ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Tempus vestigium aeternitatis
Augustins Zeitauslegung im 11. Buch seiner Confessiones
Von Professor Dr. Cornelius Petrus Mayer OSA
(Münster, 24. Januar 2005)
Augustins Confessiones sind eine Autobiographie von höchst eigenar­tigem Inhalt und von nicht weniger eigenartiger Form. Trotzdem sind ihre Struktur und ihr Aufbau klar: Ihr Verfasser erzählt in den ersten 9 Büchern aus seinem Leben von der Kindheit bis zum Tode seiner Mut­ter, indem er zugleich seine geistige Entwicklung bis zur Bekehrung im 32. Lebensjahr darstellt. Er überspringt dann rund ein Jahrzehnt und re­flektiert im 10. Buch über seine gegenwärtigen spirituellen Erfahrungen. In den Büchern 11-13 verlässt er das Genre des Biographischen über­haupt und wendet sich der Deutung des biblischen Schöpfungsberichtes zu.
Dieser Wechsel der literarischen Gattung in ein und demselben Werk gab der Wissenschaft viele Rätsel auf. Es gibt Dutzende von Versuchen, die Frage nach der Einheit der Confessiones zu beantworten. Mir scheint die von Erich Feldmann vorgelegte die schlüssigste zu sein. Da­nach gilt es zu bedenken, dass Augustin 9 Jahre lang Manichäer war, und deren antikirchliche Polemik allem voran den biblischen Schöp­fungsbericht zum Ziel hatte. Gerade weil es den Manichäern dem jun­gen Augustin gegenüber gelang, den biblischen Schöpfungsbericht mit seinem Gottesbild zu diffamieren, sah der Verfasser der Confessiones sich gezwungen, nicht nur zu zeigen, wie er nach langen Irrwegen zu Gott zurückfand und wie er nunmehr zu seinem Gott stand, sondern pa­radigmatisch am biblischen Schöpfungsbericht auch aufzuzeigen, wie sich dieser Gott der Offenbarung dem Menschen zu erkennen gibt[1].
Gott nämlich ist der eigentliche Gegenstand, um den das augustinische Denken kreist. Augustin hat dies in den bald nach seiner Bekehrung ab­gefassten Alleingesprächen in dem vielzitierten Satz gleichsam auf die Formel gebracht: «Gott und die Seele will ich erkennen»[2]. Die zehn Jahre später entstandenen Confessiones illustrieren diesen Satz auf ihre Weise. Denn Augustin hatte sich inzwischen geistig insofern weiterent­wickelt, als er sich durch ein intensiviertes Bibelstudium speziell durch das der Briefe des Apostels Paulus die Gnadenlehre des Römerbriefes zu eigen machte. Die Confessiones sind überhaupt so etwas wie ein Ho­hes Lied auf die Gnade[3].
Indes, der Bischof von Hippo verstand die Gnade nie so, als wirke diese an den natürlichen geistigen Fähigkeiten des Menschen vorbei. Zeit sei­nes Lebens teilte er die Überzeugung, der Mensch könne aufgrund sei­ner Geistausstattung zur Erkenntnis und Erfahrung Gottes gelangen. Nur – und das betonte er zunehmend – reichten diese Fähigkeiten allein, d.h. ohne Hilfe der Gnade, zur Erlangung des Heils nicht aus. Einer na­türlichen Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung, das wusste der Kir­chenvater sehr wohl, rühmten sich auch Philosophen wie z.B. die Neu­platoniker, denen er, wie wir gleich sehen werden, die Voraussetzungen seiner eigenen Lehre von der Erkenntnis und der Erfahrung Gottes auf dem Weg philosophischer Reflexionen verdankte. Aus der Bedeutung der christlichen Gnadenlehre für das Heil folgerte Augustin nicht, der Christ dürfe die natürlichen Fähigkeiten, Gott zu erkennen und zu erfah­ren, vernachlässigen oder gar verschmähen. Im Gegenteil, der Gläubige, zumal der gebildete, solle sich bemühen, diese ihm von seinem Schöp­fergott verliehenen Fähigkeiten in den ihm von seinem Erlösergott über die Offenbarung gewiesenen Heilsweg zu integrieren. Wie solche In­tegration vorgenommen werden könne, das entfaltet Augustin muster­gültig im 11. Buch der Confessiones, in dem er über das Wesen der Zeit philosophisch und theologisch reflektiert.
Werfen wir, ehe wir uns jenem Buch zuwenden, einen Blick auf ein drittes Werk, das Augustin noch vor Inangriffnahme seiner Confessiones zu schreiben begann. Eduard Norden nannte es in seiner großen Unter­suchung über die antike Kunstprosa ein brillantes Opus[4]. Der Bischof gab ihm den Titel De doctrina christiana – zu deutsch: Der christliche Unterricht bzw. Die christliche Unterweisung oder auch Wissenschaft[5].
Augustin beginnt seine Erörterung mit der lapidaren Feststellung: «Jed­weder Unterricht hat entweder Sachen (res) oder Zeichen (signa) zum Gegenstand. Die Sachen werden jedoch durch die Zeichen erlernt»[6]. Freilich sind Zeichen ebenfalls Sachen, aber ungleich zu dem, was sie bezeichnen. Neben den natürlichen Zeichen wie z.B. dem Rauch, der als Sache und Zeichen zugleich eine andere Sache, nämlich Feuer an­zeigt, gibt es das Heer konventioneller Zeichen wie z.B. die Sprache. Löwe als Wort ist etwas anderes als das damit bezeichnete Tier. Vom Zeichen heißt es deshalb definitorisch, es sei «eine Sache, die außer ih­rer sinnenfälligen Erscheinung noch etwas anderes gedanklich nahe legt»[7]. Nach der Lehre Augustins ist den Zeichen eine erkenntnistheo­retische Eigentümlichkeit zu eigen, der zufolge man die bezeichnete Sache stets schon kennen muss, wenn man deren Zeichen erkennen will[8].
Das Zeichen und die von ihm bezeichnete Sache werden in der antiken Philosophie als Begriffspaar ‹signum-res› zu einem sogenannten Schema zusammengefasst. Es gibt noch eine Reihe anderer Schemata. Erwähnt sei lediglich aus dem Bereich der Ontologie das Schema ‹ver­änderlich-unveränderlich›. Die Platoniker z.B. lehrten, das Veränderli­che sei als Seiendes vom Unveränderlichen abhängig. Bei Augustinus heißt das Schema ‹mutabile-inmutabile›. Er verwendet es häufig, so auch in De doctrina christiana, denn die Sache, um deren Erkenntnis es ihm dort geht, ist Gott, die Sache schlechthin, weil unveränderlich, auf die alles Veränderliche im Sinne natürlicher Zeichen verweist. Der Bi­schof beruft sich auf Rm 1,20, wonach Gottes unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen werde[9].
In dem etwa 393 begonnenen, aber unvollendet gelassenen zweiten Ge­nesiskommentar[10] interpretiert Augustin den Vers Gn 1,14b über die Er­schaffung der Leuchtkörper am Himmelsgewölbe: «... sie sollen als Zeichen dienen sowohl für die Festzeiten als auch für die Tage und Jahre». Der Kommentar sagt nicht nur, die durch bestimmte Intervalle gekennzeichneten ‹tempora› seien ‹signa›, die als solche auf die über ih­nen sich befindende unveränderliche Ewigkeit verwiesen, es heißt da noch: Die Zeiten verwiesen deshalb über sich hinaus, damit die Zeit selbst in ihrer auf die Ewigkeit verweisenden Funktion als Zeichen, als Spur der Ewigkeit erkannt werde – «ut signum, id est quasi uesti­gium aeternitatis tempus adpareat»[11].
Unschwer erkennt man auch hier das Schema ‹Zeit-Ewigkeit›, ‹tem­pus-aeternitas›. Setzt man an die Stelle des ‹signum-res›-Schemas in die Definition vom Zeichen jenes von ‹tempus-aeternitas›, so wird Zeit trotz der eigenartigen Brechung durch ihre Zurücknahme in die Innerlichkeit in den Confessiones, wie wir noch sehen werden, zu jener bezeichnen­den Sache, ‹res significans›, die bei ihrer Wahrnehmung noch eine an­dere Sache, nämlich die Ewigkeit als ‹res significata› nahe legt, deren Spur sie ist.
Hinter dieser Interpretation der Zeit als ‹signum› bzw. als ‹uestigium aeternitatis› ist unschwer Platons kosmisch-zyklischer Zeitbegriff aus Timaios 37c zu erkennen, wonach die vollkommene Kreisbewegung der Gestirne ein bewegtes Bild der unbewegten Ewigkeit sein soll[12]. Be­kanntlich bezeichnete Plotin in seiner Enneade 3,7 ‹Über Ewigkeit und Zeit› die Zeit ebenfalls als ein Abbild der Ewigkeit[13]. Mit Platon und Plotin wusste Augustin, wie sehr das Wissen um das Wesen der Zeit die Sehnsucht in der Seele schürt, sich der Ewigkeit, aus der sie hervorging, von der sie aber getrennt ist, wieder zuzuwenden. Die metaphysische Struktur des Kausalzusammenhangs von Ewigkeit und Zeit bildet des­halb auch das Fundament der Ethik der Platoniker und mutatis mutan­dis auch Augustins. Diese ist bei aller biblisch bedingten spezifischen Differenz eine Ethik der Innerlichkeit. Ihre Einübung fördert aufs wirk­samste – freilich wie eingangs schon gesagt: nach erlangter Rechtferti­gung durch die Gnade Christi – die Beschäftigung mit der Zeit, weil sie der geeignetste Stimulus zur Betrachtung der Ewigkeit ist.
Wenden wir uns nunmehr der Zeitauslegung im 11. Buch der Confessio­nes zu, so können wir zunächst feststellen, dass Augustin den Einstieg in dieses Thema mit der Klärung der Ewigkeit beginnt. Denn was es mit der Zeit als Abbild auf sich habe, werde erst deutlich, wenn man das Urbild von diesem Abbild erkannt habe[14]. Deshalb erörtert er auch zu­nächst das Wesen der Ewigkeit, ehe er im Kapitel 14 die Frage stellt: «quid est ergo tempus?»[15]. Aber Augustins Leitfaden sowohl für die Er­örterung des Wesens der Ewigkeit wie auch der Zeit ist vorzüglich die Bibel, genau: Gn I,1 an deren Spitze der Satz steht: «in principio – im Anfang schuf Gott Himmel und Erde». Allerdings taucht Augustin diese Aussage sofort in das Licht seines ontologischen Schemas der Zweitei­lung alles Seienden in Beständiges bzw. Veränderliches und in Unbe­ständiges bzw. Unveränderliches. Himmel und Erde rufen es selbst, dass sie das Sein nicht aus sich selbst haben. Ihre ständige Veränderung und ihr Wandel sprechen eine deutliche Sprache[16]. Der erschaffene Himmel und die erschaffene Erde verweisen auf ihren unerschaffenen Ursprung.
«In principio» assoziierte bei dem philosophisch gebildeten Augustin primär keine zeitlichen, sondern ontologische und spezifisch theologi­sche Vorstellungen. Dieses ‹principium› ist für ihn niemand anders als der Logos von Jo 1,1, das ‹uerbum dei› , die zweite Person des dreieini­gen Gottes, durch das bzw. durch den der zeitlose Gott alles Zeitliche schuf. Gottes Zeitlosigkeit aufzuzeigen, war für Augustin deshalb ein wichtiges Anliegen, weil die Gegner der biblischen Schöpfungslehre fragten, was denn Gott getan habe, bevor er die Zeit erschuf. Augustin antwortete: Gott könne der Zeit nicht in der Zeit vorausgehen, sonst würde er nicht allen Zeiten vorausgehen. Er überrage die Zeit nicht zeit­lich, sondern durch sein Wesen, seine Seinshöhe[17].
Weil der Prozess der Schöpfung sich nach der biblischen Offenbarung über das Medium der Sprache vollzog – Augustin zitiert Ps 32,9: «du sprachst und sie waren erschaffen» –, deshalb entlasse die in sich verhar­rende Ewigkeit die Zeiten aus ihrem Stand sozusagen in der Form eines Diktates[18]. Wie wenig indes der in seiner Philosophie von der platoni­schen Eidetik abhängige Kirchenvater dieses schöpferische ‹Wort› sprachlich denkt, dies zeigt die Sorgfalt, mit der er die ‹zeitlich erklin­genden Worte› vom ‹ewigen Wort im Schweigen› trennt. Vom letzteren heißt es: «aliud est, longe aliud»[19]. Dem Schöpfungswort fehlen ja ge­rade die Charakteristika der Sprache, die Stimme, ‹uox›, und die Silben, ‹syllabae›. Mit ihnen lässt sich eher die Zeit veranschaulichen, die Au­gustin gerne mit der Rezitation eines Gedichtes vergleicht, bei der die Silben und die Verse nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander, «posterioribus priora tollentem»[20], ausgesprochen werden können. Got­tes Schöpferwort hingegen ist selbst Gott; es wird ewig von ihm ausge­sprochen und umfasst jedwedes Detail mit dem Ganzen zugleich und unaufhörlich[21]. Seiendes dagegen, das zu sein beginnt und zu sein auf­hört, ist gleichsam ‹vorprogrammiert›. Es kann sein ‹Programm› nur in Übereinstimmung mit der ewigen Vernunft ‹abwickeln›, wo in zeitloser Weise erkannt wird, ein Etwas müsse beginnen und enden[22]. Das Ein­malige, punktuell sich Verwirklichende gründet in der Unveränderlich­keit seines Ursprungs[23].
Was nun an der Zeit, an diesem ‹inplicatissimum aenigma›[24], ist Zeichen der Ewigkeit? Was ist Zeit überhaupt? Augustin gesteht: «Wenn nie­mand mich danach fragt, so weiß ich es; sobald ich es jedoch einem Fra­genden explizieren will, weiß ich es nicht»[25]. Denn wie soll das Wesen einer Sache einsichtig werden, das sich dem Wahrnehmenden sozusagen ständig entzieht? Und dennoch muss die Zeit mit ihrem Dreitakt von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ein Etwas haben, das in ihr an­kommt und vorübergeht. Es ist aber ebenso einsichtig, dass die ankom­mende und vorübergehende Gegenwart keine Gegenwart bleiben kann, weil sonst die Differenz zwischen Zeit und Ewigkeit und damit auch von Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben wäre. Es liegt somit im Wesen der Zeit, dass sie bestrebt ist, nicht mehr zu sein: «tempus, nisi quia tendit non esse»[26].
Das entscheidende Glied im Dreitakt der Zeit ist das vom ‹noch nicht› und vom ‹nicht mehr› umfangene ‹praesens›. Doch was ist ‹praesens›? Unser Jahrhundert ist es nicht, denn es zerfällt in hundert Einheiten von Jahren, aus denen es sich begrifflich konstituiert. Ähnlich verhält es sich mit dem Jahr, dem Monat, dem Tag und der Stunde, ja bis herab zur kleinsten Zeiteinheit. Gegenwart bleibt, was sich zeitlich nicht mehr teilen lässt. Sie mündet in die Aporie: «praesens nullum habet spa­tium»[27]. Was verweist aber dann auf die Ewigkeit, wenn die Gegenwart nicht fassbar wird?
Die Prophetien weisen einen Weg. Denn sie, die Künftiges vorherver­kündeten, scheinen anzuzeigen, dass es ein ‹ubi› gibt, wo das noch nicht Geschehene irgendwie bereits vorhanden ist. Von einer Voraussage kann aber sinnvoll nur geredet werden, wenn das Zukünftige in die Ge­genwart hereinragt, sei es, dass es in seinen Ursachen, sei es, dass es in seinen Vorzeichen wie der Sonnenaufgang in der vorausgehenden Mor­genröte gegenwärtig wird. Nicht anders verhält es sich mit der Verge­genwärtigung des Vergangenen. Nur betrachtet der Geist nicht die Gründe und die Vorzeichen der Dinge, sondern ihre Spuren und Bilder, die sie in der ‹memoria› zurücklassen. Vergangenheit und Zukunft sind somit in der Seele in der Weise der Vergegenwärtigung[28].
Obgleich die weitere Erörterung sich auf das Vergangene und auf das Künftige erstreckt, so bleibt doch die Frage nach dem ‹praesens› das eigentliche Thema. Augustin versucht es sozusagen per extensionem einzufangen, indem er folgert: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart aus Vergangenem, eine Gegenwart aus Gegenwärtigem und eine Gegenwart aus Zukünftigem. Aber alle diese Seinsweisen der Zeit sind allein in der Seele: «alibi ea non uideo»[29].
In der Geistseele ist das Vergangene gegenwärtig durch das Gedächt­nis (memoria), das Präsentische gegenwärtig im Augenblick (contui­tus) und das Künftige gegenwärtig in der Erwartung (expectatio). Erst über die durch die ‹memoria› bedingte innere Schau gewinnt Augustin einen Zugang zum Wesen der Zeit. «Die Innerlichkeit des Menschen erweist sich so als eine eigentümlich vermittelnde Mitte zwischen Zeit und Ewigkeit»[30]. Nur der ‹homo interior› erkennt die Zeichenhaftigkeit der Zeit. Denn die Seele verwandelt kraft ihrer Ähnlichkeit mit dem Ewigen – in ihr ist ja der Geist ‹imago dei›[31] – die Gegenwart in Dauer und überspannt somit das Nacheinander der Zeit zu einem sowohl differenzierbaren wie integrierbaren Gefüge[32]. Sie vermag von dem vor dem Auge ihres Geistes vorüberziehenden zeitlich Seienden Bilder, ‹imagines›, aufzunehmen und auf diese Weise dem Vorüberziehenden in ihrer ‹memoria› eine Art Bleibe zu verschaffen[33]. Allein an der Seele und in der Seele wird die Gegenwart habhaft. Dies wird von Augustin noch dadurch unterstrichen, dass er ausdrücklich jene Theorie zurück­weist, die dem Wesen der Zeit außerhalb der Seele beikommen zu kön­nen meint und Zeit mit der Bewegung von Himmelskörpern identifi­ziert[34]. Das Fazit der Auseinandersetzung Augustins mit dem kosmi­schen Zeitbegriff der Antike lautet: Die Zeit ist mit der Bewegung von Körpern nicht identisch.[35]. Sie sei eher so etwas wie eine Ausdehnung, eine ‹distentio›[36].
Was aber meint ‹distentio›? Fest steht lediglich, dass die Bewegung der Körper durch die Zeit gemessen wird. Wer aber misst, wenn nicht der Geist, der einen Vorgang, z.B. die Rezitation eines Gedichtes reflex er­fasst, indem er die Zeiträume (spatia) der Verse, der Versfüße und der Silben im Vorüberziehen zählt und miteinander vergleicht. Die Dauer der Verse, Versfüße etc. ist zwar eine Ausdehnung, aber diese ist mit dem Versmaß nicht eo ipso festgelegt, denn ein Vers kann schnell und langsam vorgetragen werden. Ihre Ausdehnung muss demnach eine Dimension der Seele sein[37].
Wie immer Augustin das Messen der Zeit veranschaulicht, stets mündet seine Erörterung darüber in eine Reflexion über die Tätigkeit der Seele, die durch ihre wunderbaren Fähigkeiten des Erinnerns, des Anblicks und des Erwartens der Zeit gleichsam einen Halt gebietet. «Den Eindruck (affectionem)», heißt es wörtlich, «den die vorübergehenden Dinge in dir (Seele) zurücklassen, der da bleibt, sobald jene vorübergegangen sind, den messe ich, wenn ich die Zeit messe. Entweder ist er (der Ein­druck) also selbst Zeit, oder ich messe die Zeit nicht»[38].
Ist Zeit als ‹affectio animi› eine Sache des Geistes, so entspricht ihrer dreifaltigen Struktur auch die Struktur des Geistes. Dieser ist in bezug auf die Zeit ein erwartender, ein aufmerkender und ein sich erinnernder. Von den Verben ‹erwarten-expectare›, ‹aufmerken-adtendere› und ‹sich erinnern-meminisse› ist ‹adtendere›, obgleich ihm an und für sich kein Objekt zukommt, da die Zeit in ihrem Übergang aus dem ‹futurum› in das ‹praeteritum› im Geiste kein ‹spatium› für das ‹praesens› erkennen lässt, das bedeutsamste. Denn ‹Erwarten› wie auch ‹Sich erinnern› ist ohne ‹aufmerken› nicht denkbar. Der Geist ist dann aufmerksam, wenn er sich erwartend auf die Zukunft erstreckt und sich erinnernd beim Vergangenen weilt. Lange Zukunft ist lange Erwartung des Künftigen, lange Vergangenheit langes Gedenken des Vergangenen, auf das sich der Geist richtet. Darum heißt es gerade von dem in bezug auf die Zeit objektlosen Mittelglied der ‹attentio›, sie habe Dauer: «perdurat atten­tio»[39].
Somit ist es der Geist selbst, der sich in seiner Aktivität über den Au­genblick hinaus erstreckt und die Weisen der Zeiten gleichsam unter ein Joch zwingt. Schon ehe er ein Lied aufzusagen im Begriffe ist, um­spannt er in der Erwartung das Ganze: «in totum expectatio tenditur». Sobald dann das Lied gesungen wird, umspannt sogleich auch das Ge­dächtnis jenen Teil, der schon abgesungen ist: «tenditur in memoria mea». Durch dieses doppelte ‹tendere›, in das ‹noch nicht› und in das ‹schon› erweist sich die ‹attentio› in Wirklichkeit als eine ‹distentio›, Ausdehnung[40]. Nur in der Weise der ‹distentio› gelingt es also dem Geist, der Zeit das Stigma der Dauer zu geben und in der Dauer die Ewigkeit spiegeln zu lassen.
Indes, die über die ‹distentio animi› gewonnene Einheit einer zeitlichen Dauer kann in Wirklichkeit über die Vielheit ihrer Bestandteile nicht hinwegtäuschen. Dem über die Zeit durchweg existentiell reflektieren­den Augustin entging dies nicht. Die als ‹distentio› sich empfindende Existenz strebt zwar nach Einheit, essentiell ist sie aber Unbeständigkeit und Vielheit. Die Confessiones drücken dies so aus: «nos multos, in multis per multa»[41]. Wahre Einheit besitzt Gott allein, der den Men­schen über die Zeiten hinweg durch seinen menschgewordenen Sohn, den Mittler zwischen sich und uns, zur Beständigkeit ruft. Rhetorisch vollendet heißt es von ihm im Kommentar zum Psalm 101, Vers 25: «Wort vor den Zeiten, durch das die Zeiten geworden sind, geboren in der Zeit, obgleich Inbegriff des ewigen Lebens, ruft es die in der Zeit Existierenden, um sie mit der Ewigkeit zu beschenken»[42].
Will man die Beschaffenheit der augustinischen Zeitreflexion auf dem Hintergrund ihrer spirituellen Zielsetzung in ihrer vollen Tragweite er­kennen, so darf man ihr Proprium, die Integration philosophischer und biblischer Gedankengänge nicht übersehen. Nachdem Augustin auf dem Höhepunkt seiner Erwägungen über Zeit und Ewigkeit angelangt ist, zieht er absichtlich das biblisch-neutestamentliche Gottesbild zu seinen abschließenden Überlegungen heran. Gewiss, Einheit und Vielheit sind Grundkategorien der neuplatonischen Ontologie. In des Bischofs Geist assoziieren jedoch diese Termini über die Offenbarung gewonnene theologische Einsichten. Das die existentielle Einheit garantierende Eine ist nicht das ἕν der Neuplatoniker, sondern der offenbarte dreieinige Gott und auch das der erstrebten Einheit widerstehende Viele ist nicht das aus dem ἕν Emanierte, sondern das von diesem dreieinigen Gott in Freiheit erschaffene Veränderliche, das ‹mutabile›. Augustin geht noch weiter. Er lässt die ganze christliche Soteriologie mitschwingen, wenn er bei der Formulierung der Quintessenz seiner Erörterungen im Buch 11 der Confessiones, dem ethischen Programm des «Sich-aus-dem-Vielen-Sammeln» und des ‹dem-Einen-Folgen›, den neuplatonischen Grundak­kord anschlägt.
Im Sinne der schon dargelegten Zeichentheorie lautet diese Quintes­senz: Der veränderliche, in der Zeit existierende Mensch muss den un­veränderlichen Einen, Gott, je schon kennen, wenn er aus dem Vielen sich sammelnd jenem folgen will. Anders gewendet: Nur auf der Folie der zumindest erahnten Ewigkeit kann die Zeichenhaftigkeit der als ‹distentio animi› begriffenen Zeit als solche erkannt werden. Aus der Erkenntnis der Zeit als ‹signum› bzw. als ‹uestigium aeternitatis› resul­tiert dann für Augustin der vielsagende Imperativ, den er nicht mehr nur mit plotinischen, sondern unüberhörbar auch mit paulinischen, nämlich aus Phil 3,12-14 herangezogenen Formulierungen zum Aus­druck bringt: Strecke dich nach dem, was vor dir liegt, nämlich der Ewigkeit[43]. Der Italatext ermöglichte es Augustin, das paulinisch ein­deutige Sich-Strecken nach vorne (ἔμπροσθεν) als ein Sich-
Strecken nach der ewig stehenden transzendenten Wahrheit auszule­gen[44]. Das Greifen (adprehendere) nach der Ewigkeit geschieht nicht in der Weise der ‹distentio animi›, sondern «secundum intentionem»[45]. In der Auseinanderdehnung, der ‹distentio›, umgreift zwar der Geist die Zeit, aber erst in der Hindehnung, in der ‹intentio›, versucht er das zer­teilte Dasein zu überwinden, indem er sich auf seinen Ursprung hin kon­zentriert.
Der Ursprung, auf den hin sich alles Dasein zu konzentrieren hat, ist für Augustin Gottes Wort, das als Mittler zwischen dem dreieinigen Gott und dem Menschen selbst in die Zeit eingegangen ist, um den Menschen den Weg aus der Zeit in die Ewigkeit zu zeigen. Es ist gewiss nicht ohne Bedeutung, dass der Mittler Christus zum Beginn und zum Abschluss der Zeitreflexion erwähnt wird. In ihm sieht Augustinus den Schlüssel zum Verständnis von Zeit und Ewigkeit. Programmatisch heißt es im vorletzten Kapitel von Buch 11 der Confessiones: «Ich werde stehen und gefestigt sein in dir, in meinem Urbild, deiner Wahrheit»[46]. ‹Urbild› und ‹Wahrheit› am Ende der Erörterung über die Zeit meinen den alle Ge­heimnisse umfassenden Schoß der Gottheit[47], in dem alles Geschaffene, die Zeit nicht ausgeschlossen, ihr eigentliches Sein hat.
Bereits im 18. Kapitel dieses Buches, in dem Augustin nach dem ‹ubi› der Zukunft und der Vergangenheit fragte, bekannte er sich zur Veran­kerung der Zeiten an einem transzendentalen ‹Ort›: «Ich weiß, wo im­mer sie auch sind, dort sind sie weder vergangen noch künftig, sondern gegenwärtig»[48]. Jetzt, da er das Sein der Zeiten in Gott beschreibt, ver­anschaulicht er die Differenz von Zeit und ihrem Urbild an der Er­kenntnisweise, mit der Gott die Idee der Zeit schaut. Der Schöpfer der Zeit und der Zeiten durcheilt diese nicht wie der Mensch, der Teile der Zeiten in der Auseinandersetzung seines Geistes sozusagen abtastet und immer nur bruchstückhaft umgreift. Nein, Gott durchschaut im Stand den Stand der Zeiten: «anni tui omnes simul stant, quoniam stant»[49]. Er kennt sie ohne Änderung seines Wissens und er schafft sie ohne Wech­sel in seinem Wirken[50]. Der Grund der Zeit liegt in der Zeitlosigkeit sei­nes Seins.
Resümierend wird man sagen können, Zeit ist nach Augustinus gera­dezu ein Muster der von ihm als ‹natürliche Zeichen› gedeuteten Dinge der Schöpfung, denn zwischen ihr und der Ewigkeit besteht jene aus Ähnlichkeit und Unähnlichkeit resultierende Analogie, welche das Be­zeichnende und das Bezeichnete verbindet, aber auch trennt. Die Zeit hat also an ihrer seinsstiftenden Idee, welche die mit dem ‹uerbum diui­num›, dem Wort Gottes, identische Ewigkeit ist, im Sinne der neuplato­nisch-augustinischen Ontologie einen abgeschatteten Anteil[51]. «Weil die Ewigkeit als ontologische Umklammerung der Zeit stets schon ‹vor­aus›-liegt, vermag letztere trotz ihres Ver-Laufs, ‹tendit non esse›, so­wohl in ihrem horizontalen Lauf (Geschichte) wie auch in ihrem durch die ‹distentio› des Geistes gleichsam zum Stillstand gebrachten ‹prae­sens› vertikal das ‹aliud›, das Anderssein der Ewigkeit anzuzeigen. Zeit bleibt für Augustin immer Spur von Ewigkeit, ja sie wahrt ihren Spur­charakter gerade darin, dass sie mit der Ewigkeit nicht identisch ist»[52]. Darin besteht aber, wie eingangs ebenfalls schon gezeigt, die Funktion der Zeichen.
Augustin hat die Zeit, speziell im Blick auf Gott, gerne mit einem ‹car­men› verglichen. Er tut dies auch am Ende seiner Erörterung über die Zeit: «Wäre ein Geist eines so großen Wissens und Vorauswissens mächtig, dass ihm alles Vergangene und Künftige bekannt wäre wie mir ein sehr vertrautes Lied, so wäre das ein überaus wunderbarer und zum Erschrecken erstaunlicher Geist. Denn, was schon längst vergangen ist und was in den restlichen Jahrhunderten sich noch ereignen wird, das läge offen vor ihm wie das Lied, das ich singe, vor mir offen liegt, wie viel vom Lied auch schon gesungen ist und wie viel auch von ihm noch übrig ist. Fern sei es aber, dass du, Schöpfer des Alls, Schöpfer der See­len und der Leiber – fern sei es, dass du alles Künftige und Vergangene so wüsstest! Weit, weit wunderbarer und weit geheimnisvoller weißt du es. Dein Wissen ist nicht so, wie wenn einer etwas Bekanntes singt oder ein vertrautes Lied hört, wobei seine Stimmung schwankt und sein Sinn in der Erwartung der künftigen Töne und in der Erinnerung der schon gesungenen geteilt wäre. Das ist bei dir, dem unwandelbar Ewigen, dem wahrhaft ewigen Schöpfer der Geister nicht der Fall. So wie du ‹im An­fang Himmel und Erde› ohne Änderung deines Wissens kanntest, so hast du ‹im Anfang Himmel und Erde› ohne Wechsel in deinem Wirken ge­schaffen. Wer dies begreift, der bekenne es dir, und wer es nicht be­greift, bekenne es ebenfalls! Wie bist du erhaben, dessen Wohnung die Herzen der Demütigen sind! Denn ‹du richtest die Gebeugten auf› (Ps 144,14) und es fallen die nicht, deren Höhe du bist – tu enim ‹erigis eli­sos›, et non cadunt, quorum celsitudo tu es»[53].
--------------------------------------------------------------------------------
[1] E. Feldmann trug seine These auf dem IX. Internationalen Patristischen Kongreß in Oxford vor. Der Vortrag wurde in spanischer Sprache veröffentlicht: Las «Confessiones» de Agustin y su unidad. Reflexiones sobre su composición: Augustinus 31 (1986) 113-122.
[2] Sol. 1,7.
[3] Siehe dazu C. Mayer, Augustins Bekehrung im Lichte seiner ‹Bekenntnisse›. Ein Exempel der kirchlichen Gnadenlehre: Augustinian Studies 17 (1986) 31-45.
[4] Die antike Kunstprosa 2, Leipzig 1898, 526.
[5] Zur Datierung, Absicht und Gliederung von De doctrina christiana siehe C.P. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins 2. Die antimanichäische Epoche, Würzburg 1974, 88-96. Dort auch weitere Literatur.
[6] Doctr. chr. 1,2.
[7] Ib. 2,1: ««signum est enim res praeter speciem quam ingerit sensibus, aliud aliquid ex se faciens in cogitationem uenire».
[8] Augustin entwickelte seine Zeichentheorie bereits in dem etwa 389 entstandenen Dialog De magistro. Dort, 10,33 befindet sich auch der zitierte Satz: «magis signum re cognita quam signo dato ipsa res discitur». Zur Datierung S.M. Zarb, Chronologia operum S. Augustini secundum ordinem retractationum digesta, Roma 1934, 33. Deutung des Dialogs auf dem Hintergrund der Ontologie Augustins: C.P. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus 1. Die Frühschriften, Würzburg 1969, 222-247.
[9] Doctr. chr. 1,4.
[10] Cf. S.M. Zarb, op. cit. 34sq.
[11] Gn. litt. inp. 13,38. Der aufschlußreiche Text lautet wörtlich: «uidetur mihi hoc, quod dixit: ‹in signis›, planum fecisse illud, quod dixit: ‹et in temporibus›, ne aliud acciperentur signa et aliud tempora. haec enim nunc dicit tempora quae interuallorum distinctione aeternitatem incommutabilem supra se manere significant, ut signum, id est quasi uestigium aeternitatis tempus adpareat».
[12] Nach sol. 1,4 vollzieht sich der Lauf der Himmelskörper nach in Ewigkeit feststehenden Gesetzen: «deus cuius legibus in aeuo stantibus motus instabilis rerum mutabilium perturbatus esse non sinitur, frenisque circumeuntium saeculorum semper ad similitudinem reuocatur». Neben dieser Stelle aus den Soliloquien zeigt auch ciu. 11,21, daß Augustin Tim. 37c gekannt hatte. Cf. auch P. Alfaric, L’évolution intellectuelle de Saint Augustin 1. Du Manichéisme au Néoplatonisme, Paris 1918, 452 Anm. 5.
[13] Auf die Abhängigkeit Augustins von Enneade 3,7 macht R.J. O’Connell, The Riddle of Augustine’s «Confessions»: A Plotinian Key: International Philosophical Quarterly 4 (1964) 327-372, spez. 355-358, aufmerksam.
[14] Enneade 3,7,1. Zur Stelle J. Guitton, Le temps et l’éternité chez Plotin et saint Augustin, Paris 1933, 58.
[15] Conf. 11,17.
[16] Die Stelle im Kontext, ib. 11,6: «ecce sunt caelum et terra, clamant, quod facta sint; mutantur enim atque uariantur. quidquid autem factum non est et tamen est, non est in eo quicquam, quod ante non erat: quod est mutari atque uariari. clamant etiam quod se ipsa non fecerint; ‹ideo sumus, quia facta sumus; non ergo eramus, antequam essemus, ut fieri possemus a nobis›. et uox dicentium est ipsa euidentia».
[17] Conf. 11,16: «praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura».
[18] Ib. 11,13: «quis tenebit cor hominis, ut stet et uideat, quomodo stans dictet futura et praeterita tempora nec futura nec praeterita aeternitas».
[19] Ib. 6,8. Zum Problem der Hintansetzung der Sprache zugunsten der Eidetik bei der Verdeutlichung des ‹uerbum aeternum› siehe U. Duchrow, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin, Tübingen 1965, 144sq.
[20] So in der Frühschrift De uera religione 22,42sq. Wie die Silben als die «extrema uestigia» der unveränderlichen Dichtkunst in Erscheinung treten, so müsse man auch hinsichtlich des Zeitgefüges die ‹temporalia› von der ‹conditrix ac moderatrix diuina prouidentia temporum› absetzen bzw. auf sie hin ansetzen. Auch als lineare Bewegung ahmt die Zeit ihr ideenhaftes Vorbild, die Ewigkeit nach. Aufschlußreich zu diesem Thema auch mus. 6,29: «quae uero superiora sunt, nisi illa in quibus summa, inconcussa, incommutabilis, aeterna manet aequalitas? ubi nullum est tempus, quia nulla mutabilitas est; et unde tempora fabricantur et ordinantur et modificantur aeternitatem imitantia, dum caeli conuersio ad idem redit, et caelestia corpora ad idem reuocat, diebusque et mensibus et annis et lustris, ceterisque siderum orbibus, legibus aequalitatis et unitatis et ordinationis obtemperat. ita caelestibus terrena subiecta orbes temporum suorum numerosa successione quasi carmini uniuersitatis associant».
[21] Conf. 11,9: «uocas itaque nos ad intellegendum uerbum, deum apud te deum, quod sempiterne dicitur et eo sempiterne dicuntur omnia. neque enim finitur, quod dicebatur, et dicitur aliud, ut possint dici omnia, sed simul ac sempiterne omnia: alioquin iam tempus et mutatio et non uera aeternitas nec uera immortalitas».
[22] Ib. 11,10: «quia omne, quod esse incipit et esse desinit, tunc esse incipit et tunc desinit, quando debuisse incipere uel desinere in aeterna ratione cognoscitur, ubi nec incipit aliquid nec desinit».
[23] Ib. 11,16.
[24] Ib. 11,28. Zum Zeichencharakter des Terminus ‹aenigma› bei Augustin siehe C. Mayer, Die Zeichen 1, 346-348.
[25] Ib. 11,17. Dazu gibt es allerdings eine Parallele in Enneaden 3,7,1.
[26] Ib.
[27] Ib. 11,20.
[28] Ib. 11,23. Dazu treffend U. Duchrow, Sprachverständnis, 163: «Jedenfalls sind Augustins Lösungsversuche des Zeitproblems erkenntnistheoretisch am Sehen orientiert, so daß Kamlah (Christentum und Geschichtlichkeit, S. 227) mit Recht sagt: ‹Offenbar bedeutet dieses absolute Präsens (sc. Gottes) auf dem Boden der Augustinischen Ontologie die eigentliche Lösung des Problems von Anschauung und Zeit›. Denn nur das Präsentische kann angeschaut werden».
[29] Ib. 11,23.
[30] B. Schmitt, Der Geist als Grund der Zeit. Die Zeitauslegung des Aurelius Augustinus, Freiburg 1967, 111.
[31] Cf. Gn. adu. Man. 1,28; conf. 13,47; c. Faust. 22,27; 24,2.
[32] Dazu aufschlußreich: L. Boros, Das Problem der Zeitlichkeit bei Augustinus, Dissertation München 1954, 8 und J. Weinand, Augustins erkenntniskritische Theorie der Zeit und der Gegenwart, Münster 1929, 28-30.
[33] Conf. 11,35: «non ergo ipsas, quae iam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet». Cf. auch A. Schöpf, Wahrheit und Wissen. Die Begründung der Erkenntnis bei Augustin, München 1965, 126 und H.-J. Kaiser, Augustinus – Zeit und «Memoria», Bonn 1969, 156.
[34] Augustin bemerkt conf. 11,29: «audiui a quodam homine docto, quod solis et lunae ac siderum motus ipsa sint tempora, et non adnui». Weiteres dazu bei O. Lechner, Idee und Zeit in der Metaphysik Augustins, München 1964, im Abschnitt «Kosmische Zeit», 134-136.
[35] Ib. 11,31.
[36] Ib. 11,30.
[37] Ib. 11,33: «inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi».
[38] Ib. 11,36.
[39] Ib. 11,37.
[40] Ib. 11,38: «distenditur uita huius actionis meae in memoriam propter quod dixi et in expectationem propter quod dicturus sum: praesens tamen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum».
[41] Ib. 11,39.
[42] En. Ps. 101,2,10 : «uerbum ante tempora, per quod facta sunt tempora, natum et in tempore, cum sit uita aeterna, uocans temporales, faciens aeternos!» Der ausgelegte Psalmvers lautet: «in generatione generationum anni tui».
[43] Conf. 11,39: «non in ea quae futura et transitura sunt, sed in ea quae ante sunt non distentus sed extentus».
[44] Cf. U. Duchrow, Der sogenannte psychologische Zeitbegriff Augustins im Verhältnis zur physikalischen und geschichtlichen Zeit: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63 (1966) 267-288, 284.
[45] Zum Begriff und Bedeutungsgehalt von ‹intentio› bei Augustin: J. Rohmer, L’intentionnalité des sensations chez saint Augustin: Augustinus Magister l, Paris 1954, 491-498; G. Quispel, Zeit und Geschichte im antiken Christentum: Eranos Jahrbuch 20 (1951) 115-140, sieht im Begriffspaar ‹distentio-intentio› Urwörter der jüdisch-christlichen Eschatologie.
[46] Conf. 11,40: «et stabo atque solidabor in te, in forma mea, ueritate tua».
[47] Ib. 11,41: «domine deus meus, quis ille sinus est alti secreti tui». Siehe dazu die 46. Quaestio, De ideis, aus diu. qu., in welcher Augustin die freilich christlich modifizierte Auffassung vertritt, ein Geschaffenes könne überhaupt nur durch Teilhabe an den ‹rationes› der Gottheit ein Etwas sein. Dies gilt selbstverständlich auch für das Sein der Zeit. Cf. auch O. Lechner, op. cit. 141 sq.
[48] Conf. 11,23.
[49] Ib. 11,16. Ähnlich diu. qu. 17: «omne praesens est apud deum».
[50] Ib. 11,41: «neque enim sicut nota cantantis notumue canticum audientis expectatione uocum futuram et memoria praeteritarum uariatur affectus sensusque distenditur, ita tibi aliquid accidit incommutabiliter aeterno, hoc est uere aeterno creatori mentium. sicut ergo nosti in principio caelum et terram sine uarietate notitiae tuae, ita fecisti in principio caelum et terram sine distinctione actionis tuae».
[51] Zur Dialektik von ‹similitudo› und ‹dissimilitudo› in der Ontologie Augustins cf. C. Mayer, Die Zeichen 1, 195-199.
[52] R. Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt a.M. 1962, 56.
[53] Conf. 11,41.

Der heilige Augustinus von Hippo
Vortrag zum Jubiläum: 1650 Jahre seit seiner Geburt

von P. Dr. Arno Meyer OSA

(Prior des Augustinerklosters Walldürn)

Die Bedeutung der Heiligenverehrung heute

Mit einem Gebirgsmassiv sei er zu vergleichen, hat einmal jemand über Augustinus gesagt. Je nachdem, von welcher Seite man sich ihm nähert, - er hat immer ein anderes Aussehen, ein anderes Profil.

Augustinus selbst schrieb über sich: „In deinen Augen, Herr, mein Gott, bin ich mir zum Rätsel geworden“ (Conf. X 33,50).

Nie zuvor in der Geschichte hat der Mensch so viel über sich selbst gewusst. Nie zuvor hat ihn das Ausmaß der Informationen über sich selbst so verunsichert. Früher wusste sich der Mensch als Mitte, Krone und Herr der Schöpfung. Dieses überlieferte Selbstverständnis haben die modernen Wissenschaften Zug um Zug zerstört. Durch die zunehmende Erforschung des Weltalls kommt sich der Mensch auf unserer Erde nur noch wie in einem versprengten Winkel des Weltalls vor. Die Tiefenpsychologie hat die Zertrümmerung des alten Menschenbildes vollendet. Sie hat aufgezeigt, dass wir auch bei uns selber nicht einfach „Herr im Hause“ sind, sondern von unbewussten Mächten bestimmt und gesteuert werden.

Je mehr wir heute über den Menschen wissen, umso mehr fragt es sich, ob wir auch das wirklich Wissenswerte über ihn wissen. Oder wissen wir heute wirklich mehr als früher über den Sinn von Liebe, Leiden und Sterben?

Wenn wir heute eines Heiligen gedenken, bekunden wir damit, dass uns von dort eine Antwort auf diese Frage nach dem Menschen gegeben wird? Was hat der hl. Augustinus, der im Jahr 354, also vor 1650 Jahren, geboren wurde, uns Menschen von heute zu sagen, da man sich schwer tut, die Denkungsart eines heutigen Christen aus Sizilien zu verstehen? Hat nicht überhaupt der moderne Starkult die Heiligenverehrung abgelöst? Aber auch dieser beweist, dass der Mensch, vor allem der junge Mensch, nach Leitbildern für seine Lebensgestaltung Ausschau hält? Es geht nicht um Nachahmung. Jeder Heilige hat ein Stück einmaliger und gelungener Geschichte in die Ewigkeit eingebracht. Da gibt es keine Serienfabrikation. Wenn wir Katholiken uns Aug in Aug mit den evangelischen Christen korrigiert, von theologisch nicht vertretbaren Überschwänglichkeiten Abstand genommen und zur Christozentrik zurückgefunden haben, dann war das eine gelungene Flurbereinigung. Das II. Vatikanische Konzil sagt: „Jedes echte Zeugnis unserer Liebe zu den Heiligen zielt nämlich seiner Natur nach letztlich auf Christus, der ´die Krone aller Heiligen´ ist, und durch ihn auf Gott, der wunderbar in seinen Heiligen ist und in ihnen verherrlicht wird“ (Lumen Gentium Nr. 50). Der evangelische Theologe Walter Nigg schrieb das Buch: „Die Heiligen kommen wieder“. Eigenartig, dass wir Katholiken eine theologische Blutauffrischung von der evangelischen Seite brauchten, um den in unserem Acker verborgenen Schatz wieder aufzufinden. Leider hat manche Biographie das Bild eines Heiligen so entstellt, dass man sich schwer tut, einen solchen Menschen zu verehren. Vor einer solchen Entstellung hat sich Augustinus immunisiert, indem er seine Personalakte selbst geschrieben hat in einem der eigentümlichsten Bücher der Weltliteratur, in seinen „Confessiones“.

Wenn man bedenkt, dass der jetzige Papst mehr als tausend Personen selig gesprochen hat, - wenn ich die für die nächste Seligsprechung am 9. November 2003 vorgesehenen Personen mit zähle, dann sind es genau 1320 – und 467 Personen heilig gesprochen hat, also mehr als jeder Papst zuvor, da taucht vielleicht die Frage auf, ob denn das nicht eine Art geistlicher Inflation ist. Diese Frage wurde auch mir manchmal gestellt, da ich seit 1992 (bis 2007) Consultor (Ratgeber) in der römischen Kongregation Für die Selig- und Heiligsprechung bin und bisher 23 Urteile gefällt habe. Von diesen Personen sind bereits 13 selig gesprochen worden, darunter Papst Johannes XXIII. und Kardinal Alois Stepinac. Unter den 23 sind sechs Märtyrer, die alle bereits zur Ehre der Altäre gelangt sind. Nach meiner Überzeugung will der Papst aufzeigen, dass es vor allem im letzten Jahrhundert, dem grausamsten und blutigsten der bisherigen Geschichte, nicht nur Schatten sondern auch viel Licht gegeben hat. Es ist ein imponierendes Zeugnis des Optimismus für die Kirche, wenn damit dargestellt wird, dass es möglich ist, selbst in der Hölle eines Konzentrationslagers Mensch und Christ, Priester und Ordensperson zu bleiben und für seine Überzeugung in den Tod zu gehen.

Kardinal Jose´ Saraiva Martins, der Präfekt dieser Kongregation, sagte vor einigen Tagen über Papst Johannes Paul II.: „Die Aufwertung der Heiligkeit auf theologischem und pastoralem Niveau war seit Beginn dieses Pontifikats eine Säule seines petrinischen Amtes“.

Wer war der hl. Augustinus von Hippo?

Aurelius Augustinus war ein hochbegabter Mensch, der zu besten Hoffnungen berechtigte, der aber zunächst viele und lange Irrwege ging. Am 13 . November 354 wurde er zu Thagaste in Nordafrika, im heutigen Algerien, geboren. Sein Vater Patrizius, der erst kurz vor seinem Tod getauft worden ist, war ein kleiner römischer Beamter. Seine Mutter Monika stammte aus einer altchristlichen Familie. Sie war eine gläubige und sittenstrenge Frau. Wegen seiner glänzenden Begabung kam Augustinus auf die höhere Schule zu Madaura und später auf die Universität nach Karthago. Sein Vater hätte gerne einen Rechtsanwalt aus ihm gemacht. Augustinus aber studierte die Kunst der schönen Rede und wurde sehr früh Rhetorikprofessor in Karthago. Während seiner Studien genoss er das freizügige Leben in der Hafenstadt Karthago und stürzte sich in den Strudel der Leidenschaften. Mit 18 Jahren ging er ein festes Verhältnis ein mit einer Frau, der er 14 Jahre die Treue hielt. Der talentierte Sohn aus dieser Verbindung „Adeodatus“ starb schon mit 16 Jahren. Vom Christentum wollte Augustinus lange Zeit nichts wissen. Obwohl er schon einmal zu den Katechumenen gehörte, meldete er sich vom Religionsunterricht ab. Er flippte aus und war sogar neun Jahre Anhänger der Sekte der Manichäer. Die verzweifelte Mutter Monika wurde von einem Bischof getröstet: “ Ein Sohn so vieler Tränen kann nicht verloren gehen“. Er sollte Recht behalten. Als Augustinus heimlich nach Rom reiste, um dort als Professor zu wirken, fuhr ihm die Mutter Monika nach. Ein Jahr später erhielt er den glänzenden Auftrag, an der kaiserlichen Hochschule zu Mailand die Kunst der schönen Rede zu dozieren. Dort lernte er den Bischof Ambrosius kennen und bewunderte dessen Predigten. Von innerer Sehnsucht, ja von Unruhe gepeitscht, suchte er unermüdlich nach höheren Lebenszielen als Ehre, Reichtum und Karriere. In der Stunde der Verzweiflung rief er seinem Freund Alipius zu: „Hast du es gehört: die Ungelehrten stehen auf und reißen den Himmel an sich, und wir mit unserer Bildung ohne Herz, sieh nur, wie wir uns wälzen in Fleisch und Blut!“ (Conf. VIII, 8, 19). Er war beeindruckt durch die Meldung von der plötzlichen Bekehrung einiger römischer Bürger und, innerlich aufgewühlt von Ekel und Unzufriedenheit über sich selbst, hörte er im Spätsommer 386 im Garten die überraschende Stimme eines Kindes: „Nimm und lies!“ Er schlug die hl.. Schrift auf und stieß auf eine Stelle aus dem Römerbrief, die ihm die Augen öffnete für den Ausweg aus seiner bisherigen Verirrung. Er zog radikale Konsequenzen, gab seinen Lehrstuhl auf und begab sich mit seinen Freunden auf ein Landgut, um ein Leben in Gebet, Studium und brüderlicher Gemeinschaft zu führen. In der Osternacht 387 wurde er mit seinen Freunden, seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn vom Bischof Ambrosius getauft. Kurz danach starb die Mutter Monika, die mit der Bekehrung ihres Sohnes ihr Lebensziel erreicht hatte. Nun kehrte Augustinus mit seinen Freunden in die afrikanische Heimat zurück. In Thagaste nahmen sie ihr klösterliches Gemeinschaftsleben wieder auf. Da kam der Ruf der Kirche. Augustinus wurde 391 Priester und 395 Bischof in der Stadt Hippo Regius. Seine verantwortungsschweren Hirtenaufgaben verband er mit dem klösterlichen Gemeinschaftsleben. In Wort und Schrift wirkte er als Prediger und Lehrer der Kirche. Vor der Zersetzung von innen schützte Augustinus die Kirche durch das Apostolat der Feder. Augustinus, der selber neun Jahre lang Mitglied der Sekte der Manichäer war, konnte nach seiner Bekehrung als Insider über alle Argumente verfügen, um andere vor einer solchen Verstrickung zu warnen oder Auswege aus der Verstrickung zu zeigen. Er realisierte schon damals das, was das II. Vatikanische Konzil später als eine Aufgabe aller Bischöfe beschließen sollte, nämlich die Kollegialität der Bischöfe mit dem Papst. Dass aus diesem ausgeflippten Intellektuellen der große Heilige, Bischof und Kirchenlehrer wurde, ist ein Wunder der Gnade und ein ungeheuer ermutigendes Zeichen der Hoffnung für die Kirche, für verzweifelte Mütter, Väter, Seelsorger und Pädagogen.

Die einmalige Bedeutung Augustins

Augustins Einfluss durch die Jahrhunderte ist nicht wegzudenken. Verschiedene Konfessionen nahmen ihn in Einzelfragen für sich in Anspruch, Scholastik und Mystik schöpften in gleicher Weise aus ihm. Wie ein roter Faden zieht sich die augustinische Richtung durch die mittelalterliche Philosophie. Karl der Große liest den „Gottesstaat“ Augustins und formt sich daraus das Ideal des christlichen Herrschers. Im Streit zwischen Kaiser und Papst wird Augustinus von beiden Seiten in Anspruch genommen. Theologen, Philosophen und Humanisten lehnen sich an ihn, das Tridentinische Konzil stützt sich auf ihn. Über Pascal und Newman geht eine kontinuierliche Linie in die moderne Religionsphilosophie bis in die Existenzphilosophie. Bei Augustinus finden wir Fülle, Weite und Reichtum in seltenem Ausmaß. Es gibt kaum ein philosophisches und theologisches Problem, bei dem Augustinus nicht den Anspruch darauf hat, gehört zu werden.

Wie bedeutsam Augustins Gedankengut für die Geistesgeschichte von heute und morgen ist, beweist die Tatsache, dass ein Augustinus-Begriffs-Lexikon vom Augustinus-Institut des Würzburger Augustinerklosters herausgegeben wird, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der deutschen Augustinerprovinz finanziert wird. Dass dieses Millionenprojekt in einer Zeit finanzieller Sparmaßnahmen eine solche staatliche Unterstützung erfährt, zeigt an, dass die Wissenschaft unserer Zeit auf Augustins Gedankengut nicht verzichten kann und will. Damit sich die weltberühmten Augustinusexperten an diesem Projekt durch Artikel beteiligen, war es nötig, einen vollständigen Wortindex der Werke Augustins mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung zu erstellen. Dieser liefert blitzschnell und zuverlässig nicht nur sämtliche Stellen eines gefragten Wortes im Gesamtwerk Augustins, sondern auch den Abschnitt im Zusammenhang mit diesem Wort. Für die Augustinusforschung der Zukunft ist dieses Hilfsmittel von unverzichtbarem Wert.

Die Zeit Augustins war eine Epoche des Umbruchs, wie auch wir heute im Umbruch leben. Es gibt Ähnlichkeiten: Damals stand die Kirche im Streit mit dem vorchristlichen Heidentum, und die Entscheidung war noch nicht gefallen. Heute führt sie eine Auseinandersetzung mit einem nachchristlichen Diesseitsglauben, dessen Einbrüchen sie sich kaum erwehren kann. Damals sah sich der Glaube im Schmelzkessel einer Fülle von Philosophien und Heilslehren, welche die Menschen – wie Augustinus selbst – zwischen Faszination und Skepsis hin- und hertrieben. Heute umbrandet den Menschen eine vagabundierende Religiosität, die im „Wassermann-Zeitalter“ alle geistigen Konturen zu verwischen droht. Damals war die Kirche von tiefgreifenden Spaltungen bedroht, wie etwa dem Manichäismus, dem Pelagianismus und dem Donatismus, so dass, wie Augustinus es ausdrückte, „das Unkraut bis zur Apsis hinaufkroch“. Heute tasten die „gelebte Häresie“ (Karl Rahner) und die „partielle Identifikation“ die innere Einheit an. Man könnte an eine Neuauflage der genannten Irrlehren in unserer Zeit denken: des Manichäismus mit seinem radikalen Gegensatz von Geist und Materie als zweier ewiger Wesenheiten und der Auffassung, das Heil werde dem Menschen einzig durch Wissen und Erkenntnis zuteil; des Pelagianismus mit der Überbewertung des menschlichen Willens und der Hintansetzung der göttlichen Gnade – heute unter uns im Gewande des unbegrenzten Fortschrittsoptimismus; des Donatismus, der die Gültigkeit der Sakramente von der Würdigkeit der Spender abhängig machte, was zu einer Spaltung der Kirche mit Fanatismus und Ausschreitungen führte; heute besteht die Gefahr, bei den Annäherungsversuchen die Konturen der Konfessionen zu verwischen und primitive Gleichmacherei zu praktizieren.

Als Augustinus im Jahr 430 als Bischof von Hippo Regius starb, hinterließ er ein immenses literarisches Erbe von philosophischem Scharfsinn und theologischer Tiefe. Es umfasst 117 Opera (Werke), von denen manche mehr als zehn Bücher umfassen, 928 Sermones (Predigten), Ennarrationes (Erklärungen), Tractatus (Abhandlungen) und 244 Epistolae (Briefe), insgesamt 5,5 Millionen Wörter.

Gerade weil Augustinus so lange in die verschiedensten Verirrungen verstrickt war, fühlte er sich besonders berufen, stark motiviert und außerordentlich kompetent, anderen den Weg der Wahrheit zu weisen. Er hatte es in seinem Leben mit verschiedenen, einander entgegengesetzten Irrlehren zu tun. In seinem Buch „Contra Academicos“ wendet er sich an die Skeptiker, die behaupteten, der Mensch könne überhaupt keine absolute Wahrheit erkennen. Er entlarvte sie, indem er ihnen klar machte, dass sie gerade diese Behauptung, man könne keine absolute Wahrheit erkennen, absolut setzten, und somit sich selber deutlich widersprächen.

Das umfangreichste Werk Augustins „De ciuitate dei“ mit 22 Büchern entstand aus aktuellem Anlass. Im Jahre 410 hatte der Westgotenkönig Alarich Rom erobert und geplündert. Das Heidentum wandte sich mit Verbitterung gegen die Christen. Ihnen wurde, wie schon früher, die Schuld an der Katastrophe zugeschrieben, in der man eine Rache der beleidigten Götter sah, von denen sich das christlich gewordene Rom abgekehrt hatte. Augustinus nahm nicht nur die Christen in Schutz, sondern wies auf die wahren Ursachen hin, nämlich auf den Zerfall der Sitten und schrieb den deutlichen Satz: „Was sind die Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?“ (Ciu. IV 4).

In diesem Werk spricht Augustinus selbst in Hinblick auf die Irrlehren seinen Optimismus aus mit den Worten: „Vieles, das zum katholischen Glauben gehört, wird, während es durch die schlauen Machenschaften des Gegners aufgeputscht wird, damit es gegen sie verteidigt werden kann, sorgfältiger bedacht, klarer erkannt und inbrünstiger verkündet; so wird die vom Gegner aufgeworfene Frage eine Gelegenheit zu lernen“ (Ciu. XVI 2,20). Diesen Optimismus haben wir gerade heute in Hinblick auf manche innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Polarisierungen nötig. Ich wünsche uns da die Haltung eines Augustinus, der ein unwahrscheinliches Vertrauen auf die Weisheit und Vorsehung Gottes hatte. Die Gefahr kann so auch immer zu einer Chance werden.

In der Osternacht haben wir im Gesang „Exsultet“ neben der Osterkerze die gewagten Worte gehört: „O glückliche Schuld – weil sie uns einen solchen Erlöser brachte“. So können wir ähnlich bei Augustinus sagen: O glücklicher Irrtum, weil er uns einen Augustinus geprägt hat, der als Priester und Bischof umso besser imstande war, anderen Menschen in solcher Not zu helfen. So haben wir wieder im Leben dieses Menschen die Wirklichkeit der Worte des hl. Paulus aus dem Römerbrief erfahren: „Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt“ (8,28). Selbst Goethe hat diese Wahrheit in seinem Drama „Faust“ beschrieben, indem er den Mephisto, den Teufel, eine Definition seiner selbst mit den Worten geben lässt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft“.

Der Bischof Augustinus

Eines Tages feierte Augustinus inmitten des Volkes seiner Hafenstadt die heiligen Mysterien mit. Der greise Bischof Valerius sprach zufällig von seiner Absicht, einen Priester wählen zu lassen. Augustinus wurde gewählt; der nahm den Auftrag an – unter Tränen und im Geiste des Gehorsams. Der junge Priester offenbarte in einem Brief an seinen Bischof seine damalige Seelenlage. Seinen Sünden schreibt er es zu, dass er zum „zweiten Steuermann ernannt worden sei, er, der doch nicht einmal rudern kann...“ Er bittet um etwas Zeit, um sich auf die neue Aufgabe vorzubereiten, die ihm die Bürde der Verantwortung vor dem Herrn erahnen ließ. Augustinus erklärt: „Nichts ist vor allem leichter, angenehmer und bei den Menschen angesehener als das Amt eines Bischofs, Priesters oder Diakons, aber nichts auch elender, trauriger und verdammenswerter vor Gott, wenn man es nur oberflächlich und um den Leuten zu gefallen ausübt“ (Brief 21,1).

Im Jahr 393 fand in Hippo ein Plenarkonzil statt, und Augustinus, der jüngste Priester der Stadt, jedoch von großem Ansehen in kirchlichen Kreisen, erhielt die ganz außergewöhnliche Einladung, die große dogmatische Ansprache zu halten. Valerius war der erste, der sich bewusst war, dass Augustinus ein ernsthafter Kandidat für jedwede Diözese in Afrika wäre. Vom Wunsch getragen, einen guten Nachfolger für seine Diözese zu bekommen und mit Hinweis auf seine ungeheuchelte Vorliebe für Augustinus, schrieb er an den Primas von Karthago, indem er ihn um die Bischofswürde für Augustinus bat. Der Plan stieß auf große Zustimmung der Gemeinde, und im Jahr 395 wurde Augustinus zum Bischof geweiht. Im selben Jahr stirbt Valerius, und Augustinus bestieg die Kathedra von Hippo. Sein erster Biograph schrieb ohne jegliche Floskeln: „Bischof ge­worden, verkündete Augustinus das Wort des ewigen Heiles mit viel stärkerem Nachdruck und mit mehr innerer Glut. Auch sein Ansehen war gestiegen. Nicht in einer Gegend nur erschien er zur Predigt, sondern überall, wo man ihn einlud. Immer war er bereit, sich vor jedem zu verantworten, der Rechenschaft verlangte über den Glauben und die auf Gott gegründete Hoffnung. Die Kirche Gottes aber stand in Blüte und wuchs schnell und üppig“ (Possidius, Vita 9).

Augustins Dienst an der Kirche wird durch das vorbildliche Zeugnis seiner steten Verfügbarkeit und in der Ausübung seines Bischofsamtes sichtbar. Augustinus hätte niemals davon geträumt, Priester, geschweige denn Bischof zu werden. Sein Ja zum katholischen Glauben setzt für ihn die völlige und bedingungslose Zugehörigkeit zur Kirche voraus. So sieht er keinen Grund zur Ablehnung, als er zunächst zum priesterlichen Dienst und später ins Bischofsamt gewählt wird. Die von ihm gehegten Pläne eines ruhigen, in der Gemeinschaft gelebten Lebens, das dem Studium und der Handarbeit gewidmet ist, kommen an zweiter Stelle. „Ich, den ihr durch Gottes Erbarmen hier als euren Bischof erblickt, kam als junger Mann in diese Stadt, wie viele von euch wissen. Ich war auf der Suche nach einem Ort, an dem ich ein Kloster errichten und mit meinen Brüdern leben könnte. Denn alles weltliche Hoffen hatte ich hinter mir gelassen, und, was ich hätte sein können, wollte ich nicht sein (...) Das Bischofsamt fürchtete ich so sehr, dass ich jeden Ort mied, von dem ich wusste, es sei dort ein freier Bischofsstuhl. Denn schon erfreute sich mein Name bei den Dienern Gottes zunehmender Hochachtung“ (Sermo 355,2).

Augustinus ist dann nicht nur für 35 Jahre Bischof von Hippo, sondern er ist auch Bischof aller Kirchen. An seine Adresse richten sich Ansuchen aus anderen Orten innerhalb und außerhalb Afrikas und von seinem Schreibtisch gehen Briefe in alle Richtungen hinaus. In den christlichen Gemeinden, wie klein sie auch sind, „findet sich die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ (Contra Faustum 12,20).

Diese Auffassung vom Dienstamt liegt in seiner tiefen Liebe zur Kirche begründet: „Ich stehe fest in der katholischen Kirche, deren Glieder alle Kirchen sind, die, wie wir durch die kanonischen Schriften wissen, ihren Ursprung und auch ihre Standhaftigkeit der Arbeit der Apostel verdankt. Mit des Herrn Hilfe werde ich ihre Gemeinschaft weder in Afrika noch anderswo verlassen“ (Contra Cresconium 3,35). Die Stellung der Kirche in seiner Theologie und Spiritualität war so stark, dass er zur Überzeugung gelangte: „Ich würde dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich dazu nicht die Autorität der katholischen Kirche drängen würde“ (c. ep. Man. 5,6). „Lasst uns lieben den Herrn, unsern Gott; lasst uns lieben die Kirche: Ihn wie unsern Vater, sie wie unsere Mutter (...) Bleibt alle eng verbunden mit Gott wie mit einem Vater und mit der Kirche wie mit einer Mutter“ (En. in ps. 88, II, 14). Und so spricht er zu seinen Gläubigen: „Ich ermahne euch, ich beschwöre euch ... liebt diese Kirche, bleibt in dieser Kirche, seid selbst die Kirche“ (Sermo 138,10).

Augustinus hat eine klare Ekklesiologie der Gemeinschaft, die ihn dahin führt, dass er das Amt als Dienst versteht, dass ihm die Rolle der Laien in der Kirche deutlich wird. Dabei räumt er kollegiale Verantwortlichkeit den seniores laici ein, die ihm die aktive Beteiligung aller im Leben der Kirche erforderlich machen lässt, da der Heilige Geist, gleichsam die Seele des Leibes, in allen Gliedern gegenwärtig ist, um sie am Leben zu erhalten; er verleiht allen Leben und verhilft jedem zu seiner Tat (vgl. Sermo 267,4).

„Liebe und Treue zur Kirche“ bedeuten, über unsere Zugehörigkeit und Verantwortlichkeit innerhalb der Kirche Bescheid zu wissen. Augustinus hat seine besten Kräfte in den Dienst der Kirche gestellt. Die Kirche seiner Zeit zeigte die Wunden der Teilung und der der menschlichen Beschaffenheit ihrer Söhne und Töchter anhaftenden Gebrechlichkeit. Doch Augustinus blickte stets voller Liebe auf sie, indem er ihr mehr und mehr zugetan wurde. Er liebte die Mutter Kirche leidenschaftlich, er arbeitete unermüdlich für ihre Einheit, er kämpfte, um ihre Mängel zu überwinden und um sie zum Vorbild der Heiligkeit werden zu lassen. Augustins Einstellung ist uns Ansporn für eine bedingungslose Liebe zur Kirche, unserer gemeinsamen Mutter, und zu einem tätigen und betenden Engagement für ihre ständige Vervollkommnung.

Das faszinierende Lebensdrama Augustins

Wird ein Heiliger nur unter die wissenschaftliche Lupe genommen, bleibt das Resultat fragwürdig. Mehr noch als der Inhalt seiner tiefgreifenden Lehre ist für den heutigen Menschen, vor allem für den jungen, das Lebensdrama und die Intensität des seelischen Erlebens Augustins faszinierend. Nietzsches Forderung, man müsse, um eine Persönlichkeit zu verstehen, ihre Personalakte näher aufschlagen, um die Grundkräfte und Einflüsse aufzudecken, die ihre Entwicklung bedingten, ist keiner Persönlichkeit gegenüber so berechtigt wie derjenigen Augustins. Augustinus hat seine Personalakte selbst geschrieben in einem der merkwürdigsten und interessantesten Büchern der Weltliteratur, in den Confessiones (Bekenntnisse, oder besser: Lobpreisungen). Zwar ist auch ein großer Mensch ganz und gar wehrlos gegenüber seiner Nachwelt – wie viele gegensätzliche Anschauungen haben sich auf ihn gestützt! – die Grundzüge seines Wesens hat er doch klar genug in diesem Buch erkennen lassen und sich und seine personelle Umgebung weitgehend gegen eventuelle spätere Verzerrungen geschützt.

Die „Confessiones“ sind nicht nur das persönlichste Buch der Antike, sie können jedem Menschen das Dasein in seiner Verdunkelung, ja in seinen letzten Abgründen, wie auch in seinen Glücksmomenten und Verzückungen deuten. Mit diesem Buch betritt Augustinus als Psychologe seelische Bezirke, die vor ihm noch keiner betreten hat und er vollzieht zumal hier den entscheidenden Schritt, der ihn über das Philosophieren und transzendierende Denken der Antike hinausführt. Die sittlich beachtlich weit gekommene Schule der Stoiker erreichte mit dem Ideal der Unerschütterlichkeit des Gemütes ein hohes, aber letztlich doch abstraktes und negatives Ziel. Auch Augustinus sucht danach, der Unruhe des Herzens zu entrinnen, aber er gewinnt Glück und Ruhe in der völligen Hingabe an Gott. Die Antike hat das Ziel zwar geahnt, aber das Philosophieren führt nur bis zur Schwelle. Die volle Wahrheit erschließt sich erst im Licht des Offenbarungsglaubens. Augustinus sieht sich auf seiner Lebenshöhe gedrängt, über die Wirkungen der göttlichen Gnade, die er an sich erfahren hat, Zeugnis abzulegen vor Gott, vor sich und seinen Mitmenschen. Augustinus ist von zeitloser Lebendigkeit. Was ist es, das ihn so interessant macht?

Er ist keine leicht zu deutende Gestalt, sich selbst ein Rätsel, und blieb es für andere nach ihm. Der Mensch Augustinus, das Drama seines Lebens fasziniert den heutigen Menschen mehr als seine Lehre, nicht die äußeren Fakten geschichtlicher Zufälligkeit, sondern die Intensität des seelischen Erlebens. Das faustische Ringen nach Wahrheit und Glück, das beständige Unterwegssein nach dem Hohen, die Grundausrichtung auf alles wahrhaft Große machen den Kern seines Lebens aus. Das beständige Ringen nach Wahrheit, die zeitweilige Verzweiflung an ihr, das Abmühen um das fragwürdig gewordene eigene Selbst, Schrecken und innere Zerrissenheit in diesem Kampfe, das Fallen und Sichwiedererheben, die Größe im sinkenden wie im siegenden Willen, das Hin- und Hertaumeln zwischen Gottesferne und Gottesnähe, die metaphysische und religiöse Unruhe, das unbegrenzte Liebesbedürfnis sind es, die Augustinus dem modernen Menschen immer wieder nahe bringen.

Bei Augustinus verpuffte die Unruhe nicht im Leeren. Er betäubte sich nicht durch nichtssagende Ablenkungsmittel, noch artete sie in jene Betriebsamkeit aus, die in der Gegenwart den Menschen nicht zur Besinnung kommen lässt. Augustinus lenkt seine innere Unruhe in die Richtung des Suchens, das nicht im Ergebnislosen endete. Augustinus war ein Sucher, dem ein Finden beschieden war, weil ihn die Gnade Gottes über diese Schwelle trug. Er kam ans Ziel, er gelangte aus dem Relativen zum Unbedingten, er fand den Hafen, wo er ankern konnte.

Aber bei aller Verwurzelung blieb Augustinus vor jeder satten Selbstgenügsamkeit bewahrt. Auch als ihm die Wahrheit zulächelte, blieb er ein unermüdlicher Suchergeist, der die Parole ausgab: „Suchen wir Gott, damit er gefunden werde; suchen wir ihn auch, wenn er gefunden ist. Um gesucht zu werden, bevor er gefunden ist, ist er verborgen; um gesucht zu werden, nachdem er gefunden ist, ist er unermesslich“. Augustinus gelangte suchend zum Frieden und findend suchte er weiter, indem er sein ständiges Suchen in ein ständiges inneres Steigern verwandelte. Gerade dadurch bleibt Augustinus immer aktuell und spricht gerade den heutigen Menschen an, da er ein Suchender war und blieb, auch im Finden ständig unfertig und unterwegs.

Die Ordensregel Augustins

Augustinus hatte erfahren, dass der Mensch, um glücklich zu werden, in der Liebe über sich hinausschreiten muss zum Du. Er hat die menschliche Liebe, auch die zu einer Frau, erlebt in ihrem Zauber und in ihrer Grenze, denn jede menschliche Liebe muss sich nüchtern und real bescheiden mit den Grenzen des menschlichen Du und sich als den Ort annehmen, an dem sich, schmerzlich abwesend, Gott zur Geltung bringt als derjenige, der einzig den ewigkeitshungrigen, auf Vollendung angelegten Menschen ganz erfüllen kann. Zu diesem Gott, der allein und letztlich glücklich machen kann, war Augustinus zeitlebens unterwegs. Er war sehr beeindruckt von dem Schriftwort: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“ (1 Joh 4,20). Dass sich die Echtheit unserer Gottesliebe in der Nächstenliebe erweisen muss, war für Augustinus eine logische Konsequenz. Es genügt dann auch nicht, hie und da sporadisch ein gutes Werk zu vollbringen und sich dann zurückzuziehen, sondern er wollte sie verwirklichen in einer echten Lebensgemeinschaft, in der man sich ganz einbringen und den Anspruch des anderen auf sich wirken lassen muss. So wird die Liebe zu Gott überprüfbar und bleibt vor Illusionen bewahrt.

Diese Erkenntnis fand ihren Niederschlag in Augustins Ordensregel, die ihr Modell in der apostolischen Gemeinde von Jerusalem sieht, und deren Ideal die möglichst vollkommene Glaubens- und Lebensgemeinschaft ist, die nicht ein Mittel etwa zum Zweck einer schnelleren und wirksameren Erreichung apostolischer Ziele, sondern ein Ziel in sich, eine Kirche im kleinen ist, eine irdische Vorwegnahme dessen, was wir in Vollendung erst in der himmlischen Herrlichkeit erwarten.

Im September dieses Jahres war ich in Rom in der Gemeinschaft augustinischer Ordensschwestern mit päpstlicher Klausur, deren geistlicher Direktor ich acht Jahre lang war und bei denen ich in der Predigt zur Ablegung der Ordensgelübde Paul Valery zitierte, der sich für einen Atheisten hielt und folgende bedenkenswerte Worte formulierte: „Bald werden streng abgeschlossene Klöster gebaut werden müssen...An bestimmten Tagen wird man dort hingehen, um durch das Gitter einige Exemplare von freien Menschen zu betrachten“ (Karl Löwith: Paul Valery, S. 104).

In Augustins Regel, nach der heute mehr als hundert verschiedene Ordensgemeinschaften leben, enthält der erste Satz im ersten Kapitel das zentrale Thema: „Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammenzuwohnen und ´ein Herz und eine Seele´ auf Gott hin zu sein“.

Diese Regel mit nur acht Kapiteln ist nicht nur für Ordensleute richtungweisend, sie enthält auch wichtige Lebensweisheiten für die Gesellschaft unserer Tage. Im dritten Kapitel über die einfache Lebensführung steht der Satz: „Wenig brauchen ist besser als viel haben“. Diese Losung könnte ein kritisches Korrektiv für unsere heutige Konsum- und Wegwerfgesellschaft sein. In unserer Zeit wird der Begriff der Selbstverwirklichung in und außerhalb er Kirche und Orden sehr betont, aber oft missverstanden, so dass manche meinen, der biblische Begriff der Selbstverleugnung sei überholt. Das ist ein Missverständnis. Selbstverwirklichung ist für jeden Menschen ein wichtiges und berechtigtes Ziel. Aber der Weg nach dort heißt Selbstverleugnung im Sinne von Selbstbescheidung, Bereitschaft zum Opfer und Verzicht. Selbstverleugnung ist kein krankhaftes Herumtrampeln auf dem eigenen Ich, heißt nie Nein sagen zum eigenen Ich, sondern zu allem, was meine wahre Selbstverwirklichung vereitelt oder beeinträchtigt, also zu jeder Form von Egoismus. Der Mensch kann sich nur wahrhaft selbst verwirklichen im Dialog der Liebe. Hier ist Augustinus Wegweiser mit seinen Worten im 5. Kapitel seiner Regel: „...es soll ganz in dem Geist geschehen, dass niemand für sich etwas persönlich tut, sondern alle Arbeit bei euch mit Eifer und mit mehr Freude für die Gemeinschaft geleistet wird, als wenn ihr sie für euch selbst verrichten würdet. Von der Liebe steht ja geschrieben: ´Sie sucht nicht ihren Vorteil´ (1 Kor 13,5). Dies ist so zu verstehen: Sie stellt das Gemeinsame über das Eigene, nicht das Eigene über das Gemeinsame. Wisset also: Ihr seid umso weiter vorangekommen, je mehr ihr um die Gemeinschaft statt um eure privaten Interessen besorgt seid, so dass alle zeitlichen Bedürfnisse überstrahlt werden von der Liebe, die ewig bleibt“.

Einen großen Teil der Regel nimmt das Thema der brüderlichen Zurechtweisung ein. In seiner Ordensregel zitiert der hl. Benedikt Augustins Regel oder verweist auf ihn neunzehn Mal gerade in bezug auf diese delikate Verpflichtung. Da lesen wir: „Hätte dein Bruder am Körper eine Wunde und wollte sie geheim halten, weil er sich fürchtet, sie schneiden zu lassen, wäre es da nicht grausam von dir, zu schweigen, dagegen barmherzig, es zu offenbaren? Um wie viel mehr musst du es kundtun, damit sich nicht noch schlimmere Fäulnis in seinem Herzen bildet?“ Oft wagen wir diese Zurechtweisung nicht, weil wir vielleicht schlechte Erfahrung gemacht haben. Gelingen kann sie in der Tat nur in einer Atmosphäre des Vertrauens, in der das Wohlwollen der verantworteten Liebe gewiss ist. In einem seiner Briefe (93,4) sagt Augustinus: „Nicht jeder, der schont, ist dein Freund; nicht jeder, der schlägt, ist dein Feind. Besser sind des Freundes Schläge als des Feindes schlau berechnete Küsse. Besser ist es, mit offenkundiger Strenge zu lieben als mit geheuchelter Liebe zu hassen“.

Die Synode der Deutschen Bistümer und das Dokument des Dubliner Generalkapitels der Augustiner fordern uns Ordenschristen zum Mut zu Experimenten auf. Beim Experiment, das noch keine Tradition kennt, betritt man Neuland. Es kann auch mit einem Misserfolg enden. Der könnte den Menschen entmutigen, ja fertig machen. Das dürfte in einem Orden nicht passieren, wo man sich rechtzeitig auf Fehler aufmerksam machen soll, oder im Falle des Versagens einen auffangen sollte bis er wieder neue Kräfte geschöpft hat, um sich den Menschen wieder zuwenden zu können. Daher könnten und sollten die Ordensleute niemals die sein, die nur abwarten und auf Nummer sicher gehen, sondern die das Evangelium „radikal“ (= wurzelecht) leben und voller Dynamik und Fantasie neue Impulse geben, oder, wie Johann B. Metz sagt „eine innovatorische und kritische Funktion in Kirche und Gesellschaft ausüben“.

Für Augustinus war Autorität ein Dienst. Das Wort Autorität kommt von auctoritas, dieses Wort von augere = mehren, fördern, wachsen lassen; niemals aber von oben nach unten herrschen. Daher schreibt Augustinus im 7. Kapitel der Regel: „Der Obere soll sich nicht deshalb glücklich schätzen, weil er kraft seines Amtes gebieten, sondern weil er in Liebe dienen kann. Durch Stellung in eurer Gemeinschaft stehe er über euch, vor dem Angesichte Gottes liege er in Furcht zu euren Füßen. ... Und, obwohl beides unerlässlich ist, soll er doch mehr danach streben, von euch geliebt als gefürchtet zu werden, und sich immer bewusst bleiben, dass er für euch vor Gott einst Rechenschaft ablegen muss. Habt deshalb durch willigen Gehorsam nicht bloß mit euch selbst, sondern auch mit ihm Erbarmen; denn je höher seine Stellung unter euch ist, desto größer ist auch die Gefahr, in der er lebt“. Im 8. Kapitel seiner Regel mahnt Augustinus, dass wir „dies alles in Liebe beobachten, ... nicht wie Sklaven unter dem Gesetz sondern wie Freie unter der Gnade“.

Das Apostolat der augustinischen Ordenschristen ist also die Glaubens- und Lebensgemeinschaft. Gerade in einer Zeit des depressiven Individualismus, in einer Zeit, da viele junge Menschen die verschiedensten Wege gehen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach Richtung und Ziel, nach Freundschaft und Glück, nach Liebe und Gemeinschaft, ist das Beispiel des hl. Augustinus, der es mit der Gnade Gottes geschafft hat, ans Ziel zu kommen, sehr ermutigend. In einer Zeit, da viele Menschen sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfinden, sich sogar im eigenen Elternhaus nicht mehr verstanden und geborgen wissen, ist Augustins Ideal von der personalen Heimat in einer möglichst guten geschwisterlichen Gemeinschaft von einer Aktualität wie nie zuvor.

Es kann sein, dass Sie jetzt die Frage haben, ob wir Augustiner es denn schaffen, dieses Ideal zu leben. Zugegeben: wir schaffen es nicht. Das Ideal ist sehr hoch gegriffen. Da erfahren wir täglich die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Dies ist wie eine schmerzende Wunde des Heimwehs nach der Vollendung, die erst in der Ewigkeit ganz heilen kann. Ich starre auch nicht täglich nur auf das, was wir nicht geschafft haben, sondern ich freue mich auch über das wenige, das uns gelingt. So möchte ich schließen mit einem chinesischen Sprichwort: „Anstatt über die Finsternis zu klagen, sollte man lieber ein Licht anzünden“.

Prinzipien der Hermeneutik Augustins und daraus sich ergebende Probleme

Von Cornelius Mayer

In seinen Untersuchungen zu Hermeneutik und Strukturalismus hält es Paul Ricoeur «nicht für unwichtig daran zu erinnern, dass man sich mit dem hermeneutischen Problem zuerst im Bereich der Exegese konfrontiert sah ... Die Exegese hat ein hermeneutisches Problem aufgeworfen, ein Problem der Interpretation, weil jede Lektüre eines Textes – wie strikt sie sich auch an das ‹quid›, an das ‹woraufhin› er geschrieben war, halten will – stets innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, einer Tradition oder einer lebendigen Geistesströmung vollzieht, worin sich Vorurteile und Forderungen geltend machen»[1].

In der Tat kann dem um das Problem der Interpretation von Texten Wissenden bei der Lektüre der Bibel kaum entgehen, welch dominierende Rolle der Hermeneutik schon bei der Entstehung der jüdisch-biblischen Schriften und erst recht bei der jüdisch-biblisches Gedankengut übernehmenden christlichen Schriften zukam. Der Leser der neutestamentlichen Schriften stößt nicht nur gelegentlich auf hermeneutische Formulierungen wie Joh 5,4, wonach bereits Moses über Jesus geschrieben habe, es finden sich darin, und zwar schon in den früheren Schichten, Passagen, die über das Problem der Interpretation expressis verbis reflektieren. Solches Reflektieren, war durch ein neues Lesen der Bibel in einem veränderten, das Christusereignis anvisierenden Verstehenshorizont notwendig geworden. Im Rahmen dieses neuen Verstehenshorizontes wurde das Christusereignis als ein neues Bündnis gedeutet. Dieser Neue Bund setzte einerseits den nunmehr lediglich auf Zeit geltenden außer Kraft, andererseits betrachtete er sich als dessen Erfüllung. Das Verhältnis der beiden Bündnisse bzw. der beiden Testamente ist also ein solches der Identität und der Differenz. In der Dialektik von ‹Buchstaben› und ‹Geist› verdeutlichte bereits Paulus das damit gegebene hermeneutische Problem: «Der Buchstabe», die nicht auf Christus hin gelesene Schrift, «tötet, der Geist», die auf Christus hin verstandene Bibel, «schafft Leben»[2].

I. Das hermeneutische Problembewusstsein im frühen Christentum

Die dominierende Rolle der Hermeneutik beschränkt sich indes nicht allein auf die Anfänge des Christentums. Das Christusgeschehen, das zunächst über die Predigt, dann auch über schriftliche Aufzeichnung weiter tradiert wurde, musste immer wieder in ein die Verkündigung aktualisierendes, in ein Leben schaffendes, spirituelles Wort verwandelt werden, wenn es seine ihm zugedachte Funktion erfüllen sollte. Darin aber liegt der Kern des Problems, mit dem wir es nicht erst heute, sondern bereits in der Patristik zu tun haben. Denn die geforderte Aktualisierung der Botschaft vollzieht sich in Wirklichkeit, entsprechend der zitierten Sätze von Ricœur, stets als ein Interpretieren der ursprünglichen Verkündigung «innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, einer Tradition oder einer lebendigen Geistesströmung».

Dies zeigt die Dogmengeschichte, welche vor allem die mit der Hermeneutik gegebenen Probleme aufzeigt und sich um eine Klärung nicht nur der Gemeinsamkeiten, sondern auch der Unterschiede und Spannungen bei der Entfaltung der christlichen Glaubenswahrheiten bemüht. Nicht weniger haben exegetische Forschungen in den letzten Jahrzehnten das hermeneutische Problembewusstsein geschärft, indem sie bei aller Wahrung des schon durch den gemeinsamen Namen ‹Neues Testament› gegebenen Anspruchs auf eine einheitliche Hermeneutik innerhalb dieser Schriftensammlung doch auch auf die vorhandenen Unterschiede und Spannungen aufmerksam machten.

Dass diese Unterschiede und Spannungen bei der aktualisierenden Interpretation des Kerygmas in den folgenden Jahrhunderten eher zu- als abnahmen, dürfte einleuchten, zumal wenn man bedenkt, dass mit der Verbreitung des Christentums auch jene Faktoren zunehmen mussten, die auf die christliche Hermeneutik einen mehr oder weniger gewichtigen Einfluss ausübten. Zu ihnen zählte allem voran die Philosophie. Nun gilt es sogleich hinzuzufügen, dass das Wort Philosophie bei den christlichen Schriftstellern, Apologeten wie Kirchenvätern, unterschiedliche Assoziationen wachrief. Negative Konnotationen gründen zum Teil im Neuen Testament selbst, wo der Terminus ‹philosophia› in Kol 2, 8 – übrigens die einzige Stelle! – mit «leerem Trug», der nur auf «Menschenüberlieferung» beruht, zumindest verglichen, wenn auch nicht gleichgesetzt wird[3]. Und dennoch vermochten sich über ihre Offenbarungswahrheiten reflektierende christliche Intellektuelle dem Einfluss der Philosophie nicht zu entziehen.

Wieder ist es das Neue Testament selbst, das die Öffnung zur Philosophie wenigstens ansatzweise vornahm. Darauf macht Jan H. Waszink in seinem immer noch lesenswerten Vortrag Der Platonismus und die altchristliche Gedankenwelt, den er 1955 in Genf bei den III. Entretiens sur l'antiquité classique gehalten hatte, aufmerksam. Nach Waszink verlangten schon im Neuen Testament einige Aussprüche, die auf die Philosophie in irgendeiner Form reagierten, eine Deutung. «Gleich am Anfang finden wir da die ersten Worte des Johannesevangeliums, Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, die so viele Federn in Bewegung gesetzt haben ... Es lässt sich nicht leugnen, dass λόγος auch in diesem Zusammenhang ein Terminus der griechischen Philosophie ist, der im Hellenismus allgemeine Bekanntheit gewonnen hatte und der gewiss nicht von dem Verfasser des Johannesevangeliums neu eingeführt wurde; denn wie Walter Bauer zu der Stelle bemerkt: ‹Die Art, wie der Prolog den Logos einführt und dann weiterhin von ihm redet, erklärt sich nur unter der Voraussetzung, dass den Lesern nichts Neues gesagt, sondern ein Begriff gebraucht wird, der ihnen unmittelbar verständlich ist›»[4].

Gewiss geht der Evangelist von der historischen Persönlichkeit Jesu aus, dessen Identität mit dem Christus des Glaubens Kern seiner Verkündigung ist. Aber zugleich will er dem Leser klarmachen, dass dieser Christus der Logos ist, wobei er sich durch das Bekenntnis von der Menschwerdung dieses Logos sogleich wieder gegen jegliche Philosophie, die einen sichtbaren Logos nicht zu akzeptieren vermochte, abgrenzt. Waszink wirft im Kontext seiner Darstellung über die Ambivalenz der Philosophie in der frühkirchlichen Zeit die suggestive Frage auf, «ob nicht, neben der noch immer anhaltenden Geschlossenheit der christlichen Welt der antiken Kultur gegenüber, auch die Erwartung der Parusie in nächster Zeit, wie sie uns in dieser Epoche von allen Seiten entgegentritt, ein Interesse für die Lehren der Heiden nicht hat aufkommen lassen»[5].

Diese Reserve der Philosophie gegenüber wurde mit Ausnahme von Tertullian und Tatian bereits von den Apologeten abgebaut. Gewiss war deren Philosophie weithin eine ekklektische. Dennoch kam dem Platonismus, zunächst dem mittleren, später auch dem Neuplatonismus, wegen seiner Affinität zur natürlichen Theologie ein unbestreitbarer Vorrang zu. Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf Justin, Clemens und Origenes, die alle trotz ihres unterschiedlichen theologischen Anliegens dem Platonismus bei allem Wissen um die Überlegenheit der christlichen Offenbarungslehre doch positiv gegenüberstanden[6].

Das Wissen um die Überlegenheit der Offenbarungslehre äußerte sich vor allem in der kirchlichen Abwehr der Häresien[7]. Zweifelsohne vollzog sich diese Abwehr schon bei den Apologeten nicht selten gerade auch unter Hinzuziehung philosophischer Gedanken. Letzten Endes berief man sich jedoch im kirchlichen Lager ostentativ nicht auf die Philosophie, sondern auf die in der Kirche geltende ‹Glaubensregel›, auf die ‹regula fidei›[8].

Verständlicherweise war es der der Philosophie insgesamt nicht wohlgesonnene Tertullian, der sich in der Abwehr der Häresien mit Vorliebe auf die ‹regula fidei›[9] berief und sich darum auch um eine Klärung dieser wichtigen hermeneutischen Instanz bemüht hat. Seiner Auffassung zufolge bildet die ‹regula fidei› die einzig wahrhafte und authentische Form der christlichen Lehre[10]. Die Glaubensregel ist unveränderlich und mit dem ganzen Inhalt der Offenbarungslehre identisch[11]. Ihre Kennzeichen sind: l. ihr durch die rechtmäßige Tradition in der Kirche beglaubigter Ursprung, wodurch sie sich vor allen Lehren der Philosophie auszeichnet, 2. ihre Priorität gegenüber allen häretischen Traditionen und 3. ihre Totalität, wodurch sie sich wieder von der in sich widersprüchlichen Philosophie unterscheidet. Tertullian hält nämlich ein endloses philosophisches Fragen mit dem Glauben für unvereinbar. Innerhalb der Offenbarungslehre kann und soll auch geforscht werden. Es werden aber dadurch keine neuen Wahrheiten mehr entdeckt, denn «quod a deo discitur, tolum est»[12] und «aduersus regulam nihil scire. omnia scire est»[13].

Die Glaubensregel, die als oberste hermeneutische Norm den Inbegriff der heilsnotwendigen Lehre darstellt, ist nicht nur antihäretisch, sondern auch für die christliche Unterweisung maßgebend: sie bewahrt den rechten Zusammenhang des Schriftinhaltes und vermittelt sowohl wahre Gotteserkenntnis wie auch Einsicht in die Weltordnung. Ergänzend sei noch erwähnt, dass bereits Irenäus über die Glaubensregel ausführlich reflektierte, und dass auch bei ihm der Begriff ‹regula ueritatis› – er verwendet mit Vorliebe den Terminus κανὼν τῆς ἀληθείας – eigentlich nicht irgendeinen Bibeltext oder einen fixierten Lehrsatz, sondern die Wahrheit der in der göttlichen Offenbarung bezeugten Tatsachen der Verkündigung meint[14].

II. Die Rolle der Hermeneutik bei der Bekehrung Augustins

Als Augustin die theologische Szene betrat, war die Philosophie – vorzüglich in der Form des Mittleren Platonismus[15] – eine der kirchlichen Lehre kritisch assimilierte, in bestimmten Teilen auch in sie integrierte Größe. Denn, wie erwähnt, hatte die Kirche in ihren Auseinandersetzungen mit den Häresien – und nicht zuletzt mit der Philosophie, speziell dem Platonismus – Regeln der Hermeneutik entwickelt, mit denen sie ihre Eigenständigkeit inmitten fluktuierender Weltanschauungen behaupten konnte.

Was den Platonismus betrifft, so war dieser in dem Kreis, in dem Augustin in Mailand verkehrte[16], gerade in der Form des Neuplatonismus en vogue. Sein Einfluss auf die Bekehrung Augustins durch die Klärung einer ‹geistigen Substanz›[17] ist sattsam bekannt, wenngleich exakte Antworten auf einige mit der Bekehrung zusammenhängende Fragen immer noch ausstehen[18]. Augustins Frühschriften lassen über diesen Einfluss der Neuplatoniker keinen Zweifel aufkommen. Welche Faszination ihre Philosophie auf den Neubekehrten ausübte, zeigen Stellen wie De ordine l,18. Augustin vertritt dort die Meinung, diese Philosophie ließe sich als eine Lehre über die Seele und über Gott – Thema der Soliloquien – bezeichnen: «Die erste bewirkt, dass wir uns selbst, die letztere, dass wir unseren Ursprung erkennen». Dennoch wird man auch dem Bericht der Confessiones über jene Kontakte mit den ‹Platonicorum libri›, der die Rolle der kirchlichen Hermeneutik schon beim ersten Vergleich der platonischen mit der kirchlichen Lehre so betont hervorhebt, wenigstens ein Körnchen Wahrheit nicht streitig machen dürfen: «dort las ich ... dort las ich dagegen nicht ..., wohl fand ich in diesen Schriften ..., (das jedoch) enthielten diese Bücher nicht»[19]. Sicher ist dieses Sondieren platonisch-neuplatonischer Gedanken von der offenbarten Wahrheit das theologische Gutachten des Bischofs[20]. Man wird aber annehmen müssen, dass Augustin bereits im christlich-neuplatonischen Kreis auf diese fundamentalen dogmatischen Unterschiede aufmerksam gemacht wurde[21].

Die Frage, wie weit Augustin schon zur Zeit seiner Bekehrung die Normen der kirchlichen Hermeneutik beherrscht hatte, bleibe dahingestellt. Es ist bekannt, dass er in seinem ersten Enthusiasmus für die Philosophie noch manches vermengt hatte, was ihm später missfiel und was er deshalb in seinen Retractationes auch zurechtrückte[22]. Wenden wir uns nochmals kurz dem Bericht der Confessiones über den dort angestellten Vergleich der Lehre der Platoniker mit der Lehre der Kirche zu. Er ist für unser Thema insofern wichtig, als uns Augustin darin ungefähr zu der Zeit, da er an De doctrina christiana arbeitete, zuverlässige Auskunft darüber erteilt, was er an der Lehre der Platoniker nicht nur billigte, sondern mit der Lehre der Kirche gleichsetzte. Die Platoniker, sagt Augustin, würden manches zwar nicht mit den Worten des Evangelisten lehren, jedoch – und diese Feststellung scheint mir wichtig zu sein: «durchaus dasselbe – hoc idem omnino – durch viele und vielfältige Vernunftgründe glaubhaft gemacht – multis et multiplicibus suaderi rationibus».

Was Augustin an den Platonikern im Blick auf die Übereinstimmung ihrer Lehre mit der Offenbarung rühmt, ist der rationale Charakter ihrer Lehre. Er kommt darauf auch in anderen Schriften immer wieder zurück[23]. Im einzelnen erwähnt er ihre natürliche Gotteserkenntnis sowie die Methode dieser in Übereinstimmung mit Rm l,19sq. betriebenen Erschließung Gottes durch die Schau des Geschaffenen und im Zusammenhang damit ihre Fähigkeit, Veränderliches vom Unveränderlichen, Zeitliches vom Ewigen unterscheiden zu können[24]. Die Platoniker reflektierten über die geistige Natur des Logos und schienen eine Ahnung von der Trinität gehabt zu haben[25]. Vor allem aber habe Platon die Philosophie durch Hinzufügung der Dialektik, der Erkenntnislehre zur Ontologie (Naturphilosophie) und zur Ethik (Moral) zu ihrer Vollendung gebracht. Zugleich hätten die Platoniker Gott zum Prinzip all dieser drei philosophischen Disziplinen erklärt[26].

Diese Rückbindung der philosophischen Disziplinen an Gott scheint Augustin für die Bewertung der Philosophie Platons ganz besonders wichtig zu sein. Sie ist, zumal im Blick auf die Folgerungen, die Augustin daraus zieht, auch für unser Thema nicht belanglos: «Vielleicht vertreten diejenigen, die man weithin als scharfsinnigste und zuverlässigste Kenner Platons rühmt, der ja allen übrigen heidnischen Philosophen mit Recht bei weitem vorgezogen wird, die Ansicht, dass bei Gott die Ursache des Seins, der Grund des Erkennens und die Ordnung des Lebens zu finden ist, drei Aussagen, von denen sich die erste auf den natürlichen, die zweite auf den rationalen, die dritte auf den moralischen Teil der Philosophie bezieht. Wenn nämlich der Mensch so von Gott geschaffen ist, dass er mit dem, was sein Höchstes ist, das, was das Höchste von allem ist, nämlich den einen, wahren, besten Gott berührt, ohne den kein Wesen besteht, keine Lehre einleuchtet und keine Betätigung frommt, nun wohlan, so soll man ihn suchen, in welchem alles wirklich ist, auf ihn schauen, in welchem alles gewiss ist, ihn lieben, in welchem alles gut ist»[27].

III. Die hermeneutische Grundschrift: De doctrina christiana

Wenn wir uns im folgenden den Prinzipien der Hermeneutik Augustins, wie er diese im ersten Buch seines schon erwähnten Werkes De doctrina christiana dargestellt hat, zuwenden, so gilt es die soeben gehörte Folgerung aus der (im Sinne Augustins) von den Platonikern vorgenommenen Zentrierung des gesamten philosophischen Denkens im Gedächtnis zu behalten. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang sogleich auch daran, dass Augustin seine Hermeneutik laut Prolog von De doctrina christiana gegen bildungsfeindliche Kreise verfasst hatte, die sich mit ihrem Schriftverständnis allein an innere und darum auch unkontrollierbare Eingebungen klammerten. Augustin aber ging es um Erkenntnisse, die er sich im Umgang mit den Disziplinen erworben hatte, und deshalb verteidigte er sein wissenschaftliches Unternehmen mit einer philosophisch-theologischen Argumentation bereits im Prolog[28]. Der hohe theoretische Anspruch seiner Ausführungen über die zahlreichen hermeneutischen Regeln, die «praecepta tractandarum scripturarum»[29], macht allein schon verständlich, weshalb gerade diesem Werk eine epochale Bedeutung zukam. Indes, die einzelnen, sorgfältig erörterten hermeneutischen Regeln stehen nicht unverbunden nebeneinander. Ihnen sind Prinzipien übergeordnet und es versteht sich, dass Augustins Hermeneutik in seiner Lehre über diese Prinzipien kulminiert.

a) Das theoretische Gerüst der augustinischen Hermeneutik

Augustin eröffnet seine Studie mit dem Hinweis auf die Hauptgliederung: «Um die Erkenntnis zweier Dinge geht es bei jeglicher Beschäftigung mit der hl. Schrift: um die Auffindung dessen, was verstanden werden soll, sodann um die Darstellung des Verstandenen» (1,1)[30]. Nach der rhetorischen Tradition handelt der erste Teil (Bücher I-III) von der ‹inuentio›, der zweite (Buch IV) von der ‹elocutio›. Er nennt dann die beiden Gegenstände jeglicher Wissenschaft bzw. Lehre: «Jede Lehre hat entweder Sachen oder Zeichen zu ihrem Gegenstand», «die Sachen jedoch werden durch die Zeichen erlernt» (1,2). Nach Klärung der ‹res›, der Gegenstände, die in Bezug auf die Interpretation nicht zugleich auch Zeichen sind, und der ‹signa›, die dagegen immer auch Dinge, ‹res› in der Weise sind, dass sie auf anderes verweisen, folgt die wichtige, den Gang der weiteren Untersuchung bestimmende Feststellung: «Aus diesem Grunde ist jedes Zeichen zugleich irgendwie auch eine Sache..., hingegen ist nicht jede Sache zugleich auch ein Zeichen» (ebd.).

Man könnte aufgrund dieser Feststellung meinen, jenen Dingen, die sich über ihr Dingsein hinaus noch durch ihr Zeichensein auszeichnen, käme, auf welche Weise auch immer, ein Vorrang zu. Doch das ist nicht der Fall. Es heißt vielmehr: «Zuerst sei von den Sachen, sodann von den Zeichen die Rede» (ebd.), und zwar nicht nur im Blick auf die Methode. Denn, um es gleich vorwegzunehmen, die Begriffe ‹res› und ‹signum› werden in der Hermeneutik wie auch in der Erkenntnislehre Augustins zu einem Schema verbunden und wie ein Schema auch gehandhabt. Über das Verhä1tnis der beiden Glieder innerhalb des übrigens nicht der Bibel, sondern der stoischen Philosophie entnommenen Schemas hatte Augustin bereits in seiner Frühschrift De magistro ausgiebig nachgedacht. Er kam dort aufgrund seiner höchst eigenständigen und eigenartigen Erörterung über die Funktion der Zeichen im Prozess des Lehrens und Lernens zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Zeichen nichts lehrten, weil man stets schon das Bezeichnete kennen müsse, um das Zeichen verstehen zu können. Lehren wie Lernen seien innere Vorgänge, während sich die gnoseologische Funktion der Zeichen prinzipiell im Bereich des ‹foris› als ‹admonitio›, als ‹aufmerken lassen› abspiele. Augustin fasste das Ergebnis seiner Untersuchungen in dem Satz zusammen: «Eher kann man ein Zeichen durch die schon gekannte Sache erlernen als die Sache selbst durch das ihr gegebene Zeichen»[31].

Es sei noch hinzugefügt, dass er diesen Satz nicht zurücknahm und dass er infolgedessen auch das hermeneutische Programm von ‹res per signa - die Sache durch Zeichen› im Lichte der Zeichenlehre von De magistro verstanden wissen wollte. Aus diesem Grunde darf auch das Buch I von De doctrina christiana nicht bloß als Einleitung zu den übrigen betrachtet werden[32], es ist vielmehr die ‹Sachmitte› des gesamten Werkes, in der Terminologie Augustins: die ‹res› des in den übrigen Büchern behandelten Stoffes, deren Kenntnis entsprechend der dem ‹signum-res›-Schema zugrundeliegenden Erkenntnislehre dem Verstehen der Zeichen notwendigerweise vorausgehen muss[33].

Die Erörterung der ‹res› beginnt abermals mit einem bibelfremden Schema, nämlich dem ebenfalls der Philosophie, der antiken Güterlehre entnommenen Begriffspaar ‹frui-uti›[34]. Augustin definiert ‹frui› als «einer Sache um ihrer selbst willen in Liebe anhangen» und ‹uti› als «das zum Gebrauch Bestimmte auf das zu beziehen, was zu lieben erstrebenswert ist – vorausgesetzt, dass es überhaupt der Liebe wert ist» (1,4). Den so definierten Gliedern des Schemas zufolge sind die ‹res› entweder Gegenstände des ‹frui› oder des ‹uti›. Allein die um ihrer selbst willen zu erstrebenden Objekte des ‹frui› machen den Menschen glücklich. Alle anderen sind als ‹res utendae› nichts als Mittel zum Zweck.

Augustin erblickt darin nichts Diskriminierendes, denn nur als solche «fördern sie unser Streben nach Glückseligkeit und bieten uns sozusagen die Handhabe, um zu jenen zu gelangen, die uns selig machen, und um ihnen anhangen zu können» (1,3), Er unterstreicht also den rein instrumentellen Charakter der ‹res utendae›, indem er diese im Bilde einer Reise aus der Fremde ins Vaterland mit Wagen und Schiffen, d.h. mit Verkehrsmitteln vergleicht. Auf 2 Cor 5,6. «peregrinantes a domino» anspielend, geht es jedoch bei der Reise des Lebens um die Rückkehr in jenes Vaterland, in dem die Menschen allein glücklich sein können. Und für diese Reise gilt sein Rat: «Die Welt ist zu gebrauchen, nicht zu genießen, und zwar so, dass man ‹das Unsichtbare› an Gott ‹durch das Erschaffene geistig schaut›, d.h. dass wir durch den Gebrauch körperlicher und zeitlicher Sachen bleibende, geistige Güter erhalten» (1,4). Reise meint somit den Aufstieg zu Gott mittels der als ‹res utendae› zu betrachtenden Schöpfung. ‹Res utendae› sind die ‹corporalia› und die ‹temporalia›. ‹Res fruendae›, so darf man folgern, die ‹spiritalia› und die ‹aeterna›. Auf das Zitat von Rm 1,20 werden wir noch zurückkommen.

Die Erörterung wendet sich nun jenen ‹res› zu, die allein Gegenstand des‹frui› sind. Genannt wird die Trinität: «eine einzigartige, höchste Sache, die all jenen gemeinsam ist, die sie genießen – es ist allerdings eine Frage, ob der Name Sache angebracht ist. Sollte man sie nicht besser Ursache aller Sachen nennen oder schlicht Ursache überhaupt?» (1,5). Sowohl in neuplatonischer[35] wie auch in biblischer Terminologie[36] wird, durchaus im Bewusstsein der Inadäquatheit der menschlichen Sprache, der Versuch gemacht, Gottes Wesen – in einem Streit um Worte – begrifflich zu fassen. In gut platonischer Argumentation wird Gott als die ‹summa res› für jenes Wesen gehalten, das jeder des Denkens Fähige allen übrigen ‹res› vorzieht (1,7). Beim wertenden Vergleich aller übrigen ‹res› gelangt der sozusagen der neuplatonischen Stufenontologie entlang Reflektierende zur Stufe des vernünftigen, jedoch veränderlichen Lebens geistbegabter Wesen. Der Begriff ‹veränderlich› assoziiert ‹unveränderlich›. Unveränderliche Intelligenz bzw. Weisheit ist der veränderlichen vorzuziehen. Ein weiteres Schema also, nämlich das der platonischen Ontologie entstammende Begriffspaar ‹mutabile-inmutabile› macht den absoluten Vorrang der ‹res› mit dem Attribut ‹incommutabilis› vor den ‹res› mit dem Attribut ‹commutabiles› im Rahmen der vorgegebenen Metaphysik unmittelbar einsichtig.

Eine ‹regula ueritatis›, so sagt Augustin, die sich selbst durch das Stigma der Unveränderlichkeit auszeichnet, bezeugt und garantiert den ontologischen Unterschied zwischen den mit dem Schema bezeichneten beiden Seinsebenen: «Diese Wahrheitsregel, durch welche sie jene (unwandelbare Seinsebene) als die bessere kundgeben, halten sie selbst für unveränderlich. Wie könnten sie auch anders, da sie diese nirgends sonst als über ihre eigene wandelbare Natur finden» (1,8). Es überrascht nicht, wenn diese Erörterungen über das Wesen der ‹summa res› in einen Appell zur Seelenläuterung einmünden, «damit die Geistseele jenes Licht zu schauen und ihm in Liebe anzuhangen vermöge». Wer erkennt nicht die Sprache der Neuplatoniker! Die ‹purgatio› wird selbst zur ‹ambulatio› und zur ‹nauigatio ad patriam›. Das Leitmotiv der Reise, die Rückkehr ins Vaterland, beschließt den Abschnitt über die ‹res fruenda›. «Zu dem, der überall gegenwärtig ist, bewegen wir uns ja nicht durch Räume, sondern durch guten Eifer und gute Sitten» (1,10)[37].

Halten wir inne und werfen wir nochmals einen Blick auf das theoretische Gerüst der Argumentation dieser von Augustin so gezielt an die Spitze seiner Darstellung gesetzten Erörterung über den ersten und offensichtlich wichtigeren Teil der ‹res›, mit dem es seine Hermeneutik zu tun hat. Zunächst ist daran zu erinnern, dass das ‹signum-res›-Schema der gesamten Erörterung von De doctrina christiana zugrunde liegt und dass infolgedessen die ‹summa res› sich allen anderen ‹res› gegenüber dadurch auszeichnet, dass, während diese Augustins Definition zufolge auch zu ‹signa› werden können, solches für sie per definitionem unmöglich ist. Dies verdeutlichen auch die Schemata ‹uti-frui› und ‹mutabile-inmutabile›. Gewiss dürfen die Schemata nicht einfach ausgetauscht werden, da sie den verschiedenen Disziplinen der Philosophie angehören: ‹signum-res› der Erkenntnistheorie, ‹uti-frui› der Ethik und ‹mutabile-inmutabile› der Ontologie. Vergleicht man aber die Glieder dieser Schemata miteinander, so sind funktionelle Gemeinsamkeiten zwischen ‹signum› und ‹uti› und ‹mutabile› einerseits und zwischen ‹res› und ‹frui› und ‹inmutabile› andererseits zumal im Blick auf ihre gemeinsame Metaphysik bei Augustin kaum zu verkennen. Bei allen Begriffspaaren kommt dem jeweiligen zweiten Glied absoluter Vorrang gegenüber dem ersten zu. Bei allen Schemata ist das erste Glied auf das zweite zu beziehen bzw. auszurichten, das ‹signum› auf die ‹res›, ‹uti› auf ‹frui› und das ‹mutabile› auf das ‹inmutabile›. Erinnert sei sodann auch daran, dass Augustin die Platoniker deshalb rühmt, weil nach ihrer Lehre bei Gott die Ursache des Seins, der Grund des Erkennens und die Ordnung des Lebens zu finden seien, drei Aussagen, von denen sich die erste auf den natürlichen, die zweite auf den rationalen, die dritte auf den moralischen Teil der Philosophie bezieht. Bei gebührender Erwägung all dieser Faktoren wird man sich über die platonisch-philosophischen Grundlagen der Prinzipien seiner Hermeneutik nicht wundern. Hinzukommt das Zitat aus Rm l,20 von der natürlichen Gotteserkenntnis im Kontext einer rein philosophischen Argumentation. Dies alles verdeutlicht Augustins Absicht: Er wollte die Bibelhermeneutik nicht isolieren, sondern sie in einer alle Disziplinen umfassenden Fundamentalhermeneutik integriert wissen.

b) Der transitorische Charakter der Glaubenswahrheiten in der Optik der augustinischen Hermeneutik

In den Kapiteln 11-19 wendet Augustin sich den ‹res› der Heilsgeschichte zu, die er als ‹mutabiles› zu den ‹res utendae› zählt. Das Thema von der Rückkehr aufgreifend, beginnt ihre Darlegung bei der Inkarnation der unveränderlichen göttlichen Weisheit als des Inbegriffs der ‹patria›. Da wir Menschen aus eigener Kraft die Rückkehr nicht leisten können, inkarnierte sich die Weisheit. Das Ziel selbst wurde für uns Weg zum Ziel: «Da sie (die Weisheit) selbst die Heimat ist, wollte sie uns auch Weg zur Heimat werden» (1,11). Den Unterschied zwischen den beiden ‹res› veranschaulicht aufs beste das christologische Schema ‹via-patria›. Als ‹via› gehört Christus ontologisch auf die Ebene der ‹mutabilia›, der ‹res utendae›, der ‹signa›. Als ‹patria› ist er der Logos. Augustin verdeutlicht den Unterschied zwischen den beiden Seinsweisen am Geheimnis der Inkarnation selbst: «Wie also kam sie, wenn nicht dadurch, dass ‹das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat›? (Sie kam in der Weise der Sprache.) Wenn wir sprechen, bemühen wir uns, dass unsere Gedanken durch das fleischliche Ohr zum Geist des Hörers gelangen. Das Wort, das wir im Herzen tragen, wird zum Schall und heißt dann Rede. Und dennoch verwandelt sich der Gedanke nicht in den Schall. Er bleibt vielmehr unversehrt, nimmt aber, ohne auch nur einen Makel der Veränderung zu erleiden, die Form der Stimme an, um so ins Ohr eindringen zu können. So ist auch das Wort Gottes unverändert Fleisch geworden, um unter uns zu wohnen» (1,12).

Ich brauche auf die Darstellung der übrigen als ‹res utendae› zu verstehenden zentralen Glaubenswahrheiten, die Augustin wohl in Anlehnung an das Apostolikum aufführt, nicht einzugehen. Es sind das die Glaubensartikel. Sie werden, obgleich der Terminus ‹Glaubensregel› in De doctrina christiana l nicht vorkommt, sicher als Richtschnur für die im zweiten und dritten Buch behandelten niederen hermeneutischen Regeln hier schon sorgfältig dargelegt[38].

In den Kapiteln 22-34 erörtert Augustin das ‹uti-frui› Schema im Blick auf den Menschen, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Gebotes der Nächstenliebe. Wir können uns hinsichtlich der breit angelegten exegetischen Darstellung kurz fassen, weil die gestellte Frage, ob der Nächste Gegenstand des ‹uti› oder des ‹frui› ist (die Frage wird dann auch auf das eigene Ich, auf den Körper und sogar auf die Engel ausgedehnt), im Lichte der Schemata sozusagen schon von vornherein eindeutig beantwortet ist. Augustin legt deshalb auch sogleich seine Auffassung dar: «Es erhebt sich die Frage, ob der Mensch vom Menschen um seiner selbst zu lieben ist oder wegen etwas anderem. Ist er um seiner selbst willen zu lieben, so genießen wir ihn, ist er wegen etwas anderem zu lieben, so gebrauchen wir ihn. Meines Erachtens ist er wegen etwas anderem zu lieben. Denn was um seiner selbst willen zu lieben ist, darin gründet bereits das selige Leben. In dessen Besitz befinden wir uns noch nicht, wenngleich uns die Hoffnung darauf bereits in dieser Zeit tröstet». Er unterstreicht seine Argumentation mit dem Bibelwort aus Jer 17,5: «Verflucht aber ist, wer seine Hoffnung auf einen Menschen setzt» (l,20).

Das ebenfalls herangezogene Schema ‹mutabile-immutabile› unterstützt das Argument und vertieft es. «Dann ist der Mensch am allerbesten dran, wenn er mit seinem ganzen Leben das unveränderliche Leben erstrebt, wenn er sein ganzes Herz daran hängt. Liebt er sich aber um seiner selbst willen, so setzt er sich nicht zu Gott in Beziehung; er wendet sich vielmehr zu sich selbst, nicht zu etwas Unveränderlichem. Aus diesem Grunde wohnt dem Selbstgenuss bereits ein Defekt inne. Denn der Mensch ist nur dann besser, wenn er ungeteilt dem unveränderlichen Gut anhängt und daran festhält, als wenn er von dieser Bindung nachlässt, um sich wieder sich selber zuzuwenden. Darfst du also nicht einmal dich selbst um deinetwillen lieben, sondern nur um dessentwillen, in dem das bündigste Ziel deiner Liebe ruht, so soll dir auch kein anderer Mensch deswegen zürnen, wenn du ihn nur Gott wegen liebst» (1,21).

Es ist m.E. nicht unwichtig zu sehen, dass Augustin das biblische Doppelgebot der Liebe, das er bei diesen seinen philosophischen Überlegungen zweifelsohne schon anvisiert hatte, jetzt erst zur Sprache bringt: «Das ist nämlich die von Gott vorgeschriebene Regel der Liebe» (ebd.). Mt 22,37-39 bestätigt einerseits das argumentativ Gesagte. Andererseits leitet die argumentativ gewonnene Einsicht die Exegese zu Mt 22,37 und 39b. Ihr Ergebnis ist das gleiche: Keine ‹res› außer der Trinität kann – unbeschadet des Gebotes der Nächstenliebe – Gegenstand des ‹frui› sein.

Da Augustin die Liebesgebote, die ‹praecepta› von den Schemata her in den Blick nimmt, vermag er auch die Liebe auf Gott, auf die ‹summa res› zu konzentrieren. Er interpretiert in De doctrina christiana l das zweite Gebot, von dem der Matthäustext immerhin sagt, dass es dem ersten gleich ist – im zitierten Text fehlt diese neutestamentliche Verbindung –, in einer charakteristischen Ausrichtung auf das erste Gebot. Nach der Exegese Augustins beinhaltet das zweite Gebot einen für sein theozentrisches Denken aufschlussreichen Imperativ, nämlich dahin zu wirken, dass auch der Nächste Gott liebe. Erst wenn der Christ seinen Nächsten auf diese Weise wie sich selbst liebt, bezieht er seine ganze Selbst- und Nächstenliebe auf jene Gottesliebe, welche die Liebe sozusagen allein beansprucht, «die es nicht zulässt, dass von ihrem Strom auch nur ein Bächlein abgeleitet werde, wodurch sie einen Verlust erleiden könnte» (ebd.). Augustin, der also die ‹regula dilectionis› und die ‹dilectio› selbst zu ‹frui› in Verbindung setzt, scheint das Gebot der Gottesliebe im Sinne der Ausschließlichkeit zu deuten: «Da er aber sagt: ‹aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Geiste›, lässt er keinen Teil des Lebens übrig, der säumig sein könnte und sich gewissermaßen die Gelegenheit verschaffte, eine andere Sache zu genießen. Es soll vielmehr, was immer sich der Seele als Liebenswürdiges darbietet, dorthin mitgerissen werden, wohin der ganze Strom der Liebe läuft» (ebd.).

Ehe Augustin im Kapitel 35 seine Erörterungen über die ‹res› zusammenfasst, verdeutlicht er nochmals den transitorischen Charakter der Heilsgeschichte an deren Kern, der Inkarnation des Verbum. Er zieht ein ganzes Bündel einschlägiger Bibelstellen zusammen, darunter auch 2 Cor 5,16 «et si noueramus Christum secundum carnem, sed iam non nouimus», um zu zeigen, worauf es im Umgang mit den ‹res› der ‹dispensatio temporalis› inklusive dem Christus im Fleische ankommen darf. Es ist dies der Aufstieg, das ‹transire›. Die Inkarnation hatte kein anderes Ziel. «Daran wird ersichtlich, dass uns nichts auf dem Wege fesseln darf, da ja nicht einmal der Herr selbst, sofern er sich gewürdigt hat, unser Weg zu sein, verlangt, dass wir uns bei ihm aufhalten. Er wollte, dass wir an ihm vorübergehen sollen, damit wir nicht durch die zeitlichen Dinge, die er um unsers Heiles willen auf sich nahm und ausführte, schwächlich hängen blieben. Er wollte vielmehr, dass wir durch alle diese Dinge hindurcheilen, damit wir wie im Flug zu dem vorzudringen vermögen, der unsere Natur vom Zeitlichen befreit und zur Rechten des Vaters gestellt hat» (1,38).

Man würde Augustin natürlich gründlich missverstehen, wollte man annehmen, die heilsgeschichtlichen ‹res› seien sekundär im Sinne von überflüssig. Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil die biblische Hermeneutik, deren Klärung doch der eigentliche Anlass zur Abfassung von De doctrina christiana war, es zunächst mit dem rechten Verstehen dieser von der ‹auctoritas diuina› zu unserem Heil inszenierten ‹res› zu tun hat. Die in der hl. Schrift aufgezeichneten ‹res›, die zur Liebe führen und deshalb auch von der Liebe her verstanden sein wollen, sind Gegenstände der ‹fides›. Ein oberflächlicher Umgang mit ihnen in Form einer der ‹regula fidei› absichtlich widersprechenden Interpretation hätte negative Folgen für die geforderte Liebe: «Es gerät aber der Glaube ins Wanken, sobald das Ansehen der hl. Schrift wankt. Fällt aber einer vom Glauben ab, so muss er auch von der Liebe abfallen; er kann ja nicht lieben, an dessen Existenz er nicht glaubt» (1,41).

Indes, die ‹res› der ‹fides› stehen nicht allein im Dienste der Liebe, sondern auch im Dienste der Erkenntnis Gottes, der Einsicht in die letztlich mit der ‹summa res› identischen Trinität als des Inbegriffs der Wahrheit. Augustin kannte den Satz aus Platons Timaios: «Wie die Ewigkeit zum Gewordenen, so verhält sich die Wahrheit zum Glauben»[39]. Auch wenn er ihn in De doctrina christiana nicht zitiert, so liegt er doch nach allem, was wir gesehen haben, seinen Ausführungen über die Zweiteilung der ‹res› im Sinne der ‹regula ueritatis› zugrunde. Gleiches intendiert die ‹regula dilectionis›, weil diese die ‹dilectio› auf das ‹frui› hin ausrichtet. Wann immer die Bibelhermeneutik sich von der so verstandenen ‹dilectio› leiten lässt, wird sie nicht irre gehen, weil der die biblischen Texte Deutende von diesen letztlich zur Liebe angehalten wird.

Indem er aber zur Gottes- und zur Nächstenliebe in dem von Augustin dargelegten Sinn angehalten wird, wird er sich dessen gewahr, worauf die gesamte ‹dispensatio temporalis› in ihrer Zeichenhaftigkeit zusammen mit der Schöpfung zu beziehen ist. Somit lautet Augustins Zusammenfassung: «Alles, was vom Beginn dieser Abhandlung an über die Sachen gesagt worden ist, zielt in summa auf die Erkenntnis, dass ‹die Fülle› und ‹das Ziel des Gesetzes› und aller göttlichen Schriften die Liebe zu jener Sache ist, die uns zum Genuss bestimmt ist, ferner zu jener Sache, die mit uns zum Genuss eben dieser Sache befähigt ist (sc. der Mensch). Denn dass sich einer selbst liebt, dazu bedarf es keiner Vorschrift. Um dieses Ziel erkennen und erreichen zu können, ist die ganze zeitliche Anordnung (Heilsgeschichte) durch die göttliche Vorsehung zu unserem Heil getroffen worden. Wir sollen uns ihrer bedienen, nicht mit einer Liebe und einem Gefallen, die bleiben, sondern die vorübergehen. Wir sollen sie benutzen wie Wege, wie Fahrzeuge und andere Beförderungsmittel, oder was es sonst an passenderen Namen dafür gibt, damit wir das, womit wir befördert werden, allein um dessentwillen lieben, zu dem wir befördert werden» (1,39).

IV. Resümee

Wenn ich hier ein Resümee ziehe, so werde ich der Frage, ob Augustins Hermeneutik – wenigstens was deren Prinzipien betrifft –- nicht doch eher platonisch als biblisch zu nennen ist, kaum ausweichen dürfen. Ich will dabei an das eingangs im Anschluss an das Ricoeur-Zitat über die Rolle der Hermeneutik bei einer Aktualisierung der christlichen Botschaft Gesagte erinnern. Jegliche Aktualisierung vollzieht sich in einer lebendigen Geistesströmung. Dies gilt nicht nur von der Verkündigung, sondern auch – wer weiß dies nicht! – von der theoretischen Arbeit an einer Sache bzw. an einem Sachverhalt, in unserem Fall an der biblischen Offenbarung. Daher stellt sich die dogmengeschichtlich brennende Frage: Zu welchen Ergebnissen führte das jeweilige theoretische Durchdringen der Offenbarungslehre? Wurde sie vertieft, durch bestimmte Aspekte bereichert oder verzerrt und entstellt, gar verfälscht?

Im Blick auf unser Thema, die Prinzipien der Hermeneutik Augustins, ist eine solche Fragestellung schon deshalb nicht weniger brennend, weil die Hermeneutik das Denken eines Menschen weithin offen legt. So werden auch in der Hermeneutik Augustins die Wurzeln seines Denkens sichtbar. Der platonische Anteil daran kann schwerlich bestritten werden, zumal Augustin selbst sich Zeit seines Lebens zur Philosophie der Platoniker bekannt hatte, freilich zu einer dem Christentum angepassten, weshalb diese sich von der der Neuplatoniker wieder deutlich abhob, wie dies Goulven Madec in seinem Artikel "Si Plato uiueret ... .» im Anschluss an Aimé Solignac gezeigt hat. Es ist richtig: Augustin verwendet neuplatonische Begrifflichkeit lediglich als Arbeitsinstrument (comme des instruments techniques)[40], um seine eigene Metaphysik zu konstruieren. Aber, korrespondiert diese seine mit neuplatonischer Begrifflichkeit aufgebaute Metaphysik mit der biblischen Offenbarungslehre oder steht sie zu ihr, zu Teilen von ihr, nicht in Spannung? Ich nenne als Beispiel seine zweifelsohne auch von seiner Metaphysik getragene Gnadenlehre, seine nicht allen neutestamentlichen Schriften gerecht werdende Christologie von oben sowie den damit zusammenhängenden Vorrang der Trinitätslehre vor der Christologie, seine eudämonistische und metaphysisch ausgerichtete Ethik und Gesellschaftslehre.

Gewiss wäre es eine grobe Vereinfachung, wollte man den Grund aller Spannungen in der Theologie Augustins nur auf seinen Neuplatonismus zurückführen. Die Auflösung einer viele Tendenzen gleichzeitig in sich bergenden Spätzeit bedingte bei ihm vielfältige und nachhaltige Auseinandersetzungen mit zahlreichen sich widersprechenden Strömungen, durch die sich Augustin, ohne einen festen Stand von Anfang an zu besitzen, in einer ungewöhnlich reichen Entwicklung hindurchbewegt hatte. Da sie alle Spuren in seinem Werk hinterließen, ist dieses oft vieldeutig und schwer zu interpretieren. Keiner der großen Väter hat daher so viele entgegengesetzte und strittige Deutungsprobleme hinterlassen wie er. Einige davon – und wie mir scheint nicht die geringsten! – gründen in den Prinzipien seiner Hermeneutik selbst, die – das wird man gerne zugeben – gerade durch ihre Klarheit und Geschlossenheit bestechen und, aufs Ganze gesehen, nicht nur der Bibelexegese, sondern auch der von Augustin intendierten und das ganze Mittelalter hindurch weithin dominierenden Fundamentalhermeneutik unschätzbare Dienste erwiesen.

Und noch eine Schlussbemerkung: Eines wird man der in ihren Prinzipien gipfelnden Hermeneutik Augustins trotz der zu ihrer theoretischen Begründung herangezogenen bibelfremden Begrifflichkeit nicht nachsagen können: sie habe die christliche Offenbarungslehre verflacht. Das aber ist nicht nur im Blick auf die Theologiegeschichte, sondern auch – und vielleicht erst recht – im Blick auf die Gegenwart nicht wenig.

--------------------------------------------------------------------------------

[1] P. Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I. Aus dem Französischen (Le conflit des interpretations. Essai d’herméneutique, Paris 1969) von J. Rütsche, München 1982, S. 11.

[2] 2 Kor 3,6; dazu R. Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, Tübingen 51965, S. 260-270.

[3] Zur negativen Konnotation des Begriffe φιλοσοφία in Kol 2,8: O Michel, φιλοσοφία, in: Theol. Wörterbuch zum NT, 9, Stuttgart/Berlin/öln/Mainz 1973, S. 169-185, spez. S. 182f.

[4] Abgedruckt in: Recherches sur la tradition platonicienne, Genf 1955, S. 137-179.

[5] Art. cit. S. 143.

[6] Einzelheiten und einschlägige Stellen bei R. Arnou, Platonisme des Pères, in: Dictionaire Theol. Cath. 12 (1935) Sp. 2258-2392. Zu Justin : C. Andresen, Justin und der mittlere Platonismus, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 44 (1952/53) S. 157-197; zu Clemens: P. Camelot, Clément d’Alexandrie et l’utilitsation de la philosophie grecque, in: Recherches des sciences religieuses 21 (1931) S. 541-569; zu Origenes: Vier Bücher von den Prinzipien. Hrsg., übersetzt, mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen von H. Görgemanns und H. Karpp, Darmstadt 1976.

[7] H.E.W. Turner, The Pattern of Christian Truth. A Study in the Relations between Orthodoxy and Heresy in the Early Church, London 1954.

[8] Zum Thema Glaubensregel: D. van den Eynde, Les normes de l’enseignement chrétien, Gembloux/Paris 1933; speziell für Irenäus und Tertullian: E. Flessemann van Leer, Tradition and Scripture in the Early Chrurch, Assen 1953. In diesen Ausführungen über Tertullians Lehre von der ‹regula fidei› beziehe ich mich auf den Aufsatz von G. Hägglund, Die Bedeutung der ‹regula fidei› als Grundlage theologischer Aussagen, in : Studia Theologica 12 (1958) 1-44.

[9] Weitere bei Tertullian vorkommende Termini: ‹lex fidei›: De uirg. uel. 1,4; De spect. 4,1; ‹regula ueritatis›: De praescr. 36; ‹authentica regula›: Adu. Valent. 4.

[10] De monog. 2,3.

[11] Siehe E. Flesseman van Leer, op. cit. S. 165sqq.

[12] De anima 2,7.

[13] De praesc, 14,5.

[14] B. Hägglund, art. cit. S. 4-19; dort auch Verweise auf die Literatur.

[15] Siehe den Sammelband Les sources de Plotin, Entretiens sur l’antiquité classique, Bd. 5, Genf 1960.

[16] A. Solignac, «Le cercle milanais», in: Les Confessions, Bibliothèque augustinienne, Bd. 14, Paris 1962, S. 536.

[17] Conf. 5,19; 7,2.

[18] Siehe P. Courcelle, Recherches sur les Confessions de saint Augsutin, Paris 21968, S. 168-174.

[19] Conf. 7,13sq.

[20] P. Courcelle, op. cit. ebd.

[21] P. Courcelle, op. cit. S. 172sq.

[22] Siehe Anm. 19. Dazu beata u. 4: «lectis autem Plotini paucissimis libris ... conlataque cum eis, quantum potui, etiam illorum auctoritate qui diuina mysteria tradiderunt, sic exarsi, ut omnes illas uellem ancoras rupere, nisi me nonnullorum hominum existimatio commoueret». Augustin las also die Enneaden Plotins schon im Lichte des Evangeliums, vgl. P. Henry, Plotin et l’Occcident, Loewen 1934, S. 90.

[23] Dazu G. Madec, Si Plato uiueret ... (Augustin, De religione 3,3) in: Les cahiers de Fontenay, No 19.20.21.22. Néoplatonisme, Mélanges offerts à Jean Trouillard, Fontenay 1981, S. 231-247. Der Vf. gibt dort S. 235 die einschlägigen Werke an.

[24] Ciu. 8,6: «uiderunt ergo isti philosophi, quos ceteris non immerito fama atque gloria praelatos uidemus, nullum corpus esse deum, et ideo cuncta corpora transcenderunt quaerentes deum. uiderunt quidquid mutabile est non esse summum deum, et ideo animam omnem mutabilesque omnes spiritus transcenderunt quaerentes summum deum ...».

[25] Ib. 10,23: «praedicas patrem et eius filium, quem uocas paternum intellectum seu mentem, et horum medicum, quem putamus te dicere spiritum sanctum, et more uestro appellas tres deos».

[26] Ib. 8,4: « ... Plato utrumque iungendo philosophiam perfecisse laudatur, quam in tres partes distribuit: unam moralem quae maxime in actione uersatur, alteram naturalem quae contemplationi deputata est, tertiam rationalem quae uerum disterminatur a falso».

[27] Ib. nach der Übersetzung von W. Thimme: Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat, Bd. 1, Zürich/München 21978, S. 378. Zur überragenden Autorität Platons in Sachen Philosophie siehe auch Ciceros Wort in Tusc. 1,22: «Platonem semper excipio», das Augustins sicher kannte.

[28] Dazu C. Mayer, «res per signa». Der Grundgedanke des Prologs in Augustins Schrift ‹De doctrina christiana› und das Problem seiner Datierung, in: Revue des études augustiniennes 20 (1974) 100-112.

[29] Doctr. chr. Prooemium 1.

[30] Eine ausgezeichnete Gliederung gibt C. Steffenn, Augustins Schrift «De doctrina christiana». Untersuchungen zum Aufbau, zum Begriffsinhalt und zur Bedeutung der Beredsamkeit (unveröffentliche Dissertation), Kiel 1964. Weitere Arbeiten zur Gliederung: G. Istace, Le livre Ier du «De doctrina christiana» de saint Augustin, Organisation synthétique et méthode mise en œuvre, in: Sylloge Excerptorum e dissertationibus. Universitas C. Lov. Tomus XXVIII, Fasz. 8, 1956, S. 289-330; Y. Miyatani, Grundstruktur und Bedeutung der augustinischen Hermeneutik in «De doctrina christiana», in: Kwansei Gakuin University Annual Studies 23 (1974) 1-14; H.-J. Sieben, Die «res» der Bibel. Eine Analyse von Augustinus, «De doctrina christiana» I-IIII, in: Revue des études augustininennes 21 (1975) 72-90.

[31] Mag. 33. Siehe dazu C. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus, Würzburg 1969, S. 225-234.

[32] So H.-I. Marrou, Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris 41958, S. 343.

[33] Ch. Steffen, op. cit. S. 61 gegen G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942, S. 119.

[34] R. Lorenz, Fruitio Dei bei Augustin, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 63 (1950/51) 75-132; id., Die Herkunft des augustinischen frui deo, in: ebd. 64 (1952/53) 34-60; J. Haussleiter, Zur Herkunft der fruitio dei. Eine Ergänzung zum Aufsatz von Rudolf Lorenz in ZKG 1952-53, in: ebd. 70 (1959) 292; G. Pfligerdorffer, Zu den Grundlagen des augustinischen Begriffspaares «uti-frui», in: Wiener Studien 84 (1971) 195-224; Chadwick, Frui-uti, in: AL 3 (2004) sub prelo.

[35] Plot. 2,8,9,39 und 5,13,20: Das ‹Eine› ist Prinzip vor allem, nicht alles. Ebd. 5,3,11,18: Das ‹Eine› ist vor allem. Siehe dazu Plotins Schriften VI, Indices, bearbeitet von R. Beutler und W. Theiler unter Mitwirkung von G. O’Daly, Hamburg 1971, S. 110.

[36] Rm 11,36: «ex quo omnia, per quem omnia, in quo omnia».

[37] Siehe auch Plot. 1,6,8,40 sowie Hbr. 11,13sq.

[38] Umfassende Darstellung: C.P. Mayer, Herkunft und Normativität des Terminus regula bei Augustin, in: Collectanea Augustiniana, Mélanges T.J. van Bavel, Lovanii 1991, S. 127-154; id., Die Bedeutung des Terminus regula für die Glaubensbegründung und die Glaubensvermittlung bei Augustin, in: Revista Agustiniana 33 (1992) S. 639-675; id., Die Bedeutung des Terminus ‹regula› für das sittliche Handeln des Christen bei Augustin, in: Charisteria Augustiniana Iosepho Oroz Reta dicata, Augustinus 39 (1994) S. 345-356;

[39] 39c zitiert bei Augustinus in cons. eu. 1,53 und in trin. 4,24.

[40] Art. cit. S. 237sq.

„Das weibliche Geschlecht ist ja kein Gebrechen, sondern Natur“ – Augustins Wertschätzung der Frau
Von Larissa Carina Seelbach
(Augustinus-Studientag 2004, Würzburg, Toscanasaal der Residenz)

„Ein Leben zwischen Lust und Liebe“. Unter diesem Titel strahlte das ZDF zum Pfingstfest ein Porträt des Kirchenvaters Augustin aus. Mit dieser Überschrift wurde bereits im Vorfeld eine tendenziell voyeuristische Erwartungshaltung unter den potenziellen Zuschauern hervorgerufen. Tatsächlich sorgte dann auch eine stark vereinfachende Darstellung von Augustins Leben und Werk für die Tradierung bestehender Vorurteile. So erschienen etwa die Confessiones als das Geständnis eines Bischofs, dass ihn der Gedanke an die Sexualität nie in Ruhe gelassen habe.[1] Ferner brandmarkte der Psychoanalytiker Tilmann Moser Augustin als Ursache eines milliardenfachen Ehe-Unglücks.[2] Zur besten Sendezeit wurde Augustin für ein beachtliches Publikum ins vermeintlich zeitgemäße Licht gerückt.

Ähnlich verhält es sich im öffentlich-rechtlichen Hörfunk: Unter dem bezeichnenden Slogan „Die Last mit der Lust“ wurde Augustin im Jahr 2000 als zentrale Gestalt der Kirchengeschichte im WDR vorgestellt. Antje Rösener, die Autorin, klagte ihn ohne Umschweife an:

„Die Leib- und Frauenfeindlichkeit seiner Umwelt wurde von Augustinus theologisch untermauert, ... . Die Wirkungsgeschichte einer Theologie, die die eigene Sünde vor allem in den Frauenkörper projiziert, hat verheerende Folgen gehabt. Sie hat die Hexenverfolgung möglich gemacht. Sogar in den heutigen Diskussionen um Frauen als Pfarrerinnen, Priesterinnen und Bischöfinnen taucht dieses Gedankengut, dass eine Frau von Natur aus weniger wert sei als ein Mann, offen oder versteckt immer wieder auf. “[3]

Bis in die Gegenwart hinein erscheint Augustin im Blick auf Leib- und Frauenfeindlichkeit oftmals als das kirchengeschichtliche Paradebeispiel.[4] Feiern wir in diesem Jahr also den 1650sten Geburtstag eines Mannes, der der Überzeugung war, dass eine Frau von Natur aus weniger wert sei als ein Mann? – Ich denke nicht (!) und werde entsprechend versuchen, die Kurzsichtigkeit solcher Schuldzuweisungen aufzuzeigen.

Hierzu sind einige Vorbemerkungen nötig: Augustin kann nur aus seinem eigenen Denkhorizont heraus verstanden werden.[5] So war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, biblische Motive mit der Darstellung seines Lebens zu verschmelzen. Zudem verwandte er sprachliche Stilmittel, die implizit sehr ausdrucksstark sein konnten. Diese „leisen Töne“ überhören wir heute leicht, da uns die gedankliche Welt und die Wertmaßstäbe aus der Zeit Augustins fremd geworden sind. Dennoch sind es gerade diese Rahmenbedingungen, auf die wir uns einlassen müssen, wenn wir ein wahrheitsgetreues Verständnis von Augustins Einstellung gegenüber Frauen gewinnen wollen.

Zugleich sollten wir uns stets bewusst sein, was unseren eigenen Zugang zu Augustin beeinflusst. Zu nennen sind hier vor allem psychoanalytische Deutungen. Sie versuchen, den spätantiken Theologen auf der Grundlage seiner eigenen Schriften zu charakterisieren. Doch die Einschätzung dessen, was als „normal” und was als „anomal” zu erachten ist, unterliegt historischen und kulturellen Wandlungsprozessen.[6] Viele Erkenntnisse der modernen Tiefenpsychologie werden in historische Texte projiziert, ohne dass sich ein Anhalt für diese Vorgehensweise authentisch belegen ließe.[7]

Im Folgenden möchte ich die „von unseren Gewohnheiten verschiedenen Verhaltens- oder Denkweisen”[8] daher nicht vorschnell pathologisieren, sondern zu verstehen suchen. Dabei vermag vor allem Augustins gelebter Umgang mit Frauen Aufschluss über die diesen zugeschriebene Rolle und Würde zu geben.

Bekanntlich verführt besonders Augustins innige Bindung an seine Mutter so manchen zu scheinbar auf der Hand liegenden psychoanalytischen Diagnosen. Vollmundig wird mitunter erklärt, dass man nicht Freud studiert haben müsse, um zu erkennen, inwiefern die außergewöhnliche Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu einem der entscheidenden Faktoren in Augustins Leben geworden sei. In diesem Verhältnis sei Augustins Unfähigkeit, Glück in der Liebe zu Frauen zu finden, begründet. Sowohl seine verzweifelte Suche in der Philosophie als auch in der Religion würden lediglich einen schwer fassbaren Ersatz bedeuten.[9] Monnica sei in ihrer Ehe unzufrieden gewesen, habe deshalb ihre frustrierte Liebe stellvertretend auf Augustin konzentriert und so bei diesem eine außergewöhnlich intensive ödipale Krise hervorgerufen.[10] Hierdurch sei Augustins normale Identifikation[11] mit seinem Vater Patricius untergraben worden und er selbst zu einem „Muttersöhnchen“ verkommen.[12]

Sicherlich hatte Monnica eine Schlüsselposition in Augustins Leben inne.[13] Ob jedoch psychoanalytische Schlussfolgerungen einer historischen Betrachtungsweise standhalten können, ist zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Augustin führte in seinen Bekenntnissen keinen auf spontanen Assoziationen basierenden Seelenexhibitionismus vor. Der rhetorisch geschulte Bischof wusste sehr genau, was er schrieb und zu welchem Zweck. Augustin verfasste einen christlichen Protreptikos[14], d.h. eine biographische Details bewusst einsetzende Werbeschrift.[15] Ganz gezielt stilisierte er seine Mutter daher zum geistlichen Vorbild im Glauben, zur tugendhaften Verkörperung einer christlichen Frau.[16] Liebevoll malte der Sohn Monnicas Wesen nach und vor allem aus. Auf diese Art und Weise entwarf er „sein“ Bild ihres Lebens, das folglich auch seine eigene androzentrische Sichtweise widerspiegelt.[17] Dabei zeigen sich augenfällige Ähnlichkeiten zwischen Monnica und Maria, dem Phänotyp christlicher Frauenexistenz schlechthin.[18] Monnica sei von Herzen gläubig[19], die Magd Gottes[20], rein[21], keusch, bescheiden[22] und gehorsam[23] gewesen. Mehr noch: Gott sei ihr nahe gewesen und habe sie erhört.[24] Für ihren Sohn habe sich Monnica folglich gewünscht, dass Gott ihm ein Vater werde.[25] Augustin gestand, alles, was er sei, seiner Mutter zu verdanken.[26] Bereits mit der Muttermilch habe er den Namen „Christus“ liebevoll in sich aufgenommen und tief im Inneren bewahrt.[27] Seine Mutter Monnica nannte Augustin in einem Atemzug mit der Kirche[28] und es verwundert nicht, wenn er wiederholt von den „Brüsten der Kirche“[29] sprach. Gleichwie Monnica den Glauben ihres Sohnes nährte, kam diese Aufgabe auch der Mutter Kirche im Blick auf ihre Kinder zu. Mittels ihrer mütterlichen Liebe war Monnica die geborene Repräsentantin der Kirche.[30]

Zu den achtungsvollen aber nichtsdestotrotz funktionalisierten Beschreibungen seiner Mutter gesellen sich weitere Eindrücke, die Augustin vermitteln wollte. Hierzu zählt u.a., welch großen Wert er auf Monnicas Teilnahme an philosophischen Gesprächen legte. Sie, die über keinerlei philosophische Kenntnisse verfügte, wirkte auf die in der Gesprächsrunde von Cassiciacum versammelten Männer fast wie ein Mann.[31] Stolz verglich ihr Sohn sie mit Cicero und lobte ihre große Liebe zur Weisheit. Die Vision von Ostia[32], die Augustin gemeinsam mit Monnica erlebte, demonstrierte, dass Monnica, also eine Frau, ebenso wie Männer in den Genuss der höchsten Kontemplation der Weisheit gelangen konnte. Daraus folgt, dass in Augustins Augen Frauen trotz der ihnen nachgesagten körperlichen und sozialen Inferiorität Männern gegenüber zumindest in seelischer und geistlicher Hinsicht ebenbürtig sein mussten. Indem Augustin diese Ebenbürtigkeit seiner Mutter bescheinigte, spiegelte er zugleich seine grundsätzliche Achtung vor christlichen Frauen wider. Wie ungemein wichtig diese für die Kirche waren, wusste Augustin genau. Meist waren es schließlich die Frauen, die den christlichen Glauben an die nächste Generation weitergaben und diese maßgeblich prägten.[33]

Dennoch stellte Augustin Monnicas grundsätzliche Unterordnung als Frau nirgends in Frage. Nur im Kraftfeld ihres Glaubens hatte sie die ihr durch ihr Geschlecht auferlegten Einschränkungen überwunden. Daher begehrte sie auch nicht gegen ihre soziale Rolle als Frau auf. Laut Augustin habe Gott bewirkt, dass Monnica für ihren Mann Patricius schön gewesen wäre und wert, mit Respekt geliebt und bewundert zu werden.[34] Daran, dass Monnica Patricius moralisch überlegen war, ließ Augustin keinen Zweifel. Durch ihre Lebensart bezeugte sie Gott, und gewann letztlich sogar Patricius für den christlichen Glauben.[35]

Mit den Confessiones schuf Augustin seiner Mutter nicht nur ein literarisches Denkmal, sondern etablierte sie zugleich werbewirksam als weibliche Identifikationsfigur.

Ebenfalls in den Confessiones findet sich eine weitaus umstrittenere Erinnerung, die ich als Augustins „selbstkritisches Mahnmal“ bezeichnen möchte. In wenigen Zeilen schaute Augustin auf die Verbindung mit jener Frau zurück, mit der er viele Jahre lang Tisch und Bett teilte sowie einen gemeinsamen Sohn hatte. Ihr hielt er die Treue und war somit in seiner Zeit „ein beträchtlich gemäßigter Mann“[36]. Die Beziehung endete, um eine für Augustins Karriere äußerst vorteilhafte Eheschließung zu ermöglichen. Wie einfach so etwas vonstatten gehen konnte, schilderte er in den Confessiones: „Man müsste sich nur eine Frau mit beträchtlichem Vermögen nehmen, damit der nötige Aufwand nicht weiter lästig fiele, und wäre dann wohl am Ziel seiner Wünsche.“[37] In die Realität umgesetzt, gestaltete sich dies dann aber doch nicht ganz so leicht. Die reiche katholische Braut war noch nicht im heiratsfähigen Alter. Der frisch getrennte Augustin hatte zu warten. Daher verkürzte er sich die Verlobungszeit mit einer zweiten, uns gänzlich unbekannten Frau.

Augustins Verhalten stößt nach wie vor auf harsche Kritik. So urteilt Karl Jaspers: „Es sind in Augustin Züge von Inhumanität, die man zu leicht übersieht”[38]. Karin Sugano prangert das „geradezu Monströse seiner Handlung“[39] an. Nach der Verstoßung seiner Lebensgefährtin habe er schließlich „noch eindeutiger als beim ersten Mal zwei Frauen zu bloßen Mitteln erniedrigt, zum Kurzzeit-Sexobjekt die eine, zur Sprosse auf der Karriereleiter die andere“[40].

Um Erklärungen ist auch hier die psychoanalytische Betrachtungsweise nicht verlegen. So habe Augustin seine langjährige Lebensgefährtin nicht heiraten können. Er sei nämlich nicht in der Lage gewesen, die männliche Rolle zu übernehmen.[41] Stattdessen habe er sich auf der Suche nach seiner sexuellen Identität befunden.[42] Augustin sei nur der Ausweg eines zölibatären Lebens geblieben.[43] Jede Verbindung mit einer Frau hätte sein ödipales Problem nämlich bloß verschärft.[44]

Kurt Flasch glaubt sogar einen besonders tiefen Blick in Augustins Seele bieten zu können: „Nichts ersehnte er mehr als das Glück durch die Liebe einer Frau. Aber genau dies konnte er nicht finden wegen der extremen Bindung an die Mutter.“[45]

Immer wieder zeichnet sich eine große Einhelligkeit dahingehend ab, dass die langjährige Lebensgefährtin Monnica ein Dorn im Auge gewesen[46] und folglich ihren ehrgeizigen Plänen zum Opfer gefallen sei.[47] Gelegentlich ist hier augenzwinkernd von einer „Lay the blame on Monica school“[48] die Rede. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Monnica die Trennung von seiner Geliebten ausdrücklich einforderte, lassen sich bei Augustin jedoch keine finden.

Was wissen wir über jene Frau, die in Ermangelung einer Namensnennung meist als „Augustins Konkubine“ bezeichnet wird? Wissen wir überhaupt, ob sie eine Konkubine war?[49] Da auch dies umstritten ist, möchte ich ein Indiz hierfür anführen. Von Augustin erfahren wir: „Inzwischen häuften sich meine Sünden, und als man die Gefährtin, mit der ich sonst mein Lager teilte, als Ehehindernis gewaltsam von mir trennte, zerriss es mir das Herz, das an ihr hing, und es blutete mir ob der tiefen Wunde.“[50]

Zwischen den Zeilen brachte Augustin hier Status und Funktion seiner Lebensgefährtin zum Ausdruck. Er sprach von der Frau, „mit der ich sonst mein Lager teilte“. Während er das Wort „concubina“ vermied, ließ er es gleichzeitig etymologisch anklingen: «coniugii cum qua cubare»[51]. Sprachlich veranschaulichte Augustin also, dass es sich um eine Konkubine handelte.[52]

Werfen wir einen weiteren Blick auf unsere Textpassage. Wenngleich uns dieser Abschnitt in seiner Kürze gänzlich ungeeignet erscheint, um eine langjährige Liebe zu würdigen, erweisen sich diese Worte in ihrer anspielungsreichen Prägnanz doch als außerordentlich beredt. Bei Augustins Schilderung stellen sich biblische Assoziationen ein. In der Genesis heißt es bekanntlich: „Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Mann genommen ist. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhängen, und sie werden sein ein Fleisch.“[53]

Danuta Shanzer arbeitete in ihrem 2002 erschienen, äußerst lesenswerten Artikel „Avulsa a latere meo: Augustine’ spare rib“ u.a. heraus, inwiefern Augustins Darstellung und die Genesiserzählung sowohl parallel als auch gegensätzlich sind.[54] Obwohl in der Genesis von „costa“, also Rippe, und nicht von „latus“, also Seite, die Rede ist, spreche dies nicht gegen einen Vergleich, zumal Augustin sehr häufig in seinen Genesisauslegungen selbst das Wort „latus“ als quasi synonym verwandte, wie zum Beispiel in De Genesi ad Litteram: «ex uiri latere feminam fieri».[55]

Während Adam, dessen Wunde sofort heilte, eine Gefährtin zur Seite gestellt bekam, musste Augustin nicht nur in seinem Schmerz fortwährend bluten, sondern verlor noch obendrein seine Lebens- und Bettgefährtin. Statt der Adams Nachkommen versprochenen Loslösung von den Eltern, blieb die Bedeutung von Augustins Mutter unbeeinträchtigt. Während Adam „an seinem Weibe hing“, ging Augustins Verbindung in die Brüche.[56] „Sie war nach Afrika zurückgekehrt und legte vor dir das Gelübde ab, sie wolle von keinem anderen Mann mehr etwas wissen; ... ich Unglückseliger, der ich nicht einmal eine Frau nachahmen konnte, ... .“[57] Augustin stellt hier den Genesisbezug auf den Kopf. Als Adam die verbotene Frucht aß, ahmte er Evas verwerfliches Verhalten nach und folgte ihr in die Sünde. Als Augustins Konkubine hingegen achtbare Enthaltsamkeit gelobte, sah sich Augustin außer Stande, es ihr gleich zu tun.[58] Moralisch zeigte sich Augustin seiner nachahmenswerten und vorbildlichen Konkubine unterlegen.

Relativierend sei hier Karin Suganos Einschätzung der Konkubine angeführt: „Sie war eine Frau, wie sie heute noch manchem Manne vorschweben mag: schweigend dienend, grenzenlos verfügbar, brauchbare Nachkommen liefernd, nicht in Erscheinung tretend und schließlich ganz verschwindend, wenn man ihrer nicht mehr bedarf, für uns heute bestimmt kein Beispiel, das sich zur Nachahmung empfiehlt. Und doch zeigt gerade jenes letzte Nachgeben, dieser letzte klaglose Verzicht auf alles, was ihr Leben ausgemacht hat, die ganze Größe dieser Frau, ihre ungeheure Seelenstärke, ihre Überlegenheit gegenüber einer Monnica, einem Augustin.“[59]

Dass Augustin selbst diese Überlegenheit der Konkubine für die Nachwelt festhielt und sein eigenes Bild trübte, spricht für seine Fähigkeit zur Selbstkritik. Indem er sich und seine niedrigen Motive schonungslos offenbarte, konnte er später - als geläuterter Bischof - glaubhaft vor einem derart rücksichtslosen Umgang mit Frauen warnen.

Kehren wir noch einmal zu Adam zurück. Augustin unterschied sich auch darin von ihm, dass Adam die emotionale Bedeutung seiner Gefährtin umgehend betonte, indem er sie mit einem Namen versah.[60] Augustin erwähnte den Namen seiner Konkubine nicht, was aber durchaus mit antiker Konvention im Einklang stand. Man zog es vor, eine konkrete Person eher zu umschreiben.[61] Im Falle einer Konkubine kam hinzu, dass wohl kaum ein Ehrenmann sich literarisch zu ihr zu bekennen pflegte. Dennoch bedeutete die Institution des Konkubinats eine in der Antike allgemein akzeptierte Lebensform[62], die es daher kurz zu umreißen gilt. Sie bezeichnete eine nicht als Ehe anerkannte, aber durchaus auf Dauer angelegte Gemeinschaft zwischen Mann und Frau. Voraussetzung dieser Lebensform war die private Übereinkunft der zukünftigen Partner.[63] Allein die Abwesenheit ehelicher Gefühle und das Fehlen einer Mitgift machten beim Konkubinat den Unterschied gegenüber der gewöhnlichen Ehe aus.[64] Meist waren Konkubinen Frauen, die man nicht heiraten konnte oder nicht heiraten wollte. Aus welcher sozialen Schicht die Frau an Augustins Seite stammte, ist unklar. Ob sie gar – wie von Gillian Clark gemutmaßt – eine Schauspielerin jener „sexy shows in Carthage“[65] war, was eventuell Augustins Begeisterung für das Theater erklären würde, bleibt ebenfalls im weiten Feld der reinen Spekulation. Auf jeden Fall ist zu vermuten, dass wohl niemand von Augustin verlangte, dass er eine Konkubine heiratete.[66]

Später jedoch, als Repräsentant seiner Kirche, ließ Augustin keinen Zweifel an der Verwerflichkeit seiner früheren Vorgehensweise. In der Schrift De bono coniugali stellte er unmissverständlich klar: „Wenn nämlich ein Mann sich eine Frau auf Zeit holt, bis er eine andere, seinem Amte und seiner Vermögenslage entsprechende findet, die er als ebenbürtig heiraten möchte, so bricht er der persönlichen Gesinnung nach die Ehe, zwar nicht mit jener, die er zu erwerben begehrt, sondern mit dieser Frau, mit der er nicht nach der Ordnung ehelicher Gemeinschaft Geschlechtsverkehr pflegt ... .”[67] Genau dies hatte Augustin selbst praktiziert, indem er seine zweite Konkubine sozusagen als „Übergangslösung“ betrachtet hatte.[68]

Einen an den eigenen Erfahrungen gereiften Erkenntniszugewinn sollten wir Augustin nicht absprechen.[69] Dieser Erkenntnisprozess war schmerzhaft, und er dauerte an. Wohl auch aus diesem Grund hielt er die Erinnerung an seine erste langjährige Geliebte in den Confessiones wach. Die Tiefe der Gefühle, die Augustin sicherlich für diese Lebensgefährtin empfand, wird m.E. zu leicht übersehen.[70] „Aber die Wunde, die mir durch die Trennung von der früheren Geliebten beigebracht worden war, wollte nicht heilen; ihre Wirkung ließ nach einer Zeit brennenden, sehr heftigen Schmerzes zwar nach, doch der Schmerz blieb, gleichsam kälter, aber gesteigert durch die Hoffnungslosigkeit.“[71]

Vergleichen wir diesen Verlust mit jenem, den er beim Tod seines geliebten Jugendfreundes erlitt. Rückblickend bekannte Augustin hier, dass die Zeit den Schmerz gelindert habe.[72] Selbst nach dem Dahinscheiden seiner Mutter heilte sein Herz wieder von jener Wunde.[73] Anders verhielt es sich bei der Konkubine. Der Schmerz blieb gleichsam als ständiges Mahnmal. Augustins spätere Wertschätzung der ehelichen Treue dürfte nicht zuletzt aus der eigenen unglückseligen Vertrautheit mit dem von ihm und seiner Konkubine durchlittenen Kummer resultieren.[74]

Augustins Kontakte zu Frauen beschränkten sich natürlich nicht auf sein familiäres Umfeld. Oftmals suchten Frauen seinen Rat schriftlich. Bei seinen Briefen an Frauen handelt es sich um aufrichtige Bemühungen, den an ihn herangetragenen Anliegen gerecht zu werden. Indem er auch theologische Fragen detailliert beantwortete, zeigte er, dass er seine Briefpartnerinnen für gebildete und verständige Personen hielt.[75] Intellektuell vermochte Augustin keinen geschlechtsspezifischen Unterschied zu erkennen, was in seiner Zeit alles andere als selbstverständlich war.[76]

Zwei seiner Briefe[77] sollen schlaglichtartig jene aufmerksame Zuwendung verdeutlichen, mit der Augustin auf seine Briefpartnerinnen einging.

In epistula 130 unterwies Augustin die wohlhabende Römerin Proba ausführlich im Beten. Als eine Witwe Christi habe Proba im Gebet zu kämpfen und dabei die Welt zu besiegen, denn besonders den Witwen habe die Heilige Schrift eingeschärft, große Sorgfalt auf das Gebet zu verwenden.[78] Bevor Augustin Proba bat, auch für ihn fleißig zu beten[79], wies er sie auf die Gefahren des alltäglichen Lebens hin, die sie vom Ewigen und Sicheren abzulenken drohten. Deshalb ermahnte er sie, sich „mit zeitlichen Angelegenheiten nur soweit [zu] beschäftigen, als es die Mildtätigkeit erfordert.”[80]

Aus eigener Erfahrung wusste Augustin, wie leicht zeitliche Aufgaben und Erfordernisse einen gottesfürchtigen Geist von der Betrachtung und Kontemplation der ewigen Wahrheit abzulenken vermochten. Seine Ehrfurcht vor Probas intellektuellen und geistlichen Fähigkeiten drückt sich nicht zuletzt in dieser fürsorglichen Ermahnung aus, sich Zeit für das Gebet und die eigene Frömmigkeit abseits der erforderlichen guten Taten einzuräumen.

In epistula 266 bot Augustin dem offensichtlich sehr begabten Mädchen Florentina seine Unterweisung an. Er sprach ihr Mut zu ihren religiösen Studien zu und lobte ihre Fortschritte. Dabei sah Augustin bereits den Tag kommen, an dem sie auf menschliche Unterweisungen würde verzichten können. Dies ist umso erstaunlicher, als Augustin sich selbst in diesem Schreiben nicht als vollendeten Lehrer verstand.[81] Vielmehr gestand er sein eigenes Unvermögen vor diesem lernbegierigen Mädchen ein. Der Bischof sprach die Hoffnung aus, dass Florentinas zunehmendes Wissen auch für ihn selbst von Nutzen sein werde. Deutlicher hätte Augustin die intellektuelle Ebenbürtigkeit von Frauen gegenüber Männern nicht anerkennen können.

Darüber hinaus griff Augustin in seinen Briefen seelsorgliche Fragen auf und legte hierbei ein erhebliches Feingefühl an den Tag. Äußerst respektvoll ging er auf Frauen ein und benachteiligte sie nicht aufgrund ihres Geschlechts.

Wenden wir uns nun der Augustin nachgesagten Sexualfeindlichkeit zu, also jenem „heißen Eisen“, das ihn – wie eingangs zitiert – zur angeblichen Ursache eines milliardenfachen Ehe-Unglücks werden ließ.[82] Augustins Äußerungen zur Sexualität werden nicht selten als frauenfeindlich abqualifiziert. Hier ist wieder einmal Vorsicht geboten. Während es heute selbstverständlich für uns ist, die Sexualität eines Menschen als Teil seiner Persönlichkeit zu erachten, verhielt sich dies bei Augustin anders. Er unterschied zwischen Sexualität und Ehe auf der einen Seite und Frauen als Individuen, denen er mit Achtung begegnete, auf der anderen Seite. Das Menschsein und die Geschlechtszugehörigkeit von Frauen setzte Augustin nicht einfach gleich.[83]

In Augustins 394 n. Chr.[84] verfasstem Werk De sermone Domini in monte tritt die Unterscheidung zwischen der Frau als Mensch und der Frau als Frau deutlich zum Vorschein. Augustin stellte die Frage, ob ein verheirateter, christlicher Mann auch im Jenseits eine Frau haben wolle. Unter dem Eindruck von 1 Kor 15,53f. falle die Antwort eindeutig negativ aus; dieser Mann wünsche im Jenseits keine Frau. Würde man weiter fragen, ob er seine Frau nach der Auferstehung in der Art der Engel, also geistlich, in jener Art, wie sie den Heiligen verheißen sei, zur Seite gestellt haben möchte, würde der befragte Mann dies sicher nur zu gerne wünschen.[85]

Augustin folgerte daraus, dass ein solcher Mann seine Frau als Mensch, nicht aber als Frau, liebe und dass er hoffe, sie einst als erneuertes Gottesgeschöpf wieder zu sehen. Sexualität spielte in diesem Kontext keine Rolle.[86]

Sobald der problematische Faktor Sexualität keine Berücksichtigung mehr findet, werden Mann und Frau als gleichgestellte Menschen zu einer neuen Form des Miteinanders befähigt. Dies ist nur möglich, wenn man wie Augustin die geistlichen und intellektuellen Fähigkeiten von Frauen getrennt von ihren Körpern betrachtet. Unsere Auffassungen vom Menschen und dessen Verhältnis zur Körperlichkeit werden Augustins Frauenbild somit nicht gerecht. Dadurch dass Augustin die Sexualität der Frau von den anderen Aspekten ihrer Persönlichkeit trennte, konnte er einerseits seinem asketischen Anspruch und andererseits seinem Respekt für christliche Frauen zugleich gerecht werden.[87] Hieraus folgt, dass Augustins Äußerungen zum Thema Sexualität nicht per se als Aussagen über sein Frauenbild gewertet werden dürfen, da er Frauen keineswegs auf ihre weibliche Sexualität reduzierte.

Für Augustin war auch das Wesen einer Ehe weder primär noch essentiell durch Sexualität bestimmt.[88] Vielmehr sollte die eheliche Gemeinschaft in der Freundschaft zwischen Mann und Frau begründet sein. Zuneigung und gegenseitiger Respekt zählten somit zu den idealen Merkmalen einer christlichen Ehe.[89] Tars van Bavel erklärt: „Wenn Augustinus irgendwo den Rahmen seiner Zeit durchbricht, dann dürfte es in diesem Punkt sein: die Liebe ist bei ihm das feste Fundament der Ehe.“[90]

Stets betonte Augustin, dass die Ehe ein von Gott gewolltes Gut sei. Dennoch konnte Augustin Eheleuten zu völliger, andauernder Enthaltsamkeit raten[91] und stellte eine besondere Art der Seligkeit in Aussicht, die ihnen gemeinsam mit den Jungfrauen zuteil werden sollte. In sermo 132 beschrieb Augustin, wie sich die unterschiedlichen Haltungen zur Sexualität nach dem Tode bemerkbar machen würden. Er verglich die Auferstehung der Toten mit den Sternen am Himmel, die sich auch hinsichtlich ihrer Pracht voneinander unterschieden. Seiner Ansicht nach würde es einen je eigenen Glanz für die Jungfräulichkeit, einen für die verheiratete Keuschheit und einen weiteren für die heilige Witwenschaft geben. Wenngleich jeder Glanz verschieden erstrahle, gehöre der Himmel dennoch allen Sternen und allen auferstandenen Toten gemeinsam.[92]

Der Ehe und dem enthaltsamen Leben sprach Augustin ihre jeweilige Berechtigung zu und erkannte in Maria sowohl ein Vorbild für Nonnen und Witwen als auch für keusch lebende Ehefrauen.[93]

Deckt sich diese, um Ausgleich bemühte Argumentation Augustins schon nicht mit einem gegenwärtigen Porträt des Kirchenvaters, das primär die „Last mit der Lust“ zelebriert, so mag es ungleich mehr verwundern, wenn Augustin sogar in manchem seiner Zeit durchaus voraus war. Damals war es eine Selbstverständlichkeit, dass man die Untreue des Ehemanns nicht weiter rügte, während keine Strafe hart genug für eine Ehebrecherin zu sein schien.[94] Augustin hingegen forderte, dass Männer Frauen gegenüber ebenfalls zur Treue verpflichtet seien.[95] Hinsichtlich der ehelichen Rechte und Pflichten waren Mann und Frau für Augustin gleichgestellt.[96] Als Bischof protestierte er gegen eine Diskriminierung der Frau durch das römische Gesetz.[97]

Ein Ehemann sollte seiner Frau stets achtungsvolle Liebe entgegenbringen. Die eheliche Gemeinschaft hatte der Mann – außer bei schwerwiegenden Verfehlungen der Frau – in jedem Fall aufrechtzuerhalten und seiner Partnerin mit Achtung entgegenzutreten. Alles außer Untreue habe er in der Ehe zu ertragen: Unfruchtbarkeit, Hässlichkeit, Krankheiten und vieles mehr. Ein treuer Mann werde weder seine Frau entlassen noch nach einer anderen verlangen, sei diese andere auch noch so schön, gesund, reich oder fruchtbar. Er selbst werde keinen Ehebruch begehen.[98] Die Unauflöslichkeit der Ehe stand für Augustin außer Frage.

Augustin forderte nicht wenig, entsprachen doch seine Idealvorstellungen eher den Interessen der Ehefrauen als denen der Ehemänner. Es waren schließlich die Frauen, welche in der Regel im Falle einer Trennung das Nachsehen hatten. Entsprechend kann Augustins Position der wechselseitigen Treue gemessen an der männlichen Vormachtstellung innerhalb einer ehelichen Verbindung als sehr weitreichend bezeichnet werden. Kam der Ehemann seiner Vorbildfunktion nicht nach, verlor er somit auch seine Vorrangstellung, und seine Frau hatte sich angesichts der mangelnden Orientierungshilfe nun vermehrt an der Kirche auszurichten.[99]

Wenngleich sich bei Augustin keine systematische Lehre von der Frau findet[100], stellte er doch zumindest unmissverständlich klar, dass sich kein Geschlecht von Gott zurückgesetzt fühlen solle. Augustin unterstellte die Frau als Frau ihrem Ehemann, nicht jedoch als Christin. Als Christin unter Berufung auf die Kirche durfte sie ihre Überzeugungen gleichwertig verteidigen und konnte einem Mann somit moralisch überlegen sein, falls dieser ehebrecherisch ihre Grundeinstellung nicht zu teilen gewillt war. Ihre soziale Unterordnung wurde durch ihre etwaige moralische Überlegenheit nicht geändert. An diesen Grundfesten rüttelte der Bischof von Hippo nicht, sondern fragte, ob das Haus nicht auf dem Kopf stünde, wenn der Herr des Hauses schlechter als seine Frau lebte.[101]

Theologisch verstand Augustin die Frau eindeutig als einen von Gott gewollten und keineswegs zweitrangigen Teil seiner Schöpfung. Es stand für Augustin dabei außer Frage, dass die biblische Schöpfungserzählung einen geschichtlichen Vorgang wiedergab.[102] Dem zur Folge wurde Eva aus zeitlicher Perspektive nach Adam erschaffen. Trotzdem wertete Augustin Eva nicht grundsätzlich ab, da sie und Adam gleichermaßen als Menschen Gottes Werke sind. Das Privileg des Menschseins, welches Männern und Frauen gleichermaßen eignet, besteht nun darin, dass Gott den Menschen zu seinem Abbild machte, „weil er ihm den vernünftigen Verstand gegeben hat, mit dem er die Tiere überragt, ... . Gott hat zwar auch das Tier erschaffen, aber nicht zu seinem Abbild.”[103] Adams Körper, der als animalischer, irdischer geformt wurde[104], machte demnach an sich noch nicht seine Besonderheit aus. Seine Einzigartigkeit verdankte er Gott. Adam, der erste Mann, war nichts aus sich selbst heraus und konnte somit auch keine Sonderstellung gegenüber Eva einnehmen, die ebenfalls alles Gott verdankte.

Die Notwendigkeit zur Erschaffung der Frau ergab sich für Augustin im Blick auf die Fortpflanzung:

„Wenn die Frau dem Manne nicht zur Hilfeleistung, um Kinder hervorzubringen, gemacht worden ist, zu welcher Hilfe ist sie dann gemacht worden? Sollte sie zugleich mit ihm den Boden bestellen – was damals noch keine mühevolle Arbeit war, die eines Beistandes bedurfte –, dann wäre, selbst wenn es nötig gewesen wäre, eine männliche Hilfskraft besser gewesen. Das gleiche gilt auch, wenn man von ihr als Trostgeberin sprechen würde, in der Annahme, dass Adam seiner Einsamkeit überdrüssig geworden wäre. Ist es denn für ein Zusammenleben und Miteinandersprechen nicht zuträglicher, wenn zwei Freunde zusammenwohnen, als ein Mann und ein Weib? ... Ich finde also keine andere Hilfeleistung, für die dem Mann ein Weib erschaffen wurde, wenn nicht die, ihm Kinder zu gebären.”[105]

Da Augustin den Grund für die Erschaffung der Frau in der Fortpflanzung sah[106], sei es bei ihrer Schöpfung nur zu einer geschlechtlichen, nicht aber zu einer seelischen Differenzierung zwischen Adam und Eva gekommen. Eine solche hätte schließlich für den Zweck der Fortpflanzung nichts ausgetragen! Die Schöpfung impliziert keine grundsätzliche Zurücksetzung der Frau, wie ein Zitat aus De vera religione klarstellt: „Und damit kein Geschlecht wähnte, es sei von seinem Schöpfer verschmäht, nahm er das männliche an und ließ sich vom Weibe gebären.”[107] So wie Christus als Repräsentant des männlichen Geschlechtes erschien, so war auch Maria Vertreterin des weiblichen.

Eine denkbare Erklärung für die Entstehung Evas aus Adams Seite führte Augustin in De civitate Dei an. Er erklärte, Gott habe Eva aus der Seite Adams geschaffen, damit die ganze Menschheit aus einem einzelnen Menschen hervorgehen solle. Somit wären die Menschen „nicht nur durch Gleichheit der Natur, sondern auch durch Zuneigung der Verwandtschaft”[108] miteinander verbunden. Die innige Vertrautheit zwischen Gatte und Gattin werde durch diese Schöpfungsweise besonders hervorgehoben.[109]

Die bisherigen Erwägungen sollen nun abschließend in Augustins Lehre von der Gottebenbildlichkeit münden. Im Blick auf jeden Menschen differenzierte Augustin zwischen dem äußeren Mensch, dem «homo exterior», und dem inneren Mensch, dem «homo interior». Während nur der innere Mensch in der Lage ist, Gott zu erkennen, umfasst nur der äußere Mensch die menschliche Geschlechtsspezifik. Hinsichtlich des inneren Menschen ist die Frau dem Mann gleichgestellt, da beide über eine asexuelle Seele verfügen. Einzig nach dem äußeren Menschen ist die Frau dem Mann unterlegen, da ihre körperliche und soziale Stellung letztlich der traditionellen patriarchalischen Nachordnung der Frau entspricht. In Bezug auf die Gottebenbildlichkeit heiß es deshalb: „Denn richtig verstehen wir das ,nach seinem Bilde’ nur in Bezug auf die Seele, so wie jenes ,männlich und weiblich’ nur in Bezug auf den Leib.”[110]

Augustin bezweifelte keineswegs die Gottebenbildlichkeit der Frau als «homo» und stand daher vor dem Problem, dass Paulus in 1 Kor 11,7 eine andere Auffassung zu vertreten schien. Dort heißt es: „Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, denn er ist Gottes Bild und Abglanz; die Frau aber ist des Mannes Abglanz.“ Demnach würde dem Mann als Gottes Bild und Abglanz ein Vorrang gegenüber der Frau zugesprochen. Diese Bibelstelle galt es für Augustin in Einklang mit seiner eigenen Auffassung von der Gottebenbildlichkeit der Frau gemäß Gen 1,27 zu bringen. Wegweisend war seine Entscheidung, 1 Kor 11,7 bildlich auszulegen und somit den Wortlaut von Gen 1,27, „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ zu verteidigen. Augustin sah in der äußeren Unterscheidung zwischen Mann und Frau eine Veranschaulichung der Differenzierung innerhalb der menschlichen Seele, unabhängig ob diese zu einem Mann oder einer Frau gehörte.

Innerhalb jeder menschlichen Seele wurde ein jeweils bildlich zu verstehendes männliches und ein weibliches Element angenommen. Beide Elemente verhielten sich zueinander wie Mann und Frau in der Gesellschaft. Der übergeordneten Position des Mannes entsprach die Funktion der „Wahrheit der ewigen Betrachtung”[111], die «sapientia», und der weiblichen Stellung schien die untergeordnete „Verwaltung zeitlicher Dinge”[112], die «scientia», zu entsprechen. Allein die männlich konnotierte «sapientia» besitzt den direkten Zugang zum Ewigen und Göttlichen, und demnach wäre der Mann – wiederum im übertragenen Sinne – für sich betrachtet stets gottebenbildlich. Im übertragenen Sinne – nicht im wirklichen! – käme der figurativen Frau, also «scientia», keine Gottebenbildlichkeit zu. Die Gottebenbildlichkeit einer realen Frau, deren asexuelle Seele sowohl die übertragene männliche Funktion, die «sapientia», als auch die übertragene weibliche Funktion, die «scientia», beherbergt, wird von dieser innerseelischen Funktionsunterscheidung nicht geschmälert.

Galt im Alltagsleben des beginnenden 5. Jahrhunderts gemeinhin, dass der Mann die Geschicke der Frau lenkte, so verhielt es sich entsprechend innerhalb der Seele, die dieses Rollenverhältnis in ihren beiden Funktionen widerspiegelte.

Mann und Frau, so wie sie in 1 Kor 11,7 Erwähnung finden, sind für Augustin demnach bildliche Umschreibungen der seelischen Funktionen, nicht aber reale Menschen.[113] Diese figurative Umschreibung, welche sich – das einfache Verständnis erschwerend – der durch 1 Kor 11,7 vorgegebenen Begriffe Mann und Frau bediente, hat ihren Sitz im Leben sicherlich im sozialen Gefälle von Augustins Zeit.

Obwohl Augustin die Unterordnung der Frau im Rahmen der etablierten Rollenverteilung nicht aufgeben wollte und an keiner Stelle eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse forderte, erkannte er jedoch immerhin die geistige Ebenbürtigkeit der Frau. Denn für die Gottebenbildlichkeit des Menschen als «homo» trägt die reale körperliche Erscheinungsform von Mann und Frau und das soziale Gefälle zwischen beiden ja nichts aus. Die Gottebenbildlichkeit findet sich nicht im Körper, sondern im Geist von männlichen und weiblichen Menschen gleichermaßen.

Folgendes lässt sich festhalten: Augustin vereinte in seiner Theologie seine persönliche Wertschätzung gegenüber Frauen mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Zeit samt deren Forderung nach weiblicher Unterordnung. Wegweisend ist, dass der einflussreichste Denker der Alten Kirche die Frau in ihrem Verhältnis zu Gott gleichgestellt sah.

Gemessen am heutigen Verständnis von Gleichberechtigung wirken Augustins Bemühungen allerdings kaum bahnbrechend. Es bleibt jedoch kurzsichtig, das Frauenbild des Kirchenvaters auf ein Motto wie „Die Last mit der Lust“ bzw. „Ein Leben zwischen Lust und Liebe“ zu reduzieren. Aus seiner Zeit heraus hat Augustin ganz Entscheidendes für ein neues Verständnis der Gleichwertigkeit von Mann und Frau geleistet[114], denn er bestand auf der damals durchaus bahnbrechenden Feststellung: „Das weibliche Geschlecht ist ja kein Gebrechen, sondern Natur.”[115]

--------------------------------------------------------------------------------

[1] ZDF 31.05.2004.

[2] ZDF 31.05.2004.

[3] A. Rösener, Die Last mit der Lust – Der Kirchenvater Augustin, in: H. Pressler/G. Höft (Hg.), Kirchengeschichten. Glaubliches und Unglaubliches aus 2000 Jahren. Kirchengeschichten im WDR, Düsseldorf 2000, 78-81, hier: 80.

[4] Vgl. T. J. van Bavel, Augustine’s View on Women, in: Aug(L) 39 (1989) 5-53, hier: 5.

[5] Vgl. ders., Christ in dieser Welt. Augustinus zu Fragen seiner und unserer Zeit, Würzburg 1974, 36.

[6] H. Röckelein, Psychohistorie(n) zur Religions- und Kirchengeschichte, in: KZG 7 (1994) 11-25, hier: 15.

[7] Vgl. A. Schindler, Verifying or Falsifying Psychohistorical Observations: The Case of Dido’s Suicide in Augustine’s Confessions, in: StPatr 33 (1997) 239-243, hier: 243.

[8] H. Röckelein, a.a.O., 15.

[9] E. R. Dodds, Augustine’s Confessions. A Study of Spiritual Maladjustment, in: HibJ 26 (1928) 459-473, hier: 466.

[10] J. E. Dittes, Continuities between the Life and Thought of Augustine, in: JSSR 5 (1965) 130-140, hier: 133.

[11] Ch. Kligermann, A Psychoanalytic Study of the Confessions of St. Augustine, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 5 (1957) 469-484, hier: 478.

[12] J. E. Dittes, a.a.O., 133; vgl. Jacques Chomarat, Les «Confessions» de Saint Augustin, in: Revue française de psychanalyse 52 (1988) 153-174, hier: 169: «Bref, elle veut son fils tout à Dieu, tout à elle.»

[13] Vgl. E. Munding, Monika und Augustinus. Ein heiliger Sohn über seine heilige Mutter, in: Benediktinische Monatsschrift 6 (1930) 261-269, hier: 261: „Sie war ihm ja doppelt Mutter: dem Leibe nach für dieses Leben, der Gnade nach für das ewige Leben durch ihr Weinen und Beten.”; B. Bruning, Ab utero matris meae, quae multum sperauit in te. La maternité et la paternité d’Augustin, in: Aug(L) 54 (2004) (FS T. J. van Bavel) 379-400, hier: 379: «Le rôle joué par sa mère Monique dans cette histoire de conversion ne doit guère être sous-estimé ... . »

[14] C. P. Mayer, „Die Frau und ihre Gottebenbildlichkeit bei Augustin“. Zur Veröffentlichung einer längst fälligen, umfassenden und gründlichen Studie über ein vielerörtertes Thema, in: Aug(L) 54 (2004) (FS T. J. van Bavel) 359-378, hier: 371: „Augustins Confessiones sind ein Protreptikos.“; zur Begründung dieser Annahme vgl. auch E. Feldmann, Das literarische Genus und das Gesamtkonzept der Confessiones, in: N. Fischer/C. Mayer (Hg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretation zu den 13 Büchern, Freiburg im Brsg. 1998/2004, 11-59, hier: 38.

[15] Vgl. E. Feldmann, Art.: Confessiones, in: AugL 1134-1193, hier: 1166f.

[16] Vgl. Chr. Müller, Art.: Femina, in: AugL 1266-1281, hier: 1269.

[17] T. J. van Bavel, Augustine’s View on Women, 52: “We must admit that Augustine’s view is androcentric.”

[18] Vgl. u.a. J. Huhn, Ein Vergleich der Mariologie des Hl. Augustinus mit der des Hl. Ambrosius in ihrer Abhängigkeit, Ähnlichkeit und ihrem Unterschied, in: AM 1 (1954-1955) 221-239; R. Palermo Ramos, «Ecclesia Mater» en San Agustín. Teología de la Imagen en los Escritos Antidonatistas (Teologiá y Siglo XX 11), Madrid 1970, 231-236; K. Power, Veiled Desire. Augustine’s Writing on Women, London 1995, 91; A. F. Rivas González, La Mariología en los Sermones de San Agustín, in: RelCult 39 (1993) 409-456.

[19] Z.B. conf. 2,3,6; CCL 27,20.

[20] Z.B. conf. 5,9,18; CCL 27,67.

[21] Z.B. conf. 3,11,20; CCL 27,38.

[22] Z.B. conf. 5,9,17; CCL 27,66.

[23] Z.B. conf. 9,9,19; CCL 27,145.

[24] Z.B. conf. 5,9,17; CCL 27,66f.

[25] Z.B. conf. 1,11,17; CCL 27,10: «nam illa satagebat, ut tu mihi pater esses, deus meus ... .»

[26] beata u. 1,6 CCL 29,68: « ... in primis nostra mater, cuius meriti crede esse omne, quod uiuo ... .»

[27] conf. 3,4,8 CCL 27,30: «... et hoc solum me in tanta flagrantia refrangebat, quod nomen Christi non erat ibi, quoniam hoc nomen ‘secundum misericordiam tuam, domine’, hoc nomen saluatoris mei, filii tui, in ipso adhuc lacte matris tenerum cor meum pie biberat et alte retinebat, et quidquid sine hoc nomine fuisset quamuis litteratum et expolitum et ueridicum non me totum rapiebat.»

[28] conf. 1,11,17; CCL 27,10: «... flagitaui a pietate matris meae et matris omnium nostrum, ecclesiae tuae.»

[29] Vgl. hierzu T. J. van Bavel, Maternal aspects in salvation history according to Augustine, in: Aug(L) 47 (1997) 251-290, hier: 275.

[30] Vgl. ebd., 277.

[31] beata u. 1,10 CCL 29,71: «in quibus uerbis illa sic exclamabat, ut obliti penitus sexus eius magnum aliquem uirum considere nobiscum crederemus me interim, quantum poteram, intellegente, ... .»

[32] conf. 9,10,23f. CCL 27,147f.

[33] P. Brown, Aspects of the Christianization of the Roman Aristocracy, in: JRS 51 (1961) 1-11, hier: 11.

[34] conf. 9,9,19; CCL 27,145.

[35] conf. 9,9,19; CCL 27,145.

[36] T. J. van Bavel, Christ in dieser Welt, 58.

[37] conf. 6,11,19 CCL 27,87: « ... et ducenda uxor cum aliqua pecunia, ne sumptum nostrum grauet, et ille erit modus cupiditatis.» Übs. hier stets zit. nach: Bekenntnisse, eingel. von K. Flasch, übertr. u. hrsg. von ders./B. Mojsisch, Stuttgart 1989, 162.

[38] Vgl. Karl Jaspers, Augustin, München 1976, 76.

[39] K. Sugano, Amor ohne Animus? Augustinus und die Frauen in de Confessiones, in: Th. Schneider/H. Schüngel-Straumann (Hg.), Theologie zwischen Zeiten und Kontinenten (FS E. Gössmann), Freiburg im Brsg. u.ö. 1993, 46-63, hier: 59.

[40] Ebd., 59; vgl. ebd. 46: „Am Ende hat er also die Menschenwürde dreier Frauen mit Füßen getreten, ... .“ ; vgl. A. Treloar, St. Augustine’s views on marriage, in: Prudentia 8 (1976) 41-50, hier: 44f.: “It was an extraordinary harsh and heartless act in one who became deservedly renowned for his compassion.”

[41] J. E. Dittes, a.a.O., 137.

[42] Ebd., 135.

[43] Ph. Woollcott, Some Considerations of Creativity and Religious Experience in St. Augustine of Hippo, in: JSSR 5 (1966) 273-283; hier: 277.

[44] Ebd., 276.

[45] K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 21994, 240.

[46] Z. B. E. R. Dodds, a.a.O., 469.

[47] J. E. Dittes, Augustine, Search for a fail-safe God to trust, in: JSSR 25 (1986) 57-63, hier: 60.

[48] D. Shanzer, Avulsa a latere meo: Augustine’s spare rib – Confessions 6.15.25, in: Journal of Roman Studies 92 (2002) 157-176, hier: 166 Anm. 61.

[49] Vgl. T. J. van Bavel, Christ in dieser Welt, 58: „Es ist sogar die Frage, ob wir hier überhaupt von einem Konkubinat sprechen dürfen.“

[50] conf. 6,15,25 CCL 27,90: «interea mea peccata multiplicabantur, et auulsa a latere meo tamquam impedimento coniugii cum qua cubare solitus eram, cor, ubi adhaerebat, concisum et uulneratum mihi erat et trahebat sanguinem.»; Übs. zit. nach: Bekenntnisse, 166f.

[51] conf. 6,15,25 CCL 27,90; vgl. D. Shanzer, a.a.O., 158.

[52] D. Shanzer, a.a.O., 165: „Augustine’s relationship with Anonyma I was a concubinage. The language he uses to describe it and its nature as described make that clear.”

[53] Gen 2,21-24.

[54] D. Shanzer, a.a.O., 159f.

[55] Gn. litt. 9,17,31 CSEL 28/1,291; vgl auch z.B. Gn. litt. 9,18,34 CSEL 28/1,293: «... quod ita mulier facta est de latere uiri, ... . » ; Gn. litt. 10,1,1 CSEL 28/1,295: «... at illa de illius latere ... .»; ciu. 22,17 CCL 48,835: « ... de latere uiri dormientis costa detracta femina fieret, ... .»

[56] D. Shanzer, a.a.O., 159.

[57] conf 6,15,25 CCL 27,90: «et illa in Africam redierat uouens tibi alium se uirum nescituram ... . at ego infelix nec feminae imitator, ... .»

[58] D. Shanzer, a.a.O., 161: “Adam followed his love into sin. Augustine failed to follow his into continence.”

[59] K. Sugano, a.a.O., 58f.

[60] Gen 2,23.

[61] S. Soennecken, Misogynie oder Philogynie? Philologisch-theologische Untersuchungen zum Wortfeld Frau bei Augustinus, Frankfurt a. M. 1993, 36.

[62] Den rechtlichen Rahmen und die Institution des Konkubinats beschreiben die Standardwerke von P. M. Meyer, Der römische Konkubinat nach den Rechtsquellen und den Inschriften, Aalen 1966 (Leipzig 1895), und von J. Plassard, Le Concubinat Romain sous le Haut Empire, Paris 1921; vgl. auch S. Treggiari, Concubinae, in: Papers of the British School at Rome 49 (1981) 59-81; B. Rawson, Roman Concubinage and Other De Facto Marriages, in: Transactions of the American Philosophical Society 104 (1974) 279-305.

[63] A. Zumkeller, Die geplante Eheschließung Augustins und die Entlassung seiner Konkubine. Kulturgeschichtlicher und rechtlicher Hintergrund von conf. 6,23 und 25, in: Ders. (Hg.), Signum pietatis (FS C. P. Mayer), Würzburg 1989, 21-35, hier: 24.

[64] Vgl. J. P. V. D. Baldson, Roman Women. Their History and Habits, London 1962, 231.

[65] D. Shanzer, a.a.O., 165 Anm. 74.

[66] Vgl. J. J. O’Meara, The Young Augustine. An Introduction of the Confessions of St. Augustine, London 1980, 129.

[67] b. coniug. 5 CSEL 41,193: «etenim si aliquam sibi uir ad tempus adhibuerit, donec aliam dignam uel honoribus uel facultatibus suis inueniat, quam conparem ducat, ipso animo adulter est, nec cum illa, quam cupit inuenire, sed cum ista, cum qua sic cubat, ut cum ea non habeat maritale consortium.»; Übs. zit. nach: Das Gut der Ehe, übertr. von A. Maxsein (AS), Würzburg 1949, 7.

[68] Vgl. D. Shanzer, a.a.O., 164: “The De bono coniugali has been misinterpreted over the years, and, though it indeed applies to Augustine himself, it describes not just the first of his sexual relationships, but both.”

[69] Vgl. K. A. Rogers, Equal Before God: Augustine on the Nature and Role of Women, in: D. Kries/C. Brown Tkacz (Hg.), Nova Doctrina Vetusque. Essays on Early Christianity (FS F. W. Schlatter), New York u.ö. 1999, 169-185, hier: 180.

[70] Vgl. jedoch Chr. Müller, a.a.O., 1270: „Dass diese Trennung ihm conf. 6,25 zufolge stark zusetzte, spricht gegen die Vermutung, A. sei dieser und anderen Frauen gegenüber kalt gewesen, ... .“

[71] conf. 6,15,25 CCL 27,90: «nec sanabatur uulnus illud meum, quod prioris praecisione factum erat, sed post feruorem doloremque acerrimum putrescebat et quasi frigidius, sed desperatius dolebat.»

[72] conf 4,5,10 CCL 27,44: «et nunc, domine, iam illa transierunt, et tempore lenitum

est uulnus meum.»

[73] conf 9,13,34 CCL 27,152: «... iam sanato corde ab illo uulnere, ... .»

[74] Vgl. K. A. Rogers, a.a.O., 180: “It seems safe to say that the sad history of the concubine may be part of what motivated Augustine’s uncompromising defense of marriage and fidelity.”

[75] Vgl. S. Soennecken, a.a.O., 104.

[76] G. Lawless, “infirmior sexus ... fortior affectus”. Augustine’s Jo. ev. tr. 121,1-3: Mary Magdalene, in: AugStud 34 (2003) 107-118, hier: 109: “Women were considered to be vulnerable, intellectually, emotionally, and physically, ... .”

[77] Insgesamt handelt es sich um folgende Briefe:

ep. 24; 25; 30; 31; 42; 45; 80; 94; 95 an Paulinus und Therasia

ep. 92; 99 an Italica

ep. 124 an Albina, Pinianus und Melania

ep. 126 an Albina

ep. 127 an Armentarius und Paulina

ep. 130; 131 an Proba

ep. 147 an Paulina

ep. 150 an Proba und Juliana

ep. 188 an Juliana

ep. 208 an Felicia

ep. 210 an Felicitas und Rusticus

ep. 211 an Klosterfrauen

ep. 262 an Ecdicia

ep. 263 an Sapida

ep. 264 an Maxima

ep. 265 an Seleuciana

ep. 266 an Florentina

ep. 267; 20* an Fabiola

Hinzu kommt noch die Schrift „Das Gut der Witwenschaft”, die ebenfalls ein Brief ist.

[78] ep. 130,16,29 CSEL 44,73-75.

[79] ep. 130,16,31 CSEL 44,76f.

[80] ep. 130,16,30 CSEL 44,75f.: «... tanto inpensius orationibus instare debetis rerum praesentium non occupatae negotiis, nisi quae flagitat causa pietatis.».

[81] ep. 266,2 CSEL 57,648: «hoc enim feci non doctor perfectus sed cum docendis perficiendus, domina eximia meritoque honorabilis in Christo ac suscipienda filia.»

[82] ZDF 31.05.2004.

[83] Vgl. J. A. Truax, Augustine of Hippo: defender of women’s equality?, in: Journal of medieval history 16 (1990) 279-299, hier: 279.

[84] P. Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie (erw. Neuausgabe), München 2000, 543.

[85] s. dom. m. 1,15,41 CCL 35,44f.

[86] s. dom. m. 1,15,41 CCL 35,45: «sic inuenitur bonus christianus diligere in una femina creaturam dei, quam reformari et renouari desiderat, odisse autem coniunctionem copulationemque corruptibilem atque mortalem, hoc est diligere in ea quod homo est, odisse quod uxor est.»

[87] Vgl. J. A. Truax, a.a.O., 279.

[88] c. Iul. 5,16,62 PL 44,818.

[89] b. coniug. 9 CSEL 41,199f.

[90] T. J. van Bavel, Christ in dieser Welt, 60.

[91] ep. 127 CSEL 44,19-29.

[92] s. 132,3 PL 38,736: «mementote in quocumque sexu sitis, siue mares, siue feminae, angelorum uitam ducere uos in terra. angeli enim non nubunt, neque uxores ducunt. hoc erimus, cum resurrexerimus. quanto uos meliores, qui quod erunt homines post resurrectionem, hoc uos incipitis esse ante mortem? seruate gradus uestros: seruat enim uobis deus honores uestros. comparata est resurrectio mortuorum stellis in caelo constitutis. ‘stella enim ab stella differt in gloria’, ut apostolus dicit; ‘sic et resurrectio mortuorum’. aliter enim ibi lucebit uirginitas, aliter ibi lucebit castitas coniugalis, aliter ibi lucebit sancta uiduitas. diuerse lucebunt: sed omnes ibi erunt. splendor dispar, caelum commune.»

[93] s. 192,2 PL 38,1012.

[94] Vgl. K. A. Rogers, a.a.O., 177.

[95] b. coniug. 6 CSEL 41,194-196.

[96] R. Laprat, Le role de la materfamilias romaine d’après Saint Augustin, in: Revue du moyen age latin 1 (1945) 129-148, hier: 143: «... la femme a désormais les mêmes droits matrimoniaux.»

[97] Vgl. T. J. van Bavel, Augustine’s View on Women, 53.

[98] s. dom. m. 1,18,54 CCL 35,62: «toleret in coniugali fide omnia quae, quamuis sint molestissima, crimen tamen inlicitae corruptionis, id est fornicationis, non habent. ueluti si uxorem quisque habeat, siue sterilem siue deformem corpore siue debilem membris, uel caecam uel surdam uel claudam uel si quid aliud, siue morbis et doloribus languoribusque confectam, et quidquid excepta fornicatione cogitari potest uehementer horribile, pro fide et societate sustineat. neque solum talem non abiciat, sed etiam si non habeat, non ducat eam quae soluta est a uiro, pulchram sanam diuitem fecundam. quae si facere non licet, multo minus sibi licere arbitretur ad ullum alium inlicitum concubitum accedere; fornicationemque sic fugiat, ut ab omni turpi corruptione sese extrahat.»

[99] s. 9,11 CCL 41,129.

[100] Chr. Müller, a.a.O., 1271.

[101] s. 9,3 CCL 41,112.

[102] Vgl. J. J. O’Meara, The Creation of Man in St. Augustine’s De Genesi ad Litteram, Villanova 1980, 19f.

[103] Gn. litt. 6,12,21 CSEL 28/1,186: «quod ei dedit mentem intellectualem, qua praestat pecoribus ... nam et pecora deus fecit, sed non ad imaginem suam.»; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 1), übertr. von C. J. Perl (Deutsche Augustinusausgabe), Paderborn u.ö. 1961/1964, 222.

[104] Gn. litt. 6,19,30 CSEL 28/1,193.

[105] Gn. litt. 9,5,9 CSEL 28/1,273: «aut si ad hoc adiutorium gignendi filios non est facta mulier uiro, ad quod ergo adiutorium facta est? si, quae simul operaretur terram, nondum erat labor, ut adiumento indigeret, et, si opus esset, melius adiutorium masculus fieret. hoc et de solacio dici potest, si solitudinis fortasse taedebat. quanto enim congruentius ad conuiuendum et conloquendum duo amici pariter quam uir et mulier habitarent? ... quapropter non inuenio, ad quod adiutorium facta sit mulier uiro, si pariendi causa subtrahitur.»; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 2), a.a.O., 95f.; vgl. Gn. litt. 9,11,19 CSEL 28/1,280: „Erschaffen wurde die Frau also für den Mann, aus dem Mann, mit ihrem Geschlecht, ihrer Formung und der Verschiedenheit ihrer Organe, die das Kennzeichen der Frau sind. ... Wenn also die Frage gestellt wird, zu welcher Hilfeleistung dem Manne der Geschlechtspartner erschaffen worden sei, zeigt sich mir bei sorgfältigster Überlegung, der ich fähig bin, nur der Zweck der Nachkommenschaft, deren Abkömmlinge die Erde erfüllen sollten.”; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 2), a.a.O., 104; – «factam itaque feminam uiro de uiro in eo sexu, in ea forma et distinctione membrorum, qua feminae notae sunt, ... . cum ergo quaeritur, ad quod adiutorium factus sit ille sexus uiro, diligenter, quantum ualeo, cuncta consideranti nonnisi causa prolis occurrit, ut per eorum stirpem terra inpleretur, ... .»; vgl. Gn. litt. 9,9,15 CSEL 28/1,278: „Weshalb sonst wäre nach einem artgleichen weiblichen Gehilf für den Mann gesucht worden, wenn nicht, damit die Natur des Weibes wie fruchtbares Erdreich dem Manne bei der Aussaat des Menschengeschlechtes zu Hilfe stand?”; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 2), a.a.O., 101; – «... propter quid aliud secundum ipsum quaesitus est femineus sexus adiutor, nisi ut serentem genus humanum natura muliebris tamquam terrae fecunditas adiuuaret?»

[106] Vgl. zu dieser Funktionsbestimmung K. E. Børresen, La feminologie d’Augustin et les droits humains des femmes, in: Aug(L) 54 (2004) (FS T. J. van Bavel) 325-341, hier: 326: «De fait, toutes les grandes religions considèrent l’existence des femmes comme ordonnée à la procréation des hommes. Cette fonction maternelle es définie comme purement instrumentale, bien exemplifiée par la biologie androcentrique d’Aristote dans De generatione animalium (728a, 765b, 766a-b).»

[107] uera rel. 16,30 CCL 32,206: «et ne quis forte sexus a suo creatore se contemptum putaret, uirum suscepit, natus ex femina est.»; Übs. zit. nach: De vera religione. Über die wahre Religion. Lateinisch/Deutsch, erl. u. übertr. von W. Thimme, Stuttgart 1983, 49.

[108] ciu. 12,22 CCL 48,380: «... si non tantum inter se naturae similitudine, uerum etiam cognationis affectu homines necterentur ... .»; Übs. zit. nach: Vom Gottesstaat, eingel. u. übertr. von W. Thimme (BAW), Zürich 21978, 99.

[109] ciu. 12,28 CCL 48,384: «quod uero femina illi ex eius latere facta est, etiam hic satis significatum est quam cara mariti et uxoris debeat esse coniunctio.»

[110] Gn. litt. 7,24,35 CSEL 28/1,222f.: «nam neque illud, quod dictum est ad imaginem suam, nisi in anima neque illud, quod dictum est masculum et feminam, nisi in corpore recte intellegimus.»; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 2), a.a.O., 31.

[111] Gn. litt. 3,22,34 CSEL 28/1,88: «... in aeternae contemplationis ueritatem ... .»; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 1), a.a.O., 104.

[112] Gn. litt. 3,22,34 CSEL 28/1,88: «... temporalium administrationem ... .»; Übs. zit. nach: Über den Wortlaut der Genesis (Bd. 1), a.a.O., 104.

[113] Vgl. Soennecken, a.a.O., 74f.

[114] K. E. Børresen, a.a.O., hier: 340f.: «En perspective opposée du féminisme moderne, où l’équivalence des sexes est axiomatique, la féminologie d’Augustin reste donc très ambivalente. ... il faut justement valoriser l’effort d’Augustin pour inclure les deux sexes dans l’humanité créée à l’image de Dieu.»

[115] ciu. 22,17 CCL 48,835: «non est autem uitium sexus femineus, sed natura, ... .»; Übs. zit. nach: Vom Gottesstaat, a.a.O., 791.

Eine gedruckte Fassung dieses Vortrags ist enthalten in dem Band: Würde und Rolle der Frau in der Spätantike. Beiträge des II. Würzburger Augustinus-Studientages am 3. Juli 2004 (hrsg. von Cornelius Mayer unter Mitwirkung von Alexander Eisgrub = Res et signa 3 = Cassiciacum 39,3), Würzburg 2007, 71-91.

Prinzipien der Anthropologie Augustins
(Vortrag beim Augustinus-Studientag 2004, Würzburg, Toscanasaal der Residenz)

Von Cornelius Mayer

Die Fachwelt gedenkt in diesem Jahr nicht nur der 1650. Wiederkehr der Geburt Augustins, sondern auch der 200. des Todes Immanuel Kants, der von der Philosophie die vier Fragen beantwortet haben wollte: ‹Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?› – wobei er die letzte für die gewichtigste hielt[1].

Nun war die Frage nach dem Menschen stets schon Thema des philosophischen Denkens, wenngleich nicht dessen bedeutsamstes. Das Denken der Antike z.B. kreiste um den Kosmos und es interessierte sich für den Menschen nur als dessen Teil. Erst in der neueren Zeit wurde der Mensch Kernthema des Philosophierens, weshalb auch die Philosophie mehr oder minder in Anthropologie überging, nicht selten allerdings darin auch unterging[2].

Ganz anders bei Augustinus, der gerade im Hinblick auf seine Anthropologie als der erste moderne Mensch gilt[3]. Gleich in einer seiner ersten philosophischen Schriften, den Soliloquien, einem philosophischen Diskurs zwischen ihm und seiner Vernunft, der ‹ratio›, lässt er seine seltsame Gesprächspartnerin fragen: «Was willst du wissen?» Seine vielzitierte Antwort lautet: «Gott und die Seele will ich erkennen». Und auf die Nachfrage «Weiter nichts?» lautet die Antwort bündig: «Ganz und gar nichts[4]».

Selbstverständlich kann bezüglich der Verknüpfung ‹Gott und die Seele› von einer Bipolarität bei Augustin keine Rede sein. Denn nichts und niemand bildet eine Art Gegenpol zu Gott und darum ist auch der Mensch in seiner Relation ganz und gar auf Gott hin bzw. von Gott her zu verstehen.

Dennoch wirft die Erkenntnis der Seele innerhalb des Junktims ein helles Licht auf des Kirchenvaters Lehre vom Menschen, nicht zuletzt in bezug auf unser Rahmenthema ‹Würde und Rolle der Frau›. Erkenntnis der Seele als Programm der Soliloquia zielt nämlich intentional auf die Selbsterkenntnis der Person Augustins und über ihn auf die Person eines jeden und einer jeden.

Gewiss kennt der junge Augustin die gängigen Definitionen des aus einer Geistseele sowie aus einem Leib zusammengesetzten Menschen[5]; sie alle artikulieren den Vorrang der Seele über den Leib. In der Frühschrift Über die Sitten der Katholischen Kirche lesen wir: «Der Mensch ist ..., so wie er dem Menschen erscheint, eine vernunftbegabte Seele, die über einen sterblichen und irdischen Leib verfügt»[6]. Es ist also im Junktim ‹Gott und die Seele› die Ausklammerung der Leiblichkeit – was für den Gottesbegriff verständlich ist, aber für den Begriff Mensch mitnichten – kaum zu übersehen.

Des frühen Augustins Interesse an der Erkenntnis des Menschen konzentriert sich so gut wie ausschließlich auf dessen Geistseele[7]. Daraus darf man bereits im Blick auf unser Rahmenthema ‹die Würde der Frau› den Schluss ziehen: Ist die Frau per definitionem ein Mensch und ist sie dies aufgrund ihrer Geistseele, so müsste man sich über ihre Nichtgleichwertigkeit gegenüber dem Mann geradezu wundern. Treten demnach die Differenzen vorzüglich, wenn nicht ausschließlich, auf der Ebene der Leiblichkeit in Erscheinung, so vermag doch ihre ausschließlich daraus abgeleitete eventuelle Nichtgleichwertigkeit mit der in ihrer Geistseele angelegten Gleichwertigkeit kaum zu konkurrieren.

Zum besseren Verständnis des Themas Prinzipien der Anthropologie Augustins dürfte ein Blick auf dessen geistige Entwicklung bis zum Beginn seiner schriftstellerischen Aktivitäten hilfreich sein, denn aus seinen ein gutes Jahrzehnt später abgefassten Confessiones geht hervor, dass er sich die in seinen Frühschriften dargelegte Sicht über den Menschen kurz zuvor erst erworben hat.

Der hochbegabte Augustinus verlebte eine normale Jugend. Als Student genoss er die Freuden des Leibes. Er lebte mit einer Konkubine zusammen, von der er einen Sohn hatte. Er war 19 Jahre alt, als er Ciceros Hortensius, eine Werbeschrift für die Philosophie, las, die eine Wende in ihm auslöste[8]. Denn Glück, so war darin zu lesen, liege einzig und allein im Erwerb der Weisheit, die im Unterschied zu den materiellen Gütern und zu den Wonnen des Leibes dem Menschen nicht genommen werden könnte.

In einem gesicherten Fragment aus jener verloren gegangenen Schrift heißt es: «Denn eine heftige Lust des Leibes kann nicht mit vernünftigem Denken harmonieren. Wer ist nämlich imstande, wenn er jene Lust genießt, die größer ist als jede andere, sich mit dem Geist auf etwas anderes zu konzentrieren ... Wer, mit gutem Verstand ausgerüstet, würde es nicht vorziehen, dass uns von der Natur überhaupt keine Lust gegeben worden wäre?»[9].

Dieser Text spricht für sich und wie Augustin berichtet, hat er damals begonnen, sich zu erheben. Mit unglaublicher Heftigkeit habe sein Geist nach dem Erwerb unvergänglicher Weisheit verlangt. Er griff zur Bibel, weil sie ihn aber nicht befriedigte, geriet er unter den Einfluss der Manichäer, die ihm die Weisheit versprachen. Ihrem weltanschaulichen Dualismus zufolge stehen Gutes und Böses gleich zwei Prinzipien einander gegenüber. In konsequent dualistischer Deutung identifizierten sie auch im Menschen das Gute mit der Seele und das Böse mit dem Leib und stützten ihre Lehre sogar mit dem paulinischen Satz aus Gal 5,17, wonach ‹das Begehren des Fleisches› sich gegen ‹das Begehren des Geistes› richtet[10].

Abermals waren es philosophische Texte, mit deren Hilfe es Augustinus gelang, sich aus der Umklammerung der Manichäer zu lösen. Er war bereits Professor der Rhetorik in Mailand, als ihm um sein 30. Lebensjahr Bücher der Neuplatoniker in die Hände gespielt wurden, die, wie er in einem bald darauf geschriebenen Dialoge berichtet, «ein mächtig loderndes Feuer» in ihm entzündet hätten und die er deshalb «mit größter Aufmerksamkeit und Hingabe» durchgelesen habe[11].

Im Gegensatz zum Manichäismus vertraten die Neuplatoniker eine monistische Weltanschauung. Zwar unterschieden auch sie zwischen zwei Sphären des Seienden, einer dem Raum und der Zeit enthobenen geistigen (νοητὰ) sowie einer davon abhängigen, jedoch dem Raum und der Zeit unterworfenen, materiellen und veränderlichen (αἰσθητά). Sie fassten aber ihrer Ontologie, ihrer Lehre vom Sein des Seienden zufolge, diese an Seinsdichte nach oben zunehmenden, nach unten abnehmenden Sphären in einer einzigen, jedoch gestuften Wirklichkeit des κόσμος, des ‹ordo rerum›[12], zusammen. An seiner Spitze, so lehrten sie, stünde ein begrifflich nicht mehr fassbares Prinzip, das sie schlicht ‹das Eine› (ἕν) nannten[13], an dessen Ende die unstrukturierte Materie (μὴ ὄν).

In der Mitte der Skala befindet sich der Mensch, richtiger gesagt, die Geistseele des Menschen. Sie entstammt ebenfalls der Spitze des Seins, wurde aber aus bestimmtem Grunde zur Strafe auf jener Stufe an den materiellen Leib gebunden. Denn wie schon Platon lehrte, sind die Leiber Gefängnisse der Seelen. So ist die Seele zerrissen und gespalten. Die ἐπιθυμίαι, die Lüste, die Begierden und die Leidenschaften, die vom Leib ausgehen, hindern sie an der Schau (θεωρία) des über sie angesiedelten geistig Seienden und deren Spitze[14].

Umgekehrt, wendet die Geistseele sich den über sie liegenden Stufen des Seins zu, so erhebt sie sich; es kommt zur Überwindung ihres Zersplittertseins. Dieser Prozess der Selbstwerdung erfolgt aus eigener Kraft. Der anthropologische Imperativ Plotins, des Hauptes der Neuplatoniker, lautete: «Mensch werde Seele!» und: «Seele werde du selbst!»[15]. Selbstwerden meint Innewerden der Seele als geistig Seiendes und deren Ausrichtung auf ‹das Eine› hin[16]. Übrigens berichtet Porphyrios, Schüler und Biograph Plotins, dieser sei eine Art von Mensch gewesen, «die sich dessen schämt, im Leibe zu sein»[17].

Man erkennt in diesen Sätzen unschwer Argumentationsmuster aus den Soliloquien wieder. Die Geistseele in ihrer Beziehung zu Gott will Augustinus erkennen, denn für den christlichen Neuplatoniker war ‹das Eine› der offenbarte Gott, der Schöpfer, dessen immaterielles, rein geistiges Wesen außer Frage stand. Außer Frage stand ebenso die negative Sicht des Leiblichen sowie die Bevorzugung einer den Leib und dessen Bedürfnisse einschränkenden Ethik. Immerhin erteilt die ‹Vernunft› als Gesprächspartnerin Augustinus den Rat, wolle er in der Selbst- und Gotteserkenntnis Forschritte machen, müsse er diese Sinnenwelt von Grund auf fliehen – ‹penitus ista sensibilia fugienda›[18].

Eine Einbeziehung des Leibes und dessen Bedürfnissen in die philosophische Reflexion blieb also beim frühen Augustinus so gut wie ausgeschlossen. Der Leib gehört dem Bereich des ‹foris›, des ‹draußen› an. Noch in der vor der Übernahme kirchlicher Ämter verfassten Schrift Über die wahre Religion formulierte er die Maxime für die Suche nach der Wahrheit: «Geh nicht nach außen, in dich selbst kehre zurück, denn im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur als wandelbar empfindest, übersteige dich selbst»[19].

Der erwähnte Porphyrius war der Verfasser der Schrift Über die Rückkehr der Seele, die Augustinus höchst wahrscheinlich gelesen hat und in der er Parallelen zur christlichen Heilsverkündigung kaum übersehen haben dürfte. Von der darin propagierten ‹Um- und Rückkehr›, der ἐπιστροφή, der ‹conuersio› als Bedingung des Aufstiegs ‹zum Einen›[20], dem Ziel der ‹Rückkehr›, konnte er auch in den Evangelien – etwa Mk 1,15, wenngleich dort unter anderer Zielsetzung – lesen. Er las diese Aufforderung zur Umkehr wohl noch mit neuplatonischem Vorverständnis. Mit gleichem Vorverständnis konnte er in den Paulusbriefen von dem spannungsreichen Begriffspaar ‹Fleisch› und ‹Geist›, σάρξ und πνεῦμα, ‹caro› und ‹spiritus›[21], lesen. Beschreibt Paulus damit bei allen Divergenzen zum Neuplatonismus nicht den Riss, den Bruch, den Zwiespalt, der die an den materiellen Leib gekettete Seele von ihrem Ursprung entfremdet?

Wir können also in bezug auf unser Thema feststellen, dass der Leib und die Leiblichkeit des Menschen im Denken des frühen Augustinus so gut wie keine, und wenn ja, vorzüglich eine negative Rolle spielten. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auch auf seine frühe Christologie aufschlussreich. Nicht die paulinische, auf den ‹Mittler Christus› hin zentrierte Verkündigung stand im Vordergrund des Interesses in seinen Schriften aus jener Zeit, sondern ‹Gottes Mensch gewordenes Wort›, der als der ‹innere Lehrer›, als der ‹magister interior›, durch Einleuchtung das Erkennen alles Wahren im Menschen ermöglicht[22]. Diese christologische Perspektive sollte sich verschieben und dies hatte Folgen auch für die Anthropologie des Kirchenvaters.

In den gegen Ende seines Lebens verfassten Retractationes überprüfte der greise Bischof seine Schriften der Chronologie ihrer Abfassung nach. Darin erteilte er den Lesern den Rat, sie sollten seine Bücher der Reihe ihrer Entstehung nach lesen, damit sie sähen, ‹wie er im Schreiben Fortschritte machte›[23].

Dieser von Augustinus als Fortschritt interpretierte Wandel wird bereits in den ersten Jahren seiner Seelsorgstätigkeit deutlich. Im Jahr 391 wurde Augustinus Priester in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo und als solcher beauftragt, Gottes Wort zu verkünden. Kurz nach seiner Ordination ließ er sich daraufhin von seinem Bischof zum Zwecke «eines tieferen Eindringens in die heilige Schrift» für einige Monate beurlauben[24]. Er verfasste jetzt keine Dialoge mehr. In dichter Folge erschienen dagegen bibelexegetische Schriften, zu Paulusbriefen[25], zur Genesis[26] und zum Psalter[27].

Natürlich findet man in der Bibel keine Definition über den Menschen[28]. Dafür artikuliert sie dessen Größe und Würde, etwa im Psalm 8,5: «Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du seiner dich annimmst? –, häufiger jedoch artikuliert die Bibel dessen Niedrigkeit Gott gegenüber, etwa im Psalm 39,6sq.: «Nur wie ein Hauch steht jeder Mensch da, nur als Schattenbild wandelt er einher» (ähnlich 144,4). Diese überwiegend negative Sicht entging Augustinus freilich ebenfalls nicht.

In den auch sprachlich der Bibel angepassten Confessiones stößt der Leser wiederholt auf Sätze, in denen die Zwiespältigkeit und die Tragik des Menschseins unmissverständlich zur Sprache kommen. «Was ist der Mensch, wer er auch sei, als eben ein Mensch?», heißt es zum Beginn des 4. Buches und einige Kapitel weiter folgt der knappe Satz, der das Rätselhafte des Menschseins sozusagen auf den Punkt bringt: «Ein abgrundtiefes Geheimnis – grande profundum – ist der Mensch»[29]. Und im 10. Buch, in dem Augustinus den kühnen Versuch unternimmt, sein Innerstes vor Gott bis in die feinsten Ästelungen hinein bloßzulegen, stellt er fest, dass des Menschen Geist zu eng sei, sich selbst zu fassen, weshalb ihn auch ein Wundern und Staunen packe[30]. Im gleichen Buch folgt dann noch das Bekenntnis, er sei sich selbst zu einer ‹Frage› geworden, und eben dies sei sein Siechtum[31].

Nach wie vor wird indes der Mensch ausschließlich in seiner Bezogenheit auf Gott hin verstanden. Diese Sicht verbindet den Seelsorger mit dem Neuplatoniker. Daneben gibt es aber ein nicht zu übersehendes und auch nicht zu überbrückendes Neues, wovon die Bibel zu reden nicht müde wird: Gottes Interesse am Menschen, Gottes Eingreifen in des Menschen Geschick und Geschichte. Nach dem Neuplatonismus lebt der Mensch zwar ebenfalls in der Geschichte, aber zum Heil gelangt er gleichsam auf dem Weg seiner Emanzipation aus der Geschichte, kraft eigener und eigenständiger philosophischer Reflexion.

Nicht so nach dem Christentum. Dieses steht und fällt mit dem Wissen um die Ohnmacht des Menschen, sein Heil aus eigenem Wollen wirken zu können. Gott schafft Heil[32]. Ein grenzenlosen Vertrauen des sich als Sünder verstehenden und auf Gottes Erbarmen angewiesenen Menschen bestimmt nach dem Neuen Testament, speziell nach den Paulusbriefen, das christliche Heils- und Menschenverständnis.

In den Briefen des Apostels Paulus, der sich den Menschen ohne Leib weder im Diesseits noch im Jenseits vorstellen konnte[33], stößt der Leser auf eine ausgeprägte, auf das Erlösungswerk Christi hin konzipierte Anthropologie. In seinem Ersten Korintherbrief, Kap. 15, nennt der Apostel in der Perspektive der Heilsgeschichte und im Unterschied zu Adam, ‹dem ersten Menschen› (πρῶτος ἄνθρωπος), den verherrlichten Christus den ‹zweiten Menschen› (δεύτερος ἄνθρωπος) bzw. den ‹letzten Adam› (ἔσχατος Ἀδάμ). Kam durch den ‹ersten› der Tod, so durch den ‹letzten›, den er auch ‹lebendigmachenden Geist› (πνεῦμα ζωοποιοῦν) nennt, das ewige Leben. Besaß Adam nur einen psychischen Leib (σῶμα ψυχικόν), so Christus einen pneumatischen (σῶμα πνευματικόν). Der Mensch wird also von Paulus grundsätzlich in dessen Beziehung sowohl zu Adam wie zu Christus gesehen und gedeutet.

Um die Folgen dieser Doppelbeziehung zu illustrieren, verwendet Paulus das bereits erwähnte Begriffspaar ‹Fleisch› (σάρξ) und ‹Geist› (πνεῦμα) – so in Rm 7,14-25 und Gal 5,17. Beide Begriffe signalisieren nicht nur verschiedene, sondern einander ausschließende Daseinsmöglichkeiten. ‹Fleisch› meint nicht den Leib bzw. das Leben im Leib, sondern die Selbstbezogenheit, die Existenzweise des durch seine Begierden (ἐπιθυμίαι) von Gott entfremdeten, in der Sünde verwurzelten Menschen. Umgekehrt meint ‹Geist›, worunter primär der dem Menschen geschenkte ‹Geist Gottes› bzw. ‹Geist Christi› zu verstehen ist, negativ den Verzicht auf die Selbstherrlichkeit, positiv die Ausrichtung des Daseins auf Christus hin.

Die Existenzweise ‹dem Fleische nach› (κατὰ σάρκα) führt ins Verderben, die ‹dem Geist nach› (κατὰ πνεῦμα) zum ewigen Leben, an dem der Glaubende Anteil hat – wenngleich erst einen verheißenen. Die Anthropologie des Apostels ist deshalb ohne seine Eschatologie nicht zu verstehen. Es bleibt somit eine Spannung in der neuen, durch Christus vermittelten Existenz erhalten. Zum Indikativ des Christseins gehört der Imperativ des Christwerdens. «Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr nicht das Begehren des Fleisches erfüllen!», mahnt der Galaterbrief (5,16).

Obgleich Augustinus die paulinische Anthropologie sich weithin zu eigen machte, so blieb er doch zeitlebens ein in der Philosophie, insbesondere in der Ontologie der Neuplatoniker verankerter Intellektueller. Als Christ las er die Schriften der Neuplatoniker zunehmend mit christlicher Brille[34]. Man wird umgekehrt nicht behaupten können, Augustin las die Bibel zunehmend mit einer neuplatonischen Brille. Einiges aber las, verstand und interpretierte er so. Vielleicht ist gerade dieses hermeneutische Verfahren das Proprium, das Faszinierende, gelegentlich auch Schockierende an seinem Denken.

Augustin wurde Mitte der 90er Jahre des 4. Jahrhunderts zum Bischof seiner Diözese geweiht. Er war jetzt verantwortlich für den christlichen Unterricht im weitesten Sinn des Wortes. Wieder ging er sogleich daran, eines seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Werke zu schreiben, dem er den Titel gab: De doctrina christiana – Die christliche Wissenschaft[35]. In diesem vier Bücher umfassenden Opus geht es zwar um das rechte Verständnis der Bibelauslegung, diese ist aber eingebettet in eine Fundamentalhermeneutik, deren Regeln im ersten Buch ausführlich erörtert werden. Ihnen liegt eine Ontologie zugrunde, die der Auslegung den Weg weist. Auszulegen ist alles ‹Veränderliche› auf das mit dem dreieinigen Gott identische ‹Unveränderliche› hin.

Die Terminologie ‹veränderlich-unveränderlich› verrät abermals die platonische Herkunft dieser Ontologie, die auch der Ethik, dem Umgang des Menschen mit allem, den Weg weist. Gott allein, weil ‹unveränderlich›, bietet sich ‹zum Genuss› dar, ‹Veränderliches› hingegen ‹zum Gebrauch›. Das Begriffspaar ‹Genießen-Gebrauchen›, ‹frui-uti›[36] entstammt als Schema ebenfalls der Güterlehre der Philosophie. Sie setzte das ‹höchste Gut› von den übrigen Gütern ab und lehrte, allein jenes ‹Höchste›sei um seinetwillen zu erstreben. Alles andere sei so zu gebrauchen, dass das ‹Höchste› aller Güter, zugleich Inbegriff des Wahren, des Schönen und damit Inbegriff des wahren Glücks, erlangt werden könne.

Die Unverfänglichkeit, mit der die Bibel auch über irdisches Glück redet, begegnet einem bei Augustinus nur unter Vorbehalt. Glück ist bei ihm nichts Irdisches, weil Irdisches vergänglich und weil Vergängliches für die Geistseele verfänglich ist. Einer der ausgewiesensten Kenner der Anthropologie Augustins, Erich Dinkler, Verfasser der gleichnamigen Studie aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zeiht den Kirchenvater eines von Anfang an latenten, dann immer offensichtlicher gewordenen anthropologischen Dualismus. Dinkler spricht von einer förmlichen Antithetik. Der Mensch als Einheit werde bei Augustinus zerrissen, «die Seele mit Gott in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt und der Leib mit der Welt und der Sünde identifiziert»[37].

Ich habe Bedenken gegen eine solche angebliche Identifizierung des Leibes mit der Sünde, weil Sünde im Sinne von Sündigen eine Sache des Willens ist, dessen Primat unter der sonstigen Ausstattung des Menschen von Augustin wiederholt zur Sprache gebracht wird. Wie Dinkler selbst darlegt, hat Augustinus sich in seiner Anthropologie die Perspektive der Bibel zu eigen gemacht. Das heißt allerdings zugleich, dass er die Paradieseserzählung über Adam und Eva historisiert hat, so dass er deren Geschichte mit einem Dasein beginnen ließ, das keine Zersplitterung ihrer Geisteskräfte, keine Gegensätze in ihren Handlungsmotiven, vielmehr eine höchste Konzentration ihres Willens auf Gott hin kannte.

Natürlich historisierte Augustin die biblische Erzählung auch vom Sündenfall. Obgleich der Wille gravierende Einbußen erlitt, so blieb doch sein Primat im postlapsarischen Zustand des Menschen erhalten[38]. Was hindert nun aber den Willen an der Konzentration seiner Kräfte auf das höchste Gut hin? Ist es der materielle Leib, ist es die Welt? Gab es beide nicht schon vor dem Fall?

Ist aber der Wille weiterhin das dominierende Element der Geistseele, so folgt doch daraus, dass er verantwortlich ist für das, was er will wie auch für das, was er nicht will, ebenso aber auch für das, was er verkehrt will bzw. verkehrt nicht will. Was er aber verkehrt will bzw. verkehrt nicht will, verstößt gegen die ‹Ordnung›, die Gott will, und deshalb Sünde ist. Nach wie vor ist es somit der Wille, der sich auf die Affekte, Triebe und Regungen erstreckt, und diese sind ihrerseits wieder Willenskundgebungen[39].

Augustins Ethik stützt diesen seine Anthropologie kennzeichnenden Voluntarismus. Denn die Liebe als Fundament und Ziel der Ethik bildet mit dem Willen eine untrennbare Einheit[40]. Die christliche ‹caritas› bzw. ‹dilectio› ist ihrem Wesen nach nicht Gemüt, sondern Wille – auf das Gute gerichteter Wille. Der perverse Wille ist perverse Liebe, Begierde[41].

Augustin hat die Perversion eines gespaltenen Willens an sich schmerzlich wahrgenommen und in den Confessiones dramatisch beschrieben. «Woher dieses Monströse» – fragt er rhetorisch höchst wirkungsvoll gleich dreimal, die Widerstände seines eigenen Wollens beklagend –, «es befiehlt die Seele dem Leib und er gehorcht, es befiehlt die Seele sich selbst und sie stößt auf Widerstand?»[42]. So ist es die Geistseele, die mit sich selbst im Kampf liegt und gegen sich Krieg führt. «Wer hat diesen Krieg in mir angezettelt – quis in me seminavit hoc bellum?» fragt er noch in einer seiner späteren Schriften[43]. Die Antwort lautet nach wie vor: der Mensch. Er ist der Schuldige. Sein Siechtum resultiert aus der Schwäche seines Wollens.

In heilsgeschichtlicher Perspektive existiert der Mensch nach Augustinus in drei aufeinanderfolgenden Stadien, dem im Paradies bis zum Sündenfall, dem nach dem Sündenfall bis zum Ende der Zeiten mit der wichtigen Zäsur der Menschwerdung Christi und dem seiner Vollendung nach Christi Wiederkunft. Verständlicherweise richtete sich des Kirchenvaters anthropologisches Interesse auf das zweite Stadium, das er im Hinblick auf die Befindlichkeit des Menschen mit einer Krankheit vergleicht. «In diesem sterblichen Körper geboren zu werden, bedeutet, anfangen krank zu sein», heißt es in einer Predigt[44].

Der Mensch konnte sich zwar aus eigener Schuld ins Elend stürzen, befreien daraus vermag er sich nicht. Es fehlt zwar nicht an seinem Genesungswillen, dieser wird aber dann erst zu einem genesenden Willen, wenn ihm die Gnade zu Hilfe kommt[45]. Welche Rolle spielt sie, was vermag sie, und – dies ist von nicht geringerer anthropologischer Relevanz! – was vermag sie nicht? Um auch diese Fragen beantworten zu können, ist abermals ein Blick in die Biographie Augustins aufschlussreich, der sich in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens gezwungen sah, sich mit der pelagianischen Häresie auseinander zu setzen. Dabei ging es erneut um das Verständnis des Menschen als Gottes Geschöpf.

Pelagius und dessen Anhänger lehrten bezüglich der Gnade Christi, diese bestünde vorzüglich, wenn nicht gar ausschließlich in der Aufforderung Jesu zu einer Lebensführung nach den sittlichen Vorschriften des Evangeliums. Augustinus erkannte darin die Gefahr einer Aushöhlung der vom Apostel Paulus so eindringlich verkündeten, in Christi Kreuz und Auferstehung gründenden Bedeutung der Gnade, die den Glaubenden negativ die Sündenvergebung, positiv die Gotteskindschaft schenkt. Zwar leugneten die Pelagianer die Verführbarkeit der Adamskinder nicht, aber von einer Adamssünde, die sich vererbt, wollten sie nichts wissen. Sie verwiesen auf Personen, deren Vollkommenheit wie z.B. die Hiobs die Bibel selbst rühmend hervorhebt.

Augustin hingegen kam es in seiner Gnadenlehre auf den Sündenstatus aller vor Gott an. Er übersetzte den Kausalsatz in Röm 5,12: «weil alle sündigten», ἐφ᾿ ᾧ πάντες ἥμαρτον, grammatikalisch zwar inkorrekt mit «in quo omnes peccaverunt», «in dem (nämlich Adam) alle sündigten», aber intentional gab er Paulus korrekt wieder. Denn wenn der Apostel im Kontext dieser Stelle betont, dass es ‹durch die Übertretung eines einzigen›, nämlich Adam, ‹für alle Menschen zur Verurteilung› kam, ‹so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen›, nämlich Christus ‹für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen› (Röm 5,18).

Adams Sünde, ein ‹debitum hereditarium›[46], erbt sich von Generation zu Generation fort. Da Vererbung ein leiblicher Vorgang ist, rückte verständlicherweise der Leib und mit ihm die Geschlechtlichkeit mehr und mehr ins Blickfeld der anthropologischen Reflexion der Kontrahenten. Dabei stieß Augustin auf den erbittertsten Widerstand des Pelagianers Julian von Aeclanum. Dieser, Sohn eines katholischen Bischofs und selbst verheirateter Bischof, ein ebenso dialektisch wie rhetorisch brillanter Intellektueller, vermochte am Zeugungsvorgang als solchem keinen Makel zu entdecken und er fand auch genügend Stellen in der Bibel, die seine Ansicht stützten. Außerdem hatte er physiologische Einsichten anerkannter Autoritäten auf seiner Seite[47].

Augustin hingegen, der in bezug auf die Bewertung des Leibes zwar eine beachtliche Entwicklung durchlief[48], hielt seine Reserve allem Sexuellen gegenüber bis ins hohe Alter aufrecht[49]. Er nahm z.B. den aus den Soliloquien bereits zitierten Satz, «die Sinnenwelt» sei «ganz und gar zu fliehen», in seinen Retractationes nur einschränkend zurück. Er wolle nunmehr allein jene ‹Sinnenwelt› ausgenommen wissen, die es «in einem neuen Himmel und einer neuen Erde» geben werde[50]. Bis zum Eintreffen des Endzustandes bleibt somit im Menschen, auch in dem bereits Gerechtfertigten, die ‹concupiscentia carnalis› wirksam. Denn die Gnade der Rechtfertigung hebe lediglich den Zustand des Angeklagtseins, den ‹reatus›, auf, die Begierlichkeit des Menschen beseitige sie nicht.

Augustins Lehre von der Konkupiszenz gehört deshalb zum integrierenden Bestand seiner Lehre sowohl über den gefallenen als auch über den schon gerechtfertigten Menschen. Nach dem gut recherchierten Artikel im Augustinus-Lexikon von Gerard Bonner ist ‹concupiscentia›[51] (aequivalent mit ἐπιθυμία) ein Terminus technicus des Begehrens, der je nach dem Objekt, das er begehrt, positiv oder negativ konnotiert. Wie Augustinus ausdrücklich feststellt, dominiert das negative Konnotat im Sprachgebrauch auch dann, wenn das Objekt des Begehrens fehlt[52]. Die Bibel selbst und mit ihr die christlichen Schriftsteller verwenden ihn vorrangig in diesem pejorativem Sinn.

Bei Augustin deckt der Begriff in seiner negativen Konnotation die ganze Skala sündhafter Begierden ab wie, um nur ein Beispiel zu nennen, die Herrschsucht[53]. Spricht demnach der Bischof von der ‹concupiscentia carnis›, so ist Subjekt der Begierlichkeit nicht die ‹caro›, sondern, wie schon wiederholt gesagt, die Geistseele. Dennoch scheint Augustin die Konkupiszenz sofern auch an den Leib zu binden, als er sie physiologisch an den Sexualorganen signifikant wahrnehmen zu müssen glaubte. Diese Sicht der ‹concupiscentia carnis› erlaubte es ihm, sich die Erbsünde zu erklären, zumal er sie, wie bereits erwähnt, als eine Wunde betrachtete, die dem ganzen Menschengeschlecht durch die Adamssünde hinzugefügt wurde[54].

In De ciuitate dei legte der Kirchenvater diese seine Auffassung anhand der Erzählung vom Sündenfall aus Gn 3 ausführlich dar. Der bestimmende Gesichtspunkt seiner Exegese ist der Ungehorsam. Das Vergehen der Stammeltern bestand in ihrer aus Stolz motivierten Abwendung von Gott bzw. in der Hinwendung zu niederen Gütern oder, um in der Terminologie Augustins zu sprechen, im ‹Genießen› (frui) dessen, was zum ‹Gebrauch› (uti) bestimmt ist. ‹Ab- und Hinwendung› ist Sache des Willens. Deshalb traf auch die Strafe primär den Willensbereich der Geistseele. Der Wille ging seiner Herrschaft speziell der über die Sexualorgane verlustig, denn «Ungehorsam war durch Ungehorsam vergolten»[55].

Die Unbotmäßigkeit der Sexualorgane manifestiert sich in dem von der Lust begleiteten und in dem mit dem Verlust der Kontrolle darüber einhergehenden Geschlechtsverkehr. «Sie aber (sc. libido) nimmt den ganzen Leib innerlich wie äußerlich in Anspruch und da das Verlangen der Seele sich mit dem sinnlichen Verlangen vereinigt, bringt sie den ganzen Menschen in Wallung. Darauf folgt jene Sinnenlust, mit deren Intensität keine andere körperliche Lust zu vergleichen ist. Auf ihrem Höhepunkt angelangt, löscht sie so gut wie alle Schärfe und Wachsamkeit des Denkens aus»[56].

Wer erkennt in diesen Sätzen nicht Gedanken aus dem eingangs zitierten Hortensiustext wieder? War nicht dort schon von jener Lust die Rede, ‹die größer ist als jede andere› und ‹den Geist hindert, sich auf etwas anderes zu konzentrieren›? Und fragte Cicero nicht: «Wer mit gutem Verstand ausgerüstet, würde es nicht vorziehen, dass uns von der Natur überhaupt keine Lust gegeben worden wäre?» In De civitate dei wird die Frage auf den Ehestand gezielt so formuliert: «Welcher Freund der Weisheit ... der im Ehestand lebt, ... möchte nicht lieber, wenn es möglich wäre, Kinder ohne Wollust erzeugen?»[57] Freilich erfährt der Wille Widerstand über die Sexualorgane selbst, die gelegentlich ihren Dienst versagen, wenn der Mensch sie in den Dienst nehmen will.

Wie seriöse Forschungen zeigen, entnahm Augustinus die Auffassung von der Ausschaltung der Geisteskräfte angesichts der in den Sexualorganen gleichsam lokalisiert gedachten Lust (voluptas) der Philosophie der Stoiker und Neuplatoniker[58]. Er fand indes auch in der Bibel Texte, die ihm solche Auffassungen zu bestätigen schienen, wie den von ihm des öfteren zitierten Vers aus Sap 9,15: «Der gebrechliche Leib belastet die Seele und die irdische Behausung drückt den vieles erwägenden Geist nieder»[59].

Ziehen wir ein Resümee, so muss zunächst auf die weite Übereinstimmung zwischen der Anthropologie Augustins und seiner Biographie hingewiesen werden. Biographische Details in den Confessiones liefern sozusagen den Verstehensschlüssel auch zu seiner Anthropologie. Treffend bemerkte schon Dinkler: «Augustin war sich selbst Paradigma ... seine Lehre vom Menschen war die abstrahierte Erkenntnis vom eigenen Sein, das Ergebnis des γνῶθι σεαυτόν. Hier lagen die großen Gefahren für seine Lehre, aber hier wurzelt auch andererseits die Tiefe seines Blickes und die Lebendigkeit seiner Konzeption. ... der augustinische Mensch ist wenig verschieden vom Menschen Augustin»[60].

Seriöse Studien über die psycho-physiologische Konstitution Augustins, auf die wir hier nicht eingehen konnten, machen auf dessen leichte Affizierbarkeit und hohe Sensibilität sowohl in der Jugend wie auch noch im Alter aufmerksam. Den Leib und dessen Bedürfnisse im Schach zu halten, war Augustinus seit der Hortensiuslektüre ein Herzensanliegen, aber auch eine Herausforderung.

Zwar hat der späte Augustin auf den Wandel in seiner geistigen Entwicklung hingewiesen. Dennoch fällt in bezug auf seine Anthropologie bei allem Wechsel in seiner Biographie angefangen von der Hortensiuslektüre bis ins hohe Alter eine Konstante ins Auge, die sich als Spannung zwischen der Geistseele und dem Leib manifestierte. Im pelagianischen Streit trat diese Spannung auch literarisch in ein helles Licht. Der Pelagianer Julian versuchte vergebens, Augustin auf die Defizite in seiner Anthropologie hinzuweisen, indem er die Sexualität in der Ehe und die damit notwendig gegebene Konkupiszenz als gottgewollt verteidigte. Wegen der Verurteilung der die Gnade dem freien Willen hintansetzenden Häresie der Pelagianer konnte sich ihre Auffassung von einer gottgewollten Sexualität in der Kirche nicht durchsetzen.

Augustin ließ sich auf rein biologisch-physiologische Argumente in seiner Anthropologie nicht ein. Er hielt die Prinzipien seiner Anthropologie sowohl für philosophisch-metaphysisch sowie auch für theologisch abgesichert und deshalb für schlüssig. Seine Reflexionen über den Menschen beschränken sich, wie gezeigt, nicht auf dessen gegenwärtigen Status. Sie überschreiten heilsgeschichtlich betrachtet zwei Grenzen, einmal rückwärts ins Paradies, sodann vorwärts in den Zustand am Ende der Zeiten. Die ganze Menschheit existiert gegenwärtig ‹als eine von Gott entfremdete Masse›[61]. Der wahre Mensch ist nicht der entfremdete, sondern der von aller Entfremdung befreite, der Erlöste. Deshalb ist auch der nicht auf dem Wege der ‹concupiscentia carnis› inkarnierte Christus der wahre Mensch – Gottes Ebenbild, die ‹imago dei› schlechthin.

Nun sind es gerade diese in der Ontologie wie in der Offenbarungstheologie gründenden Prinzipien, die, um nochmals auf unser Rahmenthema zu sprechen zu kommen, eine Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau schlicht verunmöglichen. Solche Möglichkeiten gab es gewiss bei einer vorzüglich die Leiblichkeit des Menschen und die jeweils geltenden sozialen Verhältnisse als Prinzipien reflektierenden Anthropologie. Belege dafür gibt es tausendfach in allen Religionen und in allen Weltanschauungen – auch in den christlichen der ausgehenden Spätantike.

Die Kritik an der Anthropologie Augustins richtet sich heutzutage mehr den je auf die von ihm empfohlene Enthaltsamkeit. Dazu ist zu sagen, dass er wie übrigens auch andere christliche Schriftsteller seiner Zeit die nicht zuletzt in der Verkündigung von der Naherwartung der Wiederkunft Christi gründenden Motive zur Enthaltsamkeit nicht mehr deutlich sah. Deutlich sah er aber deren Präferenz in seiner auch ontologisch fundierten und von einer Naherwartung unabhängigen Theozentrik. Aufschlussreich dafür ist sein berühmtes Gebet in den Soliloquien. Es artikuliert aufs Schönste sein auf Gott hin ausgerichtetes Selbst- und Daseinsverständnis.

«Lass mich dich suchen, Vater, befreie mich vom Irrtum. Mir, dem dich Suchenden begegne nichts an Stelle deiner. ... Wenn aber in mir die Sehnsucht nach Überflüssigem ist, dann läutere du selbst mich; mach, dass ich fähig werde, dich zu schauen. Was im übrigen das Heil meines sterblichen Leibes betrifft, so überantworte ich ihn, wie lange er mir auch zum Nutzen ist, dir, weisester und bester Vater, ebenso, die ich liebe. Für den Leib will ich erbitten, was du zur gegebenen Zeit mir nahe legen wirst. Nur um das Eine bitte ich deine allerhöchste Barmherzigkeit: kehre du mich vollends zu dir hin und lass nicht zu, dass sich mir, indem ich zu dir hin strebe, irgendetwas daran hindere. Befiehl du mir, dass ich solange ich meinen Leib trage und schleppe, rein, mutig, gerecht und klug sei, ein Mensch, vollendet in der Liebe und im Empfang deiner Weisheit, würdig, dass du in mir wohnest und ich selbst ein Bewohner deines glückseligsten Reiches sei. Amen, Amen»[62].

An diesen Sätzen wie übrigens auch an dem Eingangs zitierten ‹Gott und die Seele will ich erkennen› hatte der greise Augustin nichts auszusetzen.

--------------------------------------------------------------------------------

[1] Kritik der reinen Vernunft, A. 805; B. 833.

[2] Siehe dazu das aufschlussreiche Vorwort zum Sammelband Philosophische Anthropologie heute, Hrsg. R. Roček/O. Schatz, München 21974, 7-18.

[3] P. Ricœur, Liberté in: Encyclopedia Universalis 9 (1971) 979-985, 984 mit Bezug auf G.W.F. Hegel, Philosophie des Rechts § 124.

[4] Sol. 1,7.

[5] Beata u. 7: «uidetur ex anima et corpore nos esse compositos»; ord. 2,31: «homo est animal rationale mortale».

[6] Mor. 1,52: «homo igitur ut homini apparet, anima rationalis est mortali atque terreno utens corpore».

[7] Um diese Zeit verfasst er auch die Schriften De immortalitate animae sowie De animae quantitate.

[8] Conf. 3,7.

[9] Siehe dazu den Text, Cic. Hort. frg. 84 ed. Grilli (Milano 1962) in deutscher Übersetzung zitiert bei E. Feldmann, Das augustinische Menschenbild, in: Was ist der Mensch? Aktuelle Fragen der Theologischen Anthropologie (Hrsg. G. Lange), Bochum 1993, 49-72, 65.

[10] Augustin spricht davon in cont. 18.

[11] Acad. 2,5.

[12] Zum Terminus bei Augustinus: ciu. 5,9. Siehe auch J. Rief, Der Ordobegriff des jungen Augustinus, Paderborn 1962.

[13] Plot. 3,8 Περὶ φύσεως καὶ θεωρίας καὶ τοῦ ἑνός. Text und Übersetzung in der Ausgabe R. Harder, Plotins Schriften, Bd. IIIa., S. 1-33 mit Anmerkungen in IIIb., S. 363-380. Nach A. Richter, Plotins Lehre vom Sein und die metaphysische Grundlage seiner Philosophie, Halle 1867, Neudruck Aalen 1968, S. 23 bietet die Enneade 3,8 gleichsam das Grundgerüst der Philosophie der Neuplatoniker.

[14] Siehe Plot. 4,8.

[15] E. Dinkler, Die Anthropologie Augustins, Stuttgart 1933, S. 29 mit Verweis auf Plot. 5,9,5.

[16] Es gilt also «Geist zu werden», das will sagen: «die eigene Seele dem Geiste anzuvertrauen», Plot. 6,9,3, zitiert bei Dinkler, op. cit., S. 31, Anm. 1.

[17] Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften 1,1. Plotins Schriften, Bd. Ve: Anhang, Hamburg 1958.

[18] Sol. 1,24: «Unum est quod tibi possum praecipere; nihil plus novi: penitus esse ista sensibilia fugienda ...».

[19] Vera rel. 72.

[20] Zur Adaptation dieser Aufstiegslehre bei Augustinus: G. Madec, Ascensio, ascensus: AL 1 (1986-1994) 465-475.

[21] C. Mayer, Caro-spiritus: AL 1 (1986-1994) 743-759.

[22] Siehe dazu auch conf. 7,25.

[23] Retr. prol. 3.

[24] Siehe den Brief an Bischof Valerius Epistula 21; dort 3: «debeo scripturarum eius medicamenta omnia perscrutari».

[25] Zur Datierung dieser Briefe: T. G. Ring, Aurelius Augustinus. Schriften über die Gnade. Prolegomena I: Die Auslegung einiger Fragen aus dem Brief an die Römer (eingeleitet, übertragen und erläutert), Würzburg 1989, S. 11sq.; Id., Prolegomena II: Die Auslegung des Briefes an die Galater. Die angefangene Auslegung des Briefes an die Römer. Über dreiundachtzig verschiedene Fragen: Fragen 66-68 (eingeleitet, übertragen und erläutert), Würzburg 1997, S. 25sq., 47sq., 62sq.

[26] Zu den ersten beiden Auslegungen Augustins über die Genesis: D. Weber, De Genesi aduersus Manichaeos sowie De Genesi ad litteram imperfectus liber: AL 3 (2004) sub prelo.

[27] Zur Datierung einiger Enarrationes in die Presbyterzeit Augustins: H. Müller, Enarrationes in Psalmos. A. Philologische Aspekte: AL 2 (1996-2002) 804-838, S. 806sq.

[28] J. Bauer, Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz/Wien/Köln 21962, 828-842, S. 829.

[29] Conf. 4,1.22.

[30] Conf. 10,15: «ergo animus ad habendum se ipsum angustus est, ... multa mihi super hoc oboritur admiratio, stupor adprehendit me».

[31] Ib. 10,50: «... in cuius oculis mihi quaestio factus sum, et ipse est languor meus».

[32] Zu Plotin und Augustin siehe J. Trouillard, L’anthropologie et son histoire, in: Revue des sciences religieuses 28 (1954) 286-291.

[33] Dinkler, op. cit., S. 20. Zum Folgenden ebd., S. 10-22 sowie C. Mayer, Caro-spiritus.

[34] In den Confessiones hebt Augustinus im Nachhinein all das gebührend und kritisch ans Licht, was er dort an zentralen Inhalten christlicher Verkündigung nicht zu lesen bekam. Cf. conf. 7,13sq. mit den wiederholten «legi ibi, ... non ibi legi».

[35] K. Pollmann, Doctrina christiana (De-): AL 2 (1996-2002) 551-575.

[36] H. Chadwick, Frui-uti: AL 3 (2004) sub prelo.

[37] Op. cit. 247.

[38] Zum Primat des Willens B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, München/Berlin 1928, S. 82.

[39] Ciu. 14,6: «Voluntas est quippe in omnibus: imo omnes nihil aliud quam voluntates sunt».

[40] Cf. trin. 14,10.

[41] G. Bonner, Cupiditas: AL 2 (1996-2002) 166-171.

[42] Conf. 8,21.

[43] C. Iul. 5,26.

[44] En. Ps. 102,6.

[45] Siehe den Artikel von V.H. Drecoll, Gratia: AL 3 (2004) sub prelo.

[46] S. Guelf. 9,2: « debitores omnes eramus, cum debito hereditario omnes nascuntur».

[47] Zur Sache Vererbung aufschlussreich: E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Wiesbaden 1951; zu Julian F. Refoule, Julien d’Eclane, théologien et philosophe: Rech SR 52 (1964) 42-84.233-247.

[48] Siehe M.R. Miles, Augustine on the Body, Mossoula, Mont. 1979; ead., Corpus: AL 2 (1996-2002) 6-20.

[49] R. Goeden, Zur Stellung von Mann und Frau, Ehe und Sexualität im Hinblick auf Bibel und Alte Kirche, (Dissertation) Göttingen 1969, für Augustinus S. 122-132.

[50] Retr. 1,4.3: «... ne putaremur illam Porphyrii falsi philosophi tenere sententiam, qua dixit omne corpus esse fugiendum. non autem dixi ego: omnia sensibilia, sed ‹ista›, hoc est corruptibilia; sed hoc potius dicendum fuit, non autem talia sensibilia futura sunt in futuri saeculi caelo novo et terra nova».

[51] 1 (1986-1994) 1113-1122; id., Libido and Concupiscentia in St. Augustine: God’s Decree and Man’s Destiny. Studies on the Thought of Augustine of Hipppo, London 1987, XI 303-314.

[52] En. Ps. 118,8,3: « ... cum autem non additur quid concupiscatur, sed sola ponitur, nonnisi mala intellegitur».

[53] Cf. ciu. 1, praef.; 3,14.

[54] Nupt. et conc. 1,26: «hoc generi humano inflictum vulnus a diabolo quidquid per illud nascitur cogit esse sub diabolo».

[55] Ciu. 14,15: «denique, ut breviter dicatur, in illius peccati poena quid inoboedientiae nisi inoboedientia retributa est? nam quae hominis est alia miseria nisi adversus eum ipsum inoboedientia eius ipsius, ut, quoniam noluit quod potuit, quod non potest velit?»

[56] Ciu. 14,16: «haec autem non solum extrinsecus, verum etiam intrinsecus vindicat totumque commovet hominem animi simul affectu cum carnis appetitu coniuncto atque permixto, ut ea voluptas sequatur, qua maior in corporis voluptatibus nulla est; ita ut momento ipso temporis, quo ad eius pervenitur extremum, paene omnis acies et quasi vigilia cogitationis obruatur».

[57] Ib.

[58] G. Bonner, Concupiscentia 1119 mit Verweis auf ciu. 14,8sq., ferner E. Dinkler, op. cit., S. 249; H. Chadwick, Enkrateia: RAC 5 (1962) 343-365, S. 364.

[59] Etwa ein halbes Dutzend mal zitiert, so in ciu. 14,3: «et tunc enim erit, sed quia corruptibile non erit, non gravabit. ‹adgravat› ergo nunc ‹animam corpus corruptibile, et deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem› [Sap 9,15]. verum tamen quia omnia mala animae ex corpore putant accidisse, in errore sunt».

[60] Op. cit., S. 251f.

[61] S. 293,8 «massa ab illo (sc. deo) per Adam alienata», cf. C. Mayer, Alienatio: AL 1 (1986-1994) 228-233, S. 230.

[62] Sol. 1,6: «fac et me, pater, vindica me ab errore; quaerenti te mihi nihil aliud pro te occurrat. si nihil aliud desidero quam te, inueniam te iam, quaeso, pater. si autem est in me superflui alicuius adpetitio, tu ipse me munda et fac idoneum ad videndum te. ceterum de salute huius mortalis corporis mei, quamdiu nescio, quid mihi ex eo utile sit vel eis, quos diligo, tibi illud conmitto, pater sapientissime atque optime, et pro eo, quod ad tempus admonueris, deprecabor. tantum oro excellentissimam clementiam tuam, ut me penitus ad te convertas nihilque mihi repugnare facias tendenti ad te iubeasque me, dum hoc ipsum corpus ago atque porto, purum, magnanimum, iustum prudentemque esse perfectumque amatorem perceptoremque sapientiae tuae et dignum habitatione atque habitatorem beatissimi regni tui. amen, amen».