschatz haben. Wir könnten uns also kaum einen besseren Lehrmeister für unsere Bibellektüre wünschen als unseren Ordensvater Augustinus.

Vortrag im Haus der Begegnung, Ulm, 13. Oktober 2003. Von Christof Müller