ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Für das Internationale Symposion im Erbacher Hof, der Akademie des Bistums Mainz, vom 18.-20. Januar 2008 mit dem Thema: "Augustinus - ein Lehrer des Abendlandes. Spuren und Spiegelungen seines Denkens von der Frühscholastik bis in die Gegenwart" sollten sich die vorgesehenen Referate im Unterschied zu deren Veröffentlichung zeitlich auf 30 Minuten beschränken. Wir bieten auf der Homepage des ZAF den Text des von Cornelius Mayer gehaltenen Referates. Die umfangreichere Fassung erschien 2009 mit den übrigen 28 Referaten in der von Norbert Fischer besorgten Publikation im Felix Meiner Verlag (Augustinus – Spuren und Spiegelungen seines Denkens, 2 Bände, hrsg. von Norbert Fischer, Hamburg: Felix Meiner, 2009, 283+358 p., ISBN 978-3-7873-1929-9, EUR 96,00).

Augustinus im Denken von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI.
Von Professor Dr. Cornelius Petrus Mayer OSA

In den Erinnerungen aus seinem Leben [1] kommt Joseph Kardinal Ratzinger bei den Schilderungen seines Studiums der Theologie des öfteren auf Augustinus zu sprechen. Bereits im Seminar zu Freising las er dessen Confessiones, in denen ihm die ganze Leidenschaft und Tiefe des augustinischen Denkens begegnete. Dagegen hatte er Schwierigkeiten mit Thomas von Aquin, «dessen kristallene Logik» ihm als zu unpersönlich erschien.[2]

In seinen Studienjahren in München prägte ihn am meisten der Fundamentaltheologe Gottlieb Söhngen, der die Theologie «von den Quellen selbst her» betrieb.[3] Im Jahr 1950 war Söhngen in der Fakultät an der Reihe, die Preisaufgabe zu stellen, die bei erfolgreicher Bearbeitung mit der Zuerkennung des Preises zugleich als Dissertation mit dem Prädikat summa cum laude angenommen wurde. Das von Söhngen gestellte Thema lautete: Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche.[4] Ratzinger fühlte sich in die Pflicht genommen, zumal Söhngen selbst ihn zur Bearbeitung überredete. An ihn fördernden Begegnungen erwähnt Ratzinger noch die Lektüre von Henri de Lubacs Catholicisme, die ihm «ein neues Verstehen der Einheit von Kirche und Eucharistie» eröffnete. So «konnte ich in das geforderte Gespräch mit Augustinus eintreten, das ich auf vielerlei Weise schon seit langem versucht hatte».[5]

Die Berufung zur Dozententätigkeit in das Freisinger Priesterseminar im Jahr 1952 führte ihn zur Habilitation über den Offenbarungsbegriff bei Bonaventura, einem Theologen des Mittelalters, dem Augustinus alles andere als fremd war.[6] Ratzinger bezeichnet zwar seine Habilitation als Drama, aber die Arbeit über Bonaventura dürfte seine Beziehung zum Kirchenvater nochmals vertieft haben. Mit der Ernennung zum Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik in Freising zum 1. Januar 1958 begann seine aufsehenerregende Karriere an deutschen Universitäten.

Noch im Sommer 1958 erreichte ihn der Ruf nach Bonn, wo Kardinal Frings auf ihn aufmerksam wurde. Inzwischen hatte nämlich Johannes XXIII. das Konzil angekündigt, und Frings, der in der Katholischen Akademie in Bensberg einen Vortrag über die Theologie des Konzils von Ratzinger angehört hatte, nahm diesen als seinen Berater mit nach Rom, wo er noch vor dem Ende der ersten Sitzungsperiode zum Konzilstheologen (Peritus) ernannt wurde. Schon im Hinblick auf das abgebrochene I. Vatikanische Konzil bestand allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die Kirche das eigentliche Thema der Versammlung sein werde. Der ‹Peritus› Ratzinger war nicht zuletzt dank seiner Promotionsarbeit aufs Beste darauf vorbereitet. Auf sie müssen wir in gebotener Kürze eingehen.

«Es gehört schon einiger Mut dazu, ein in der Vergangenheit so viel erörtertes Thema, wie es der Kirchenbegriff des heiligen Augustinus nun einmal ist, erneut aufzugreifen und über bloße Wiederholungen hinaus neue Gesichtspunkte und Ergebnisse anzustreben. J. Ratzinger unternimmt das Wagnis, indem er vom Haus- und Volk-Gottes-Begriff ausgeht und von hier in das Herz des augustinischen Kirchenverständnisses vorstößt». Mit diesen Sätzen begann Fritz Hofmann seine 1958 in der Theologischen Revue erschienene Rezension.[7]

Was Hofmann an Ratzinger rühmt, ist die Einbeziehung des 391 durch die Übernahme des kirchlichen Amtes bedingten Paradigmenwechsels in der Ekklesiologie Augustins, in der nicht mehr die durch Bildung erworbene Innerlichkeit, sondern die durch die Kirche verkündeten Haltungen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe die konstitutiven Elemente der Gottesverehrung bildeten.

Zugleich zeigt Ratzinger, dass ekklesiologische Reflexionen schon in der voraugustinisch-afrikanischen Theologie – bei Tertullian, bei Cyprian und bei Optatus von Mileve – einen breiten Raum einnahmen.[8] Darauf konnte Augustin seine eigene Ekklesiologie aufbauen. Er tat dies sozusagen in einer doppelten Frontstellung: in der Kontroverse mit den schismatischen Donatisten [9] und in der Auseinandersetzung mit den das Christentum bekämpfenden Heiden.[10]

Bei der Kontroverse mit den Donatisten ging es Augustinus um den Nachweis der von diesen Schismatikern bestrittenen Integrität der katholischen Kirche. Seine Kernthese lautete: Die wahre Kirche ist die katholische, weil sie die Kirche nicht nur der Bewohner Afrikas, sondern aller Völker ist.[11] Hinzukommt als weiterer wichtiger ekklesiologischer Aspekt die Rolle und die Bedeutung der Caritas. ‹Caritas› meint bei Augustin gewiss auch ein sittliches, vorzüglich jedoch ein innerkirchliches Verhalten. Die Caritas ist – dies hält der Bischof den Donatisten wiederholt vor –, «was die nicht haben, die von der katholischen Kirche getrennt sind».[12] Die Inhaber der Caritas allein sind die wahre Kirche, ‹Christi Leib›, durch den die Sündenvergebung erteilt wird, und in denen sich die Eucharistie darstellt. Als die Glieder des Leibes sind sie zusammen mit dem Haupt zugleich jene Kirche, außerhalb derer es kein Heil gibt.[13]

«Die Catholica», so fasst Ratzinger Augustins Kontroverse mit den Donatisten zusammen, «ist die Weltkirche, die durch die Gemeinschaft des Herrenleibes sich als die eine erweist. Die Vielzahl der Völker in ihr ist geeint in Christus und auf diese Weise das eine Volk Gottes».[14]

Weil dieses eine Volk Gottes in einer Vielzahl von Staaten lebt, musste Augustinus seine Ekklesiologie auch im Hinblick auf das Verhältnis der Kirche zum Staat, in dem das Volk Gottes in der Zeit existiert, präzisieren. Ratzinger bezog also auch Augustins ‹civitas›-Lehre in seine Untersuchung mit ein, indem er den irdischen Staat und die Kirche von ihrem je eigenen Kult her in den Blick nahm. Im Kult, so führt er aus, manifestiere sich das Wesen beider. Denn «jede ciuitas», so schreibt er, «ist Kultstaat ihrer Götter, und jedes Volk ist Kultvolk seiner Gottheiten».[15]

Weil sich der religiöse Kult vorzüglich im Opfer artikuliert, lehrt Augustin in Bezug auf das Opfer der Kirche: «Ein wahres Opfer ist ... jedes Werk, das dazu beiträgt, dass wir in heiliger Gemeinschaft Gott anhangen».[16] ‹Wahres Opfer› nennt er im Anschluss an Röm 12,1 einen ‹vernünftigen Gottesdienst›, ein ‹rationale obsequium›.[17] Was die Kirche als ‹ciuitas dei› kennzeichnet und zugleich auszeichnet, ist dieser ihr ‹vernünftiger Gottesdienst›, den sie als ‹Leib Christi› zusammen mit ihrem Haupt, dem ‹verherrlichten Christus› in der Eucharistie feiert.

Auf den Opfercharakter der Eucharistie wird denkbar großer Wert gelegt, vollbrachte doch Christus in seiner Knechtsgestalt das Werk der Erlösung als Opfer. Er brachte sich dar und er wurde zugleich dargebracht. Als ‹Mittler zwischen Gott und den Menschen› war er opfernder Priester und Opfer zugleich. «Das ist das Opfer der Christen», resümiert Augustin, «‹die Vielen ein Leib in Christus›. Die Kirche aber feiert es in dem den Gläubigen bekannten Sakrament des Altars, wo ihr vor Augen gestellt wird, dass sie in dem, was sie darbringt, selbst dargebracht wird».[18]

In diese seine kirchenbegründenden Reflexionen zieht Augustin auch den Opferkult des alttestamentlichen Gottesvolkes mit ein. Dessen Kulthandlungen beinhalten ebenfalls nicht das ‹wahre Opfer›: sie verweisen lediglich darauf, wie das zeitlich vorausgehende Alte Testament, in dem das Heil noch verborgen ist, innerhalb der gestuften Offenbarung auf das spätere Neue, in dem es bereits als Ereingis verkündet wird, vorausverweist. Folgerichtig gehört auch der alttestamentliche Staat Israel als solcher dem Erdenstaat, der ‹ciuitas terrena›, an.[19]

In seiner Zusammenfassung hält Ratzinger in bezug auf den Terminus ‹Haus Gottes› fest, theologisch belangvoll sei für Augustin nicht der Raum, sondern «die im Raum versammelte Gemeinde». Deshalb führe auch die Betrachtung des Gotteshauses «sofort zu einer Theologie des lebendigen Volkes Gottes, der ecclesia sive congregatio, die sich in diesem Haus andeutet».[20] Äußerlich stellt die Kirche sich demnach im Sakrament des Herrenleibes dar, der ihre innere Wirklichkeit, ihr Bestehen in der Gemeinschaft des Christusgeistes bezeugt.

Joseph Ratzinger war bereits 15 Jahre Kardinal, als der EOS-Verlag der Erzabtei St. Ottilien seine Dissertation mit der Bemerkung des Herausgebers [21] nachdruckte, wer Ratzingers Theologie kennen lernen wolle, müsse dessen grundlegendes Werk, nämlich seine Dissertation lesen. Zweifelsohne zählt Ratzinger mit zu den produktiveren theologischen Schriftstellern unserer Zeit. Aus der Fülle seiner Schriften sei für unser Thema der 1968 in der Theologischen Quartalschrift erschienene Artikel Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theologie [22] herangezogen.

Ratzinger wirft darin die Fragen auf: «Warum die Väter? Genügt nicht die Schrift?» Er beantwortet sie zunächst mit dem Hinweis auf ein falsch verstandenes ‹Aggiornamento› von Papst Johannes XXIII., die Kirche solle der Gegenwart mehr Rechnung tragen, und er illustriert diese seine Kritik an mehreren Strömungen der nachkonziliaren Theologie, allem voran an der Bibelexegese. Während die Konzilien von Trient bis zum Vaticanum II in Bezug auf das Auslegen und Verstehen biblischer Texte an einem von den Vätern als normativ gehaltenen ‹sensus ecclesiae›, einem Schrift und Tradition umfassenden ‹Sinn der Kirche›, festhielten, scheinen moderne Exegeten kein anderes Gesetz der Auslegung akzeptieren zu wollen als das der historischen Kritik. Die Frage nach der Aktualität der Väter, so Ratzinger, habe die heutige Theologie vor eine Zerreißprobe gestellt.[23]

Aber selbst wenn die Väter für die Exegese sekundär wären, so seien sie doch dank ihrer zeitlichen Nähe zum maßgebenden Ursprung der in den neutestamentlichen Schriften verkündeten Heilsereignisse primär qualifizierte Zeugen der Überlieferung. Um diese Spannungseinheit der Vätertheologie mit der neutestamentlichen Verkündigung zu veranschaulichen, vergleicht Ratzinger die Hl. Schrift mit dem ‹Wort› und die Theologie der Väter mit deren Antwort auf dieses Wort. «Das Wort bleibt das Erste, die Antwort das Zweite».[24] Diese Reihenfolge sei nicht umkehrbar, sie lasse aber auch keine Trennung zu. Ja dies sei überhaupt das entscheidende Verdienst der Vätertheologie, dass das ‹Wort› Antwort gefunden habe und zusammen mit der Antwort auf diese Weise Tradition geworden ist.

Die Bedeutung der Väter für die christliche Theologie aller Zeiten zeigt Ratzinger sodann an vier geschichtlichen Konkretisierungen, an denen Augustin federführend mitwirkte. Er nennt als erstes die Kanonbildung. Was ist Hl. Schrift, und welche Schriften gehören dazu nicht? Die Konstituierung des Kanons und die Konstituierung der frühen Kirche waren ein und derselbe Prozess, der «einen Vorgang geistiger Scheidung und Entscheidung» [25] zur Voraussetzung gehabt hat. Der Prozess der Kanonbildung, dies bleibe nicht unerwähnt, wurde unter dem Einfluss Augustins auf dem afrikanischen Plenarkonzil zu Hippo (393) und dem Konzil von Karthago (419) definitiv zum Abschluss gebracht.[26]

Um Unrichtigkeiten in der Schriftauslegung wirksam begegnen zu können, schufen die Väter eine Auslegungsnorm, die sie κανὼν τῆς πίστεως, ‹regula fidei›, ‹Glaubensregel›, nannten. Auf sie berief sich schon die junge Kirche, wenn Entscheidungen auf den Konzilien über Glaubenswahrheiten zu treffen waren. Die sogenannten Symbola, die Glaubensbekenntnisse der Kirche, etwa das Apostolicum, sind solche normative Texte, die die Glaubensregeln zur Voraussetzung haben. Augustinus berichtet in seinen Retractationes,[27] dass er auf dem erwähnten Konzil zu Hippo, obgleich er damals noch Presbyter war, auf Drängen der anwesenden Bischöfe einen Vortrag über die wesentlichen Inhalte des Glaubens zur Abgrenzung von Häresien zu halten hatte, was übrigens sein Ansehen im Episkopat erheblich gefördert haben dürfte, und dass die gleichen Bischöfe ihn zu dessen Veröffentlichung drängten, was er auch tat. Er gab ihr den signifikanten Titel De fide et symbolo – Glaube und Bekenntnis.[28]

«Schriftlesung und Glaubensbekenntnis sind in der Alten Kirche primär gottesdienstliche Akte der ganzen, um den auferstandenen Herrn versammelten Gemeinde gewesen. Das führt auf ein drittes», schreibt Ratzinger, und er stellt fest: «Die alte Kirche hat die Grundformen des christlichen Gottesdienstes geschaffen, die als bleibende Basis und der unumgängliche Beziehungspunkt jeder liturgischen Erneuerung anzusehen sind».[29] Es dürfte m. E. einem theologisch interessierten Christen nicht schwer fallen, sich vorzustellen, dass der hochgebildete und sicher auch ästhetisch versierte ehemalige Rhetor Augustinus attraktive Gottesdienste feierte. Zahlreiche Tagesgebete unserer Sonntagsmessen artikulieren in ihrer knappen Diktion immer noch die auf die Väter, speziell auf Augustin zurückgehenden Anliegen der Kirche. Es sei mir gestattet, auch auf die Eucharistielehre des Kirchenvaters Augustinus hinzuweisen. In ihr spiegelt sich, wie schon dargelegt, brennpunktartig seine Lehre von der Kirche als ‹Leib Christi›. In einer Osternachtpredigt rief er den Neugetauften in Bezug auf die eucharistischen Gaben von Brot und Wein zu: «Seid, was ihr seht, und empfanget, was ihr seid!»[30] Gibt es ekklesiologisch Tiefsinnigeres?

Als vierte der den christlichen Glauben konkretisierenden Bedeutungen der Vätertheologie führt Ratzinger deren Sorge um die rationale Durchdringung der offenbarten Glaubenswahrheiten an. Die Kirchenväter waren insgesamt auch philosophisch gebildete Persönlichkeiten – allen voran wieder Augustinus. Ihm lag nichts ferner als das vom Häretiker Tertullian formulierte Bekenntnis: «Credo quia absurdum – Ich glaube, weil es widersinnig ist».[31] Der das theologische Denken und Bemühen charakterisierende Leitsatz des Bischofs von Hippo lautete vielmehr: «Credo ut intellegam – Ich glaube, um zu verstehen». Eine weitest mögliche rationale Begründung der Glaubenswahrheiten – dies zu betonen, wird Ratzinger bekanntlich auch als Benedikt XVI. nicht müde – sei «die Voraussetzung für das Überleben des Christentums in der antiken Welt» gewesen und dies sei auch «die Voraussetzung für das Überleben des Christentums heute und morgen».[32]

Lassen Sie mich nochmals auf die erwähnte Neuauflage der Dissertation Ratzingers zurückkommen. Die zitierte Bemerkung, wer ihn kennen lernen wolle, müsse seine Dissertation lesen, hat ihren plausiblen Grund m. E. auch darin, dass die Laufbahn eines Wissenschaftlers in der Regel mit der Dissertation beginnt. Sie gleicht der ersten Liebe und prägt ein Gelehrtenleben aufs Nachhaltigste. Ratzinger selbst hat dies nunmehr aus der Perspektive seiner Einsichten und Erfahrungen, die er als Konzilstheologe, als Bischof und als Präfekt der Glaubenskongregation machen konnte, in seinem Vorwort zu der Neuauflage verdeutlicht und unterstrichen.

Eingehend schildert er darin die Erwartung seines Lehrers Söhngen, die dieser an das gestellte Thema knüpfte. In der Theologie der Zwischenkriegszeit setzte sich nämlich in einer gewissen Abwehr der vorzüglich hierarchisch in Erscheinung tretenden Kirche die Auffassung durch, die angemessene Bezeichnung für diese sei die des Volkes Gottes.[33] Das Promotionsthema sollte also zeigen, ob diese Bezeichnung beim größten abendländischen Kirchenlehrer tatsächlich ein ekklesiologischer Leitbegriff war. «Ich ging mit dieser Frage an die Texte heran», schreibt Ratzinger, «aber zugleich in der unbedingten Bereitschaft, mich von ihnen allein führen zu lassen».[34]

Das Ergebnis war für ihn selbst überraschend. Es zeigte sich nämlich, «dass Augustinus und mit ihm die Väter generell auf der Linie des Neuen Testamentes blieben. Nach Ratzinger setzt diese Ekklesiologie des Neuen Testamentes eine geistliche Lektüre des Alten Testamentes auf Christus und die Kirche hin voraus. Rückblickend fasst er zusammen: «Kirche ist Volk Gottes nur im und durch den Leib Christi. Ein Gebrauch des Begriffs Volk Gottes für Kirche ist vom Neuen Testament und von den Vätern her ohne christologische und pneumatologische Transposition nicht möglich; die Christologie gehört in den Kirchenbegriff unverzichtbar hinein».[35] Einige Zeilen weiter heißt es: «... im Grundlegenden kam es ihm (Augustin) nicht darauf an, Neues in die Welt zu setzen, sondern das zu verstehen und verständlich zu machen, was die Catholica glaubte und lehrte. Für ihn (Augustinus) ist gerade dies das Kennzeichnende des wahren Theologen, dass er nicht eigenes und anderes schafft, sondern im Dienst des gemeinsamen Glaubens steht, der ihm als regula fidei Maß und Gestalt seines Denkens wird, das so, von der gemeinsamen Wahrheit geführt, fruchtbar werden und Beständiges hervorbringen kann».[36]

Diese Zusammenfassung wirft ein helles Licht nicht nur auf die von Ratzinger gerühmte, auf das Konservative, auf das Bewahren bedachte Geisteshaltung Augustins, sondern auch auf ihn selbst, der sich in diesem Lichte sieht, und sich deshalb auch mit seiner Kritik unter Berufung auf den Kirchenvater sowohl an gewissen Strömungen der Zwischenkriegsekklesiologie wie auch an der postkonziliaren Theologie nicht zurückhält. Er kritisiert z.B. die in der neuzeitlichen Exegese vernachlässigte, bei den Vätern jedoch hochgeschätzte Allegorese, die ihm den Schlüssel zur Ekklesiologie Augustins geliefert hatte, mit der er seine eigene rechtfertigt.

An der nachkonziliaren Theologie der späten sechziger Jahre beklagte er des öfteren die rein soziologische Betrachtung der Kirche und die daraus resultierende politische Theologie. Abermals verwies und berief er sich in diesem Zusammenhang auf Augustinus.[37] Gerade als der Verfasser von De ciuitate dei habe dieser die Gefahren einer Entwicklung der Theologie auf das Politische hin, wie diese sich im Heidentum darstellte, in der die Götter de facto im Dienste des Staates standen und der Glaube der Politik untergeordnet war, erkannt. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf den politischen Augustinismus im Mittelalter, der als eine Fehlinterpretation des wahren Augustinismus, der Kirche Prärogative einräumte und zuerkannte, die ihr als eschatologische ‹ciuitas› vom Evangelium her nicht zukommen.

Ratzinger beschließt seine Kritik mit den bedenkenswerten Sätzen: «Liest man aber gründlich die Werke des Heiligen, dann leuchtet die Größe seiner Gestalt wieder neu auf. Und ich denke, dass eine politische Philosophie und eine wahre Ekklesiologie, ein Glaube an den einen Gott, der der Gott aller ist, die Suche nach einer wahren Universalität des Glaubens, der sich in allen Kulturen ausdrückt und sich nie mit einer einzigen von ihnen identifizieren darf, auch heute noch viel aus dem Dialog mit dem heiligen Augustinus lernen können».[38]

Joseph Ratzinger hat sich Augustinus seit seiner Studienzeit nicht nur auf der Ebene der Theologie als Wissenschaft angenähert, in seiner Spiritualität ist er im Grunde genommen ebenfalls weithin dem Kirchenvater verpflichtet – er weiß dies und er bekannte sich in seinen Memoiren gleich mehrfach dazu. Für sein bischöfliches Wappen wählte er das Symbol einer Muschel u.a. deshalb, weil sie ihn an eine Legende erinnerte. Diese erzählt, dass der über das Geheimnis der Trinität am Strande von Hippo meditierende Augustinus ein Kind sah, das mit einer Muschel das Wasser des Meeres in eine kleine Grube schöpfte. Auf seine Erkundigung hin, was es denn da mache, erhielt er die Antwort: So wenig diese Grube die Wasser des Meeres fassen kann, so wenig vermag dein Verstand Gottes Wesen zu begreifen. Wörtlich heißt es dann: «So ist die Muschel Hinweis für mich auf meinen großen Meister Augustinus, Hinweis auf meine theologische Arbeit und Hinweis auf die Größe des Geheimnisses, das weiter reicht als all unsere Wissenschaft».[39]

Nicht weniger enthusiastisch äußerte sich Kardinal Ratzinger bei der Vorstellung eines 1998 in Rom erschienenen Sammelbandes Die Macht und die Gnade. Die Aktualität des heiligen Augustinus bei der von Giulio Andreotti herausgegebenen Zeitschrift 30Tage in Kirche und Welt.[40] Andreotti begrüßte den Gast mit den Worten: «Ich glaube jedenfalls, dass es uns allen gut tut, wenn wir uns eine Weile mit Augustinus befassen. Eminenz, ich spreche Ihnen noch einmal aus ganzem Herzen meinen Dank aus, dass Sie sich bereit erklärt haben, diese unsere Veröffentlichung vorzustellen».

Der Kardinal leitete seine glänzende Rede mit der Entschuldigung ein, er sei wegen seiner zahlreichen Verpflichtungen «für eine wirkliche Buchvorstellung nicht genügend vorbereitet». Dann aber fuhr er begeistert und begeisternd so fort: «Trotzdem wollte ich die Einladung annehmen, weil ich den heiligen Augustinus sehr verehre und bewundere. Zudem freue ich mich sehr, dass ein Nachrichtenmagazin wie 30Tage einem großen Publikum diese Gestalt in einem Dialog mit unserer Zeit monatelang vorgestellt hat. Dieser Dialog macht die Tiefe und Aktualität seines Denkens deutlich, und die Tatsache, dass der heilige Augustinus in der heutigen Zeit unseren Fragen unterzogen wird, ist für mich ein Grund zur Freude. ... Als ich vor fünfzig Jahren begann, mich mit Augustinus zu befassen, erkannte ich ihn praktisch sofort als meinen Zeitgenossen, als eine Persönlichkeit, die nicht von einem Kontext sprach, der sich von dem unseren völlig unterscheidet, sondern, da sie in einem recht ähnlichen Kontext lebte, auf die Probleme, die auch unsere Probleme sind, wenn auch auf ihre Weise, eine Antwort gab».[41]

Weil unsere Probleme, was unser Verhältnis zum Evangelium betrifft, immer noch dieselben sind, deshalb hört Joseph Ratzinger auch als Benedikt XVI. nicht auf, in seinem eigenen Denken uns das Denken Augustins zu empfehlen. In den schon erwähnten Retractationes berichtet der Kirchenvater, etwa um das Jahr 421 habe ein Laie Namens Laurentius ihn um ein Handbuch gebeten, in dem das Wesentliche der Gottesverehrung und der wahren Weisheit dargestellt sei. «Das Buch beginnt: ‹Mein lieber Sohn Laurentius! Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich über deine Gelehrsamkeit freue›». Augustinus gab diesem Handbuch den Titel: De fide, spe et caritate – Glaube, Hoffnung und Liebe.[42] Es dürfte ein pastorales Anliegen von augustinischem Rang sein, wenn Benedikt XVI. in seinen bisher erschienenen beiden Enzykliken uns das Wesen des Christentums über die Liebe und über die Hoffnung zu erschließen versucht. Insider vermuten, die nächste Enzyklika werde den Glauben zum Thema haben.

Anmerkungen

[1] Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen, München 1997.

[2] Ebd. 49.

[3] Ebd. 61.

[4] München 1954.

[5] Ebd. 69.

[6] Titel der Habilitation: Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1959 (Neuauflage: St. Ottilien 1992).

[7] Theologische Revue 54 (1958) 122-125.

[8] Volk und Haus Gottes, 48-123.

[9] Ebd. 127-184.

[10] Ebd. 185-322.

[11] Ebd. 131.

[12] De baptismo 3,21.

[13] Volk und Haus Gottes, 144f.

[14] Ebd. 183.

[15] Ebd. 281.

[16] De ciuitate dei 10,6.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] De ciuitate dei 17,16: «Cuius ciuitatis impiae portio sunt et Israelitae».

[20] Volk und Haus Gottes, 322.

[21] Besorgt von P. Dr. Bernhard Sirch OSB.

[22] 148 (1968) 257-282.

[23] Ebd. 258-262.

[24] Ebd. 275.

[25] Ebd. 277.

[26] Siehe den Artikel Kanon von H. Haag im Bibel-Lexikon, 1. Auflage, Einsiedeln/Zürich/Köln 1968, 921.

[27] 1,17.

[28] Siehe den gleichnamigen Artikel von A. Schindler im Augustinus-Lexikon, Bd. 2 (1996-2002) 1311-1317.

[29] Die Bedeutung der Väter, 279.

[30] Sermo 272: «Estote quod uidetis, et accipite quod estis».

[31] Vgl. De carne Christi 5,4.

[32] Die Bedeutung der Väter, 281.

[33] Die treibende Kraft dieser kirchenkritischen Theologen war Mannes Dominikus Koster, Verfasser des Buches: Ekklesiologie im Werden, Paderborn 1940.

[34] Vorwort zur Neuauflage, XIII.

[35] Ebd. XIV.

[36] Ebd. S. XIV-XVI.

[37] Aufschlussreich: Il potere e la grazia: attualità di Sant’Agostino a cura di Lorenzo Cappelletti e Maria Pia Comunale, Roma 1998. Dazu 30 Giorni nella Chiesa e nel mondo – 30 Tage in Kirche und Welt 16 (1998), dort der Bericht: Die Vorstellung des Buches von 30 Tage über die Aktualität des heiligen Augustinus mit Kardinal Joseph Ratzinger auf Seite 26-38.

[38] Ebd. 31.

[39] Aus meinem Leben, 179.

[40] Siehe Anm. 37.

[41] Ebd. 29.

[42] Retractationes 2,63.

Ein Beitrag für die überregionale katholische Zeitung Die Tagespost vom 15. Januar 2008. Von Christof Müller

Augustinus – Vater der abendländischen Theologie

Für ein Radiopublikum zeichnete Rüdiger Achenbach den aufsehenerregenden Weg des jungen Augustinus vom Intellektuellen, Rhetorikprofessor und kaiserlichen Propagandaminister zum Bischof von Hippo und schließlich Vater der abendländischen Theologie nach. Die vierteilige Reihe wurde zur Jahreswende 2007/2008 in der Rubrik "Tag für Tag" des Deutschlandfunks ausgestrahlt. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlichen wir auf diesen Seiten das Manuskript der Sendereihe. Sie behandelt folgende Themen:

Das Studium der Rhetorik und die Suche nach Weisheit
Die Karriere am kaiserlichen Hof von Mailand
Der Bischof von Hippo und der Staat im Dienst der Kirche
Der Fall von Rom und der Gottesstaat


Augustinus – Vater der abendländischen Theologie (1)
Das Studium der Rhetorik und die Suche nach Weisheit

Von Rüdiger Achenbach

"Ich kam nach Karthago. Dort umlärmte mich von allen Seiten ein wilder Wirrwarr wüsten Liebestreibens. Und ich kehrte in der Fülle meines Dünkels den feinen Mann von Welt hervor ... und ich stürzte mich in die Liebe, von der ich mich gefesselt wünschte."

Im Jahr 371 kam Augustinus, als siebzehnjähriger Junge vom Lande, zum Studium in die Provinzhauptstadt. Und wie viele andere junge Männer, die damals aus den Kleinstädten und Dörfern Nordafrikas zum Studium nach Karthago kamen, sammelte er „erste Erfahrungen der Freiheit“ in einer großen Stadt. Er tobte sich in der Studentenszene aus, entdeckt das Theater, die Dichterwettstreite und eine blühende Literaturszene.

"In solcher Gesellschaft studierte ich damals, in noch ungefestigtem Alter, die Lehrbücher der Redekunst, in der mich auszuzeichnen mein ganzer Ehrgeiz war."

Aufgewachsen war Augustinus in der Kleinstadt Tagaste, die heute Souk Ahras heißt und im Osten Algeriens liegt. In dieser bäuerlichen Landschaft war er 354 als eines von drei Kindern geboren worden. Der Vater Patricius besaß ein paar Morgen Land, war aber keineswegs reich. Augustinus selbst nennt ihn einen Bürger mit bescheidenen Mitteln. Trotzdem setzten die Eltern alles daran, ihrem begabten Sohn Augustinus eine klassische Bildung zu ermöglichen, damit er einmal eine bessere gesellschaftliche Stellung erreichen sollte.

Vor allem das Studium der Rhetorik, also der Redekunst, galt damals als eine Art Schlüsselqualifikation, um Aussicht auf ein hohes Staatsamt zu bekommen. Und Augustinus hat dieses Ziel mit sehr viel Ehrgeiz verfolgt.

"Schon bald galt ich was in der Rhetorenschule und freute mich hochmütig und blähte mich auf vor Eitelkeit."

Doch Augustinus verbringt seine Zeit durchaus nicht nur in Bibliotheken. Er ist mit seinen Gefährten auch immer wieder auf der Suche nach Abenteuern aller Art.

Jahrzehnte später wird er diese Zeit als eine Phase sexueller Haltlosigkeit und Ausschweifung bezeichnen. Zwischen seinem 17. und 18. Lebensjahr hat er sich dann auch ein Mädchen aus Dienstbotenkreisen zur Bettgenossin genommen. Und schon bald geht aus dieser Verbindung ein Sohn hervor, der den Namen Adeodatus erhält, die lateinische Form des griechischen Namens Theodor, also „Von Gott gegeben“. Im Rückblick schildert Augustinus diesen Lebensabschnitt als einen Zustand innerer Unruhe und Zerrissenheit. Bis ihm plötzlich beim Studium der Schriften Ciceros der Dialog „Hortensius“ in die Hände fällt.

"Es war dieses Buch, das meinen Sinn veränderte. Plötzlich war all meine eitle Erwartung für mich ohne Wert und mit unglaublicher Inbrunst begehrte ich nach der unsterblichen Weisheit."

Cicero hatte in ihm die Liebe zur Philosophie geweckt. Augustinus war jetzt fest entschlossen, das Streben nach Weisheit im Sinne Ciceros zu seinem Lebensziel zu machen. Und er begann, sich ernsthaft mit ethischen und religiösen Fragen zu beschäftigen.

Auch das Christentum war ihm nicht fremd. Monnica, seine Mutter, war Christin und lebte ihren Glauben sehr intensiv. Sie hatte auch alles unternommen, um ihre Kinder in ihre Religion einzuführen. Doch Augustinus konnte sich nicht sonderlich für das Christentum begeistern. Der Oxforder Kirchenhistoriker Peter Brown:

"Die Religion der Christen in Nordafrika war recht drastisch. Ekstatische Erlebnisse suchte man in Trunkenheit, Gesang und wilden Tänzen. Der Alkoholismus war in afrikanischen Gemeinden tatsächlich weit verbreitet. Träume und Trancezustände waren alltäglich. Und einfache Bauern lagen oft tagelang im Koma. Auch Monnica war in einer christlichen Familie streng erzogen worden und hing an den herkömmlichen Gebräuchen innerhalb der afrikanischen Kirche, die von Gebildeten als 'primitiv' abgelehnt wurden."

Außerdem vertrat das nordafrikanische Christentum eine sehr rigoristische Gesetzlichkeit. Augustinus betrachtete die Religion seiner Mutter daher immer mit großer Skepsis. Dennoch erinnerte er sich aber auch, dass manche Christen von Christus auch als der Weisheit Gottes sprachen und ihn auf ihren Sarkophagen als Lehrer der Weisheit darstellen ließen. Und dieser Weisheitsgedanke war es, der Augustinus nun dazu brachte, die Bibel zu lesen, um der Sache näher auf den Grund zu gehen. Doch was er da las, schien wenig mit der hochgeistigen Weisheit zu tun zu haben, die er bei Cicero kennengelernt hatte. Der Cambridger Kirchenhistoriker Henry Chadwick:

"Die Rätselhaftigkeit dessen, was er darin fand, und der barbarische Stil stießen ihn ab. Dies war kein Buch für einen Mann, dessen Geist an die elegante Diktion Ciceros gewöhnt war. Mit Abscheu wandte sich Augustinus auch von dem recht naiv erscheinenden Mythos über Adam und Eva und von der zweifelhaften Moral der israelitischen Patriarchen ab. Und die mögliche Aussicht, dass er eventuell doch zur Kirche seiner Mutter finden werde, erhielt schließlich durch die Unvereinbarkeit der beiden Jesus-Stammbäume bei Matthäus und Lukas den Gnadenstoß."

Vor allem wegen seiner Schriften konnte das Christentum ihn nicht überzeugen.

Viel überzeugender erschien ihm dagegen die Lehre der Manichäer. Diese Religionsgemeinschaft war im 3. Jahrhundert von dem Perser Mani gegründet worden und verstand sich als die Vollendung aller Religionen. Der Manichäismus vertrat einen kosmischen Dualismus, in dem sich der Gott des Lichtes als Prinzip des Guten und der Gott der Finsternis, der Schöpfer der sichtbaren Welt als Prinzip des Bösen, im ständigen Kämpf gegenüberstanden.

Alle Materie gehört zum Reich des Bösen. Deshalb müssen die Seelen, die ursprünglich aus dem Reich des Lichtes stammen, aus der Materie der Schöpfung befreit und ins Reich das Lichts zurückgeführt werden. Wenn der Mensch zu dieser Erkenntnis gelangt ist, strebt er danach, seine Seele durch einen besonders asketischen Lebenswandel aus der Welt der Körper zu befreien.

Die Gemeinden der Manichäer bestanden aus zwei Klassen von Anhängern, einmal „die Erwählten“, sie durften zum Beispiel kein Fleisch essen und keine Kinder zeugen, um die Materie, also das Böse, nicht zu vermehren. Zum anderen die untere Klasse, die aus den sogenannten „Hörern“ bestand, die in der manichäischen Lehre weniger weit fortgeschrittenen waren. Für sie galten die strengen Lebensregeln nicht. Deshalb mussten ihre Seelen noch durch viele Wiederverkörperungen hindurchgehen, bevor sie das Stadium eines Erwählten erreichen konnten.

Während die Kirche von ihren Anhängern verlangte, bestimmte Glaubensinhalte einfach zu glauben, räumten die Manichäer der Vernunft und dem freien Denken mehr Raum ein. Das kam Augustinus entgegen und er schloss sich als sogenannter Hörer dieser Religionsgemeinschaft an. Nach abgeschlossener Ausbildung kehrte er dann in seine Geburtsstadt zurück. Er kam also nach Hause mit einer Geliebten, einem unehelichen Sohn und mit einer neuen Religion. Das wäre eventuell noch zu ertragen gewesen. Aber als Augustinus dann versuchte, seine Mutter zum Manichäismus zu bekehren, verlor die überzeugte Christin die Geduld und warf ihn aus dem Haus.

Augustinus kehrte also nach Karthago zurück und unterrichtete dort als Rhetoriklehrer. Nebenbei betrieb er Propaganda für die Religion der Manichäer und es gelang ihm, auch Jugendfreunde wie Alypius für diese Religion zu gewinnen.

Aber die Begegnung mit einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des Manichäismus, Faustus von Mileve, der sich für einige Zeit in Karthago aufhielt, führte dann zu einer großen Enttäuschung. Augustinus musste nämlich feststellen, dass die Beredsamkeit dieses Mannes weit größer als dessen Denkvermögen war.

"Nachdem mir deutlich geworden war, dass Faustus in den Wissenschaften, in denen er nach meiner Ansicht hätte glänzen müssen, nur Unkenntnis an den Tag legte, gab ich allmählich die Hoffnung auf, er könne die Probleme, die mich bewegten, zu meiner Zufriedenheit lösen."

Und obwohl er nun dem Manichäismus gegenüber kritischer wurde, blieb er dennoch Mitglied dieser Religionsgemeinschaft.

"Es war nicht so, dass ich mich von den Manichäern gänzlich hätte trennen wollen. Ich fasste vielmehr den Entschluss, mich vorläufig damit zufriedenzugeben; vielleicht zeigte sich ja einmal etwas Lichtvolleres, dem dann der Vorzug zu geben sei."

Augustinus war also wieder von Neuem auf der Suche nach der Wahrheit. Dazu kam auch, dass ihn die Bedingungen seiner Lehrtätigkeit zu ärgern begannen.

"In Karthago herrscht unter den Schülern eine verabscheuungswürdige und maßlose Dreistigkeit. In unverschämter Weise dringen sie in den Hörsaal ein und bringen mit an Raserei grenzender Frechheit die Ordnung durcheinander, die der Lehrer zum Besten seiner Schüler eingeführt hat."

Augustinus war inzwischen 29 Jahre alt und von der Vorstellung umgetrieben, seinen beruflichen Erfolg weiter auszubauen. Da er in Karthago keine großen Möglichkeiten für sich sah, beschloss er, nach Rom zu gehen. Doch der Abschied aus Nordafrika nahm fast die Züge einer griechischen Tragödie an.

Inzwischen war nämlich Monnica nach Karthago gekommen, um ihren Sohn doch noch auf den rechten christlichen Weg zu führen. Augustinus fühlte sich belästigt. Er organisierte die Schiffsreise nach Rom, ohne der Mutter davon zu erzählen. Doch sie schien zu ahnen, dass er etwas vorhatte, und wich ihm nicht von der Seite. Auch am Tag der geplanten Abreise folgte sie ihm bis in den Hafen. Augustinus hat die Szene später in seinen Bekenntnissen festgehalten:

"Ich gab vor, ich wolle nur einem Freund bis zu seiner Abreise Gesellschaft leisten.
So belog ich die Mutter und brachte sie in die Cyprian-Kapelle ganz in der Nähe unseres Schiffes, um dort auf mich zu warten. In dieser Nacht fuhr ich heimlich davon."

Er ließ seine Lebensgefährtin, seinen Sohn und seine Mutter zurück und brach alle Bücken hinter sich ab.

"Der Wind blies und schwellte die Segel und entzog unseren Blicken die Küste, wo am Morgen die Mutter wahnsinnig vor Schmerz klagte und stöhnte."

Augustinus hatte sich dem Einfluss der allgegenwärtigen Mutter entzogen und war in eine ungewisse Zukunft unterwegs. Noch konnte er nicht ahnen, dass gerade die Tatsache, dass er kein Christ war, ihm zu einem enormen Karrieresprung verhelfen sollte.

Folge 2 >

© DLF - Gesendet: 31.12.2007

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Augustinus – Vater der abendländischen Theologie (2)
Die Karriere am kaiserlichen Hof von Mailand

Von Rüdiger Achenbach

"Mit Eifer begann ich nun auszuführen, wozu ich nach Rom gekommen war. Ich lehrte die Redekunst und sammelte zunächst in meiner Wohnung einige Schüler um mich, mit denen und durch die ich allmählich bekannt wurde."

Doch schon nach einigen Monaten seiner Lehrtätigkeit in Rom eröffneten sich für Augustinus völlig neue Perspektiven. Denn in Mailand wurde an der kaiserlichen Residenz ein Rhetorikprofessor gesucht, der gleichzeitig auch die Funktion eines kaiserlichen Propagandaministers zu übernehmen hatte.

Dass Augustinus sich auf diesen Posten bewerben konnte, verdankte er Symmachus, dem Präfekten der Stadt Rom, den er durch die Vermittlung seiner manichäischen Freunde kennengelernt hatte. Symmachus war ein hochgebildeter Mann, der zutiefst mit der antiken römischen Kultur und Religion verbunden war.

Er war sofort bereit, Augustinus nach Mailand zu empfehlen, weil der keiner christlichen Kirche angehörte. Denn für den Adel in Rom, der noch an der alten römischen Religion festhielt, war der Einfluss der arianischen und der katholischen Kirche am Kaiserhof in Mailand ohnehin viel zu groß. Deshalb brauchte man dort einen Mann, der den Christen Paroli bieten konnte. Und das sollte Augustinus sein. Dass er Manichäer war, interessiert dabei nicht, wichtig war nur, dass er kein Christ war.

Im Herbst 384 trat Augustinus dann in Mailand tatsächlich seine neue Stelle an. Er hatte inzwischen sogar seine Lebensgefährtin und seinen Sohn nach Mailand nachkommen lassen, um nun mit ihnen in der neuen Umgebung zusammenzuleben. Allerdings hatte Augustinus die Rechnung ohne seine Mutter Monnica gemacht. Sobald sie von dem Umzug ihres Sohnes erfahren hatte, reiste auch sie ihm von Nordafrika nach Mailand nach. Sie wollte sich nicht damit zufrieden geben, dass Augustinus sich ihrem Einfluss entzogen hatte.

Der Cambridger Kirchenhistoriker Henry Chadwick:

"Seine Mutter, die ihn aufopfernd bis nach Mailand verfolgt hatte, erkannte ganz deutlich, dass die ungebildete Tisch- und Bettgenossin ihres Sohnes seinem Wunsch nach Auszeichnung und Ehre in der großen Welt ganz entschieden im Wege stand."

Monnica redete deshalb so lange auf ihn ein, bis er seine nicht standesgemäße Lebensgefährtin, mit der er 13 Jahre zuammengewesen war, nach Nordafrika zurückschickte. Den gemeinsamen Sohn Adeodatus behielt Augustinus bei sich.

Der Augustinus-Experte Uwe Neumann:

"Für die Gefühle dieser Frau, deren Namen er übrigens nirgends mitteilt, hat er kein Wort übrig. Als Mensch hat Augustinus übrigens an dieser Stelle versagt, und dieses Versagen wiegt um so schwerer, als ihm für die Verletzung eines anderen Menschen jedes Empfinden fehlt. Die Liebe zwischen Mann und Frau wird von Augustinus im Wesentlichen nur als geschlechtliches Verhältnis aufgefasst."

Monnica organisierte dann innerhalb kurzer Zeit die Verlobung mit einem Mädchen, das aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie stammte. Ihre Mitgift sollte Augustinus gesellschaftsfähig machen. Da das Mädchen aber erst 12 Jahre alt war, musste der inzwischen dreißigjährige Augustinus noch zwei Jahre bis zu seiner Eheschließung warten.

Einem gesellschaftlichen Aufstieg standen nun keine Hindernisse mehr im Weg.

Augustinus scheint sich nun voll und ganz den Plänen seiner Mutter gefügt zu haben. Auch der christliche Glaube Monnicas, den er bisher als eine Religion der Altweiberfabeln abgelehnt hatte, begann ihn plötzlich zu interessieren.

Ausgelöst wurde dieses Interesse durch den Mailänder Bischof Ambrosius, den ersten intellektuellen Christen, den Augustinus in seinem Leben kennenlernte.

Durch die Begegnung mit Ambrosius erkannte er, dass der christliche Glaube nicht so primitiv sein musste, wie er ihn bisher erlebt hatte, sondern dass die christliche Religion durchaus auch den Gebildeten etwas zu sagen hatte. Er lernte von Ambrosius, der in der Tradition der griechischen Kirchenväter stand, die Texte der Bibel allegorisch auszulegen und nach ihrer übertragenen Bedeutung zu suchen.

Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Mit Staunen bemerkt Augustinus, wie sich durch die allegorische Auslegung die vermeintlichen Ungereimtheiten und Altweiberfabeln der Bibel tiefer verstehen lassen und wie hinter den scheinbar primitiven Vorstellungen der Texte eine gewaltige Gesamtschau Gottes, der Welt und der Menschen erkennbar wird."

Für Augustinus tat sich hier im Umgang mit den Heiligen Schriften ein völlig neuer Horizont auf. Er betont jetzt ausdrücklich, dass nichts gefährlicher sei, als die Bibel wörtlich zu nehmen. Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch: "Augustinus war vielen Theologen des 20. Jahrhunderts darin überlegen, dass er die Notwendigkeit einer philosophischen Bibelauslegung erkannte."

Durch Simplicianus, den Lehrer des Ambrosius, kam Augustinus dann in einen Kreis von Christen, für die die Lehre des Christentums und die Philosophie des Platonismus selbstverständlich übereinstimmten. Denn schließlich hatte Christus gesagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Und Platon sagte dasselbe von seinem Reich der Ideen.

Augustinus war begeistert, den Schlüssel zur Weisheit, nach dem er schon so lange gesucht hatte, endlich gefunden zu haben. Alles hing letztlich davon ab, dass die sinnliche und sichtbare Welt, die uns erkennbar umgibt, von der geistigen und unsichtbaren Welt, an der auch unsere Seele Anteil hat, unterschieden wird.

Dabei ist die unsichtbare Welt die wahre Welt. Und um zur wahren Erkenntnis zu gelangen, muss man sich möglichst von der sichtbaren Welt abwenden und sich auf sich selbst zurückziehen.

Durch das Studium der neuplatonischen Schriften konnte Augustinus auch endlich die Lehren des Manichäismus überwinden.

Der Kirchenhistoriker Ernst Dassmann: "Sie halfen ihm auch, sein Gottesbild zu klären, Gott rein geistig zu denken und nicht mit irgendwelchen Formen von Körperlichkeit zu verbinden. Sie befreiten ihn von dem Dualismus, der von zwei Göttern oder Prinzipien ausging, einem guten und einem bösen, und lehrten ihn zu begreifen, dass alles auf Gott als ein einziges Prinzip zurückgeführt werden muss und das Böse, das malum, nicht eine selbständige Wirklichkeit darstellt, sondern nur einen Mangel an Sein."

Jede Spekulation, die versuchte Gott in irgendeiner Weise dinghaft zu machen, weist er daher kategorisch zurück:

"Wenn du es begriffen hast, dann ist es nicht Gott."

Augustinus erschloss sich ein völlig neues Weltbild, in dem die Welt der Erfahrungen und das Leben der Menschen in sich keinen Wert haben, sondern sie sind nur ein Mittel, um ein ganz anderes Ziel zu erreichen. Enthusiastisch ruft er jetzt aus:

"Nur Gott und die Seele will ich erkennen, sonst nichts."

In seinen Bekenntnissen, die Augustinus viele Jahre später schrieb, schildert er seinen Weg zum Christentum dann im Rückblick in einer dramatischen Gartenszene. Er hört dort eine Kinderstimme singen „Nimm und lies“, darauf schlägt er eine Stelle in den Paulus–Briefen auf und ist bekehrt. In den anderen, früher verfassten autobiographischen Schriften des Augustinus fehlt dieser Bericht. Der Augustinus-Experte Uwe Neumann:

"Der Bericht der Bekenntnisse ist deutlich darauf angelegt, die anderen, weniger wunderbaren Motive in den Hintergrund treten zu lassen und die Bekehrung in gewisser Weise mythisch zu überhöhen."

Augustinus zieht sich schließlich für einige Monate mit einigen Freunden in ein Landgut am Comer See zurück, wo er gemeinsam mit den Freunden nach dem Vorbild von Ciceros Tusculum philosophisch-theologische Diskussionen führt.

Als er nach einem halben Jahr nach Mailand zurückkehrt, hat er seine philosophischen Studien und sein Verhältnis zum Christentum geordnet. Uwe Neumann: "Augustinus folgert, dass sich mit der Vernunft offensichtlich nur wenige befreien lassen, für die breite Masse muss die Autorität hinzukommen. Das Christentum hatte durch die Menschwerdung Christi dasjenige erfahrbar gemacht, was die antiken Philosophien für einen jeweils kleinen Kreis als Lehre anboten."

Christus verkörpert also in sichtbarer Form das, was die Philosophie in einer reinen, unsichtbaren Form sucht. Das Ziel für beide Wege ist immer: den Ursprung des Menschen in Gott zu erfassen. Wobei Augustinus „Gott“ jenseits von Raum und Zeit existierend denkt, denn in Raum und Zeit kann der Mensch keine letzte Glückseligkeit und Vollkommenheit finden.

In der Osternacht 387 lassen sich dann Augustinus, sein Sohn Adeodatus und Alypius, sein Jugendfreund, von Bischof Ambrosius in Mailand taufen. Augustinus gibt jetzt sein Amt als Rhetorikprofessor und seine Ehepläne auf.

Er beschließt in die Heimat nach Nordafrika zurückzukehren. Die Zeit des Suchens ist vorüber, ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Und da er inzwischen erstmals von christlichen Mönchen in Ägypten erfahren hat, die sich als Eremiten in die Wüste zurückziehen, um sich ganz der Kontemplation hinzugeben, beschließt auch er, künftig ein „monastisches“ Leben zu führen.

Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen:

"Was Augustinus sich wünscht, ist ein stilles, philosophisches Leben mit Freunden zurückgezogen, ausschließlich auf Gott gerichtet und dem Streben nach wahrer Erkenntnis geweiht."

Einem Freund schreibt er, dass all sein Streben nur noch auf das „deificari in otio“, also auf das „in Ruhe Gott ähnlich werden“ ausgerichtet sei. Doch diese ersehnte Ruhe sollte nicht lange anhalten. Denn schon bald wurde Augustinus in die Wirren der Kirchenpolitik hineingezogen.

< Folge 1 Folge 3 >

© DLF - Gesendet: 02.01.2008

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Augustinus - Vater der abendländischen Theologie (3)
Der Bischof von Hippo und der Staat im Dienst der Kirche

Von Rüdiger Achenbach

"Die Kirche war zum Bersten angefüllt mit Gläubigen. Die Apsis erstrahlte im Glanz unzähliger Kerzen. Dort saß der greise Bischof Valerius, ein gebürtiger Grieche. In seinem mühsamen Latein mit fremdländischem Akzent erklärte er den versammelten Gläubigen, er leide an den Folgen des Alters und bedürfe vor allem bei der Ausübung seines Predigtamtes der Hilfe eines jungen Geistlichen.
Eben in diesem Moment hatte Augustinus die Basilika betreten und versuchte nun sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, um weiter ins Innere vorzudringen.
Da hörte er plötzlich, wie das Volk laut seinen Namen rief: Augustinus, Augustinus!
Und schon ergriffen ihn zahlreiche Hände, trugen ihn zum Chor und ließen ihn vor den Füßen des Bischofs nieder, der ihn ohne Zögern sofort zum Priester weihte."

Possidius, der Schüler und Biograph des Augustinus, schildert das Ereignis wie eine Szene in einem Drehbuch. Sein Lehrer, sagte er, habe ihm dieses Ereignis genau so geschildert.

Tatsächlich hatte Augustinus sich im Jahr 391 zufällig in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo Regius aufgehalten, um einen Freund zu besuchen. Und während eines Kirchganges war er auf die Bitte der Stadtbevölkerung hin zum Priester geweiht worden. Dies wird aber kaum ohne seine Zustimmung geschehen sein.

Und jedermann, auch Augustinus, wusste, dass er damit zum Nachfolger des alten Valerius ins Bischofsamt berufen worden war. Obwohl er gerade das bisher immer vermeiden wollte.

"Ich fürchtete das Bischofsamt so sehr, dass ich, sobald mein Ruf unter den 'Dienern Gottes' eine Rolle spielte, in keinen Ort mehr ging, von dem ich wusste, dass es dort keinen Bischof gab."

Die „Diener Gottes“, die „servi Dei“, nannte man die klosterähnliche Lebensgemeinschaft die Augustinus nach seiner Rückkehr nach Nordafrika auf dem Familienbesitz in Tagaste gegründet hatte. Dort lebte er mit seinen Freunden. Sein Sohn Adeodatus war bereits im Jahr 390 im Alter von 18 Jahren verstorben. Durch sein klosterähnliches Leben in Tagaste wurde Augustinus zum Begründer des Mönchtums in der abendländischen Kirche. Monnica, seine Mutter, hatte diese Entwicklung ihres Sohnes nicht mehr miterlebt. Sie war schon 388 während der Rückreise nach Nordafrika überraschend in Italien gestorben.

Auch wenn Augustinus kurz nach seiner Priesterweihe offiziell zum Mitbischof in Hippo eingesetzt worden war, gab er sein klösterliches Leben nicht auf.

Doch ein konsequent monastisches Leben war für Augustinus nun durch sein neues Amt nicht mehr möglich. Er wurde jetzt direkt in die kirchenpolitischen Wirren hineingezogen.

Eine besondere Herausforderung für die christliche Kirche in Nordafrika war die Kirche der Donatisten, die sich von der katholischen abgespalten hatte. Der Donatismus, der von Bischof Donatus gegründet worden war, hatte seine Wurzeln in der Zeit der Christenverfolgung. Denn damals war durch den Staat von den Bischöfen verlangt worden, die Heiligen Schriften der Kirche auszuliefern. Viele Bischöfe, die dies unter dem Druck der Verfolgung getan hatten, wurden später von Donatus und seinen Anhängern abgelehnt. Für sie waren diese Kleriker Verräter des Glaubens, die eher als Märtyrer hätten sterben müssen, bevor sie die Heiligen Schriften aushändigten. Da sie mit diesen Verrätern nicht in einer Kirche bleiben wollten, kam es in Nordafrika zur Kirchenspaltung. In jeder Stadt und in jedem Dorf gab es von da an zwei konkurrierende Kirchen, die katholische und die der Donatisten, die für eine kompromisslose christliche Lebensführung eintraten.

Die elitäre Position der Donatisten, die einzig wahre und reine christliche Kirche zu sein, führte auch zu einer Reihe von Sonderpraktiken. Sie erkannten zum Beispiel die katholische Taufe nicht an und forderten für alle, die zu ihnen übertraten, eine Wiedertaufe. Diese Praxis war natürlich für die katholische Kirche ein Affront.

Und Augustinus wurde nun zum Hauptanwalt der katholischen Sache.

Da es im 4. Jahrhundert noch keine klaren dogmatischen Definitionen gab, suchte Augustinus die theologische Auseinandersetzung mit den Donatisten.

Dazu der Kirchenhistoriker Wilhelm Geerlings: "Der Begriff des Sakraments darf nicht im heutigen Sinn verstanden werden. Der Begriff Sakrament hat bei Augustinus – wie in der gesamten damaligen Theologie – eine große Spannbreite. Es können dies religiöse Riten, fromme Bräuche, geheimnisvolle Lehren und dunkle Stellen der Schrift sein. Das alles sind damals 'sacramenta', weil sie den Menschen vom Äußeren wegführen zum inneren Geheimnis."

Da die Donatisten jeden Bischof ablehnten, der nach ihrer Meinung in der Tradition der Verräter stand, erklärten sie kurzerhand alle kirchlichen Amtshandlungen der katholischen Kirche für ungültig. Hier setzt denn auch Augustinus mit seiner Kritik an, indem er klarstellt, dass etwa bei der Taufe nicht der Bischof oder Priester, sondern Gott derjenige ist, der das Sakrament spendet. Denn die Gnade kommt von Gott selbst, nicht aber vom Kleriker, der sie formell weitergibt. Augustinus macht das an einem Bild deutlich:

"Ob das Rohr, durch welches Wasser fließt, aus Blei oder Gold ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass das Wasser fließt."

Damit wird die Vorstellung der Donatisten kategorisch zurückgewiesen, dass es Bischöfe und Priester gebe, die unwürdig seien, die Sakramente zu spenden.

Nach Augustinus kann der Empfänger eines Sakraments sicher sein, dass ihm die Gnade gewährt wird, völlig unabhängig von der persönlichen Lebensführung des spendenden Geistlichen.

Doch die Donatisten hielten an ihrer fundamentalistischen Position fest und trugen dadurch auch zu einer Polarisierung der gesamten Bevölkerung bei.

Die Trennung in katholisch oder donatistisch verlief oft quer durch die Familien. Und die Feindschaft führte zum Beispiel dazu, dass es donatistischen Bäckern verboten war, für Katholiken Brot zu backen. Vor allem die radikal-fanatischen Gruppen in der donatistischen Kirche sorgten dafür, dass die Auseinandersetzung zunehmend in Gewalt umschlug. Dazu der Cambridger Kirchenhistoriker Henry Chadwick:

"Die Liste der katholischen Geistlichen, die zum Krüppel geschlagen wurden oder erblindeten, nachdem ihnen Kalk und Essig in die Augen geworfen worden war, oder die regelrecht zu Tode kamen, war keineswegs kurz. Augustin selbst entging einmal einem donatistischen Anschlag, durch den er für immer zum Schweigen gebracht werden sollte."

Nachdem Augustinus dann im Jahr 396, nach dem Tod des Valerius, alleiniger Bischof von Hippo Regius wurde, stieg er - besonders durch seine Auseinandersetzung mit den Donatisten - zu einem der führenden Vertreter der katholischen Kirche in Nordafrika auf. Er wurde nun zu einem leidenschaftlicher Verteidiger der katholischen Staatskirche, während die Donatisten die Religion und den Staat streng voneinander trennten. Außerdem war Augustinus bisher der Meinung gewesen, dass niemand in der Kirche zu etwas gezwungen werden dürfe. Jetzt änderte er seine Meinung. Er war nun sogar dafür, die Donatisten mit staatlichen Zwangsmaßnahmen in die katholische Kirche zurückzuführen. In einem Brief an einen katholischen Bischof rechtfertigt er sogar die Anwendung von Gewalt.

"Schließlich zwingen doch auch die Eltern ihre Kinder zum Gehorsam und die Lehrer ihre Schüler zur Arbeit, wofür man ihnen nachträglich dankbar ist. Und da meinst du, man dürfe keine Gewalt anwenden, um einen Menschen vom Verderben des Irrtums frei zu machen."

Und mit Berufung auf das Lukas-Evangelium prägt er seine berühmte und oft kritisierte Formel: „cogite intrare“, also: „zwingt sie, einzutreten“.

Damit schlägt er kirchenpolitisch in seiner Zeit einen völlig neuen Kurs ein.

Der Augustinus-Forscher Uwe Neumann: "Augustinus’ Vorgehen ist ein Tabubruch; er ist der erste, der von der Staatsmacht für die Durchsetzung kirchlicher Ziele Gebrauch machte."

Die Härte, mit der Augustinus im Kampf gegen die Donatisten vorging, hängt unmittelbar mit seinem pessimistischen Menschenbild zusammen. Nach seiner Überzeugung ist der Mensch durch die Erbsünde im Grunde verloren und kann nur durch die göttliche Gnade gerettet werden. Doch diese Gnade wird letztlich nur wenigen auserwählten Menschen zuteil, die meisten werden ohnehin auf ewig verdammt. Uwe Neumann: "Angesichts einer solchen Ansicht fiel es Augustinus nicht schwer, den Tod unzähliger Menschen in Kauf zu nehmen."

Augustinus hat schließlich auch mit Genugtuung feststellen können, dass die Kirche der Donatisten durch die staatliche Verfolgung sehr schnell wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Die Häretiker wurden überwunden, auch wenn viele unter Zwang nur zum Schein wieder in die katholische Kirche zurückkehrten. Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Über die Erfolge, die so errungen wurden, hat Augustinus sich in peinlicher Weise getäuscht. Mit den Zwangsbekehrungen der Donatisten beginnt der Niedergang der einst so stolzen afrikanischen Kirche. Schließlich ist sie als einzige Kirche im Mittelmeerraum später durch die Überflutung der Muslime im 7. Jahrhundert spurlos verschwunden. Es scheint, dass die einstigen Donatisten die Araber als Befreier begrüßt haben. Jedenfalls wurde das 'katholische' Erbe von ihnen nicht mehr ernsthaft verteidigt."

Doch zunächst erweist sich die nordafrikanische Kirche immer noch als Bollwerk christlich-katholischer Gesinnung. Und ihre Stimme ist innerhalb der katholischen Kirche des Abendlandes nicht zu überhören. Anders als die Donatisten legte die katholische Kirche in Nordafrika großen Wert auf die Kirchengemeinschaft mit Rom und die apostolische Sukzession.

Allerdings wachte die katholische Kirche in Nordafrika – trotz aller Verbundenheit mit Rom – sehr streng darüber, dass sich niemand von außen in ihre inneren Angelegenheiten einmischte. Aus diesem Grund beschlossen die Bischöfe sogar auf einer Synode, dass kein nordafrikanischer Kleriker es wagen solle, sich mit seinen Anliegen an die römische Kirche zu wenden.

Eine von den römischen Bischöfen geforderte Lehr- und Jurisdiktionsgewalt über die gesamte Kirche wurde von der nordafrikanischen Kirche grundsätzlich abgelehnt.

Auch Augustinus hob hervor, dass Christus die Schlüsselgewalt nicht dem Petrus als Individuum oder seinen Amtsnachfolgern, den römischen Bischöfen, verliehen habe, sondern der wahren Kirche, die durch das Konzil repräsentiert werde.

Dem Nachfolger Petri in Rom wurde lediglich ein Ehrenvorsitz zugebilligt. Entsprechend lautet auch die klare Absage, die Augustinus den römischen Bischöfen erteilt:

"Wir Christen glauben nicht an Petrus, sondern an den, an welchen auch Petrus glaubte. ... Wir sind Christen und keine Petriner!"

Diese klare Grenzziehung gegenüber den besonderen Machtansprüchen in Rom war damals in der abendländischen Kirche nichts Außergewöhnliches. Ein Papsttum, wie es später entstand, hatte sich zu dieser Zeit noch nicht etabliert.

Die Einheit der abendländischen Kirche stand auch ohne Machtzentrum in Rom nicht in Frage. Doch schon bald sollte Augustinus erleben, dass die Auswirkungen der Völkerwanderung die Kirche im Römischen Reich vor völlig neue Herausforderungen stellten.

< Folge 2 Folge 4 >

© DLF - Gesendet: 03.01.2008

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Augustinus - Vater der abendländischen Theologie (4 = Schluss)
Der Fall von Rom und der Gottesstaat

Von Rüdiger Achenbach

"Meine Stimme stockt und mein Schluchzen unterbricht die Worte, die ich schreibe: Die Stadt ist bezwungen, die den Erdkreis bezwang."

Als Kirchenvater Hieronymus als Einsiedler in der Nähe von Bethlehem diese Zeilen schrieb, war das gesamte römische Reich in Panik geraten.

Etwas Unglaubliches war geschehen, die Barbaren hatten Rom erobert.

Auch nach der Gründung Konstantinopels war Rom immer noch das Sinnbild des Imperiums.

Und nun hatte der Gotenführer Alarich mit seinen Truppen die Stadtmauer gestürmt und war in die ewige Stadt eingefallen. Es war zu Plünderungen, Brandschatzungen, Mord und Totschlag gekommen. Dazu der Kirchenhistoriker Carlo Cremona:

"Der 24. August 410 hatte für die damalige Zeit eine ähnliche Bedeutung wie für unsere Zeit der Tag, an dem die erste Atombombe über Hiroshima explodierte. Denn an jenem historischen Tag fiel Rom."

Allerdings war Alarich mit seinem Heer bereits am 27. August, also schon nach drei Tagen, wieder in Richtung Süditalien abgezogen, um von dort aus die reiche Provinz Nordafrika zu besetzen. Unterwegs wurde er dann plötzlich krank und starb. Seine Männer begruben ihn in der Nähe der Stadt Cosenza an einem geheimen Ort im Fluss Busento.

Auch wenn die Gefahr durch Alarich gebannt war, hatte der Gotenführen dennoch einen Mythos zerstört. Denn seit der Zeit des Kaisers Augustus war Rom die ewige Stadt. Und als religiöses und politisches Zentrum des Reiches galt Rom als unbesiegbar. Inzwischen war die offizielle Politik im Römischen Reich zwar zum Christentum übergegangen, aber die Christen hatten die alte Rom-Idee auch für sich übernommen. Schließlich war für sie Rom die Stadt mit den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus. Rom war also auch das religiöses Zentrum der Christenheit und damit auch des Römischen Reiches. Deshalb stellten Kirchenvater Hieronymus und viele seiner Zeitgenossen nun die Frage:

"Wenn Rom untergehen kann, was mag dann überhaupt noch in dieser Welt Bestand haben?"

Christen wie Hieronymus gerieten jetzt tatsächlich in Erklärungszwang, denn er gehörte wie viele andere Theologen seiner Zeit zu den Verfechtern einer christlichen Reichstheologie. Rom wurde dabei als ein Werkzeug im göttlichen Heilsplan verstanden. Denn in Rom hatte das Friedensreich des Augustus, die vielgerühmte Pax Romana, ihren Anfang genommen und schließlich die Voraussetzung für das Kommen Christi geschaffen. Die Reichtheologen waren felsenfest davon überzeugt, dass nach dem Plan des christlichen Gottes mit dem heidnischen Kaiser Augustus bereits begonnen hatte, was dann mit Kaiser Theodosius Realität geworden war: eine christliche Staatskirche für das Römische Reich.

Und wie eng inzwischen das Römische Reich und das Christentum zusammengehörten, zeigte auch die Tatsache, dass die Organisation der Kirche den staatlichen Verwaltungsstrukturen angepasst worden war. Die staatlichen Diözesen, also die Verwaltungssprengel, wurden auch zu Verwaltungseinheiten der Kirche.

Für die christlichen Reichstheologen waren das Römische Reich und das Christentum also sozusagen zwei Seiten einer Medaille. Von hier aus wird auch die Beunruhigung verständlich, die nach dem Fall von Rom auf christlicher Seite aufkam. Denn konsequent gedacht, musste der Sturz Roms auch den Untergang des Römischen Reiches und zwangsläufig auch das Ende der Reichskirche mit sich bringen.

Viele Römer befürchteten aber nach dem Überfall auf ihre Stadt weiteres Unheil.

Zahlreiche Flüchtlinge suchten deshalb vor allem Zuflucht in der römischen Provinz Nordafrika. Und zahlreiche Römer kamen in die damals bedeutende nordafrikanische Hafenstadt Hippo Regius, in der Augustinus zu diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Jahren als Bischof tätig war. Überrascht über die panische Stimmung, die sich breit machte, schrieb er damals an eine Römerin mit dem Namen Italica einen Brief, in dem er sich nach Einzelheiten über den Überfall auf Rom erkundigte.

"Bisher habe ich noch keine genauen Informationen über die Zerstörung Roms erhalten, mir wurden zwar bedauerliche Dinge berichtet, die aber doch weniger beunruhigend sind."

Und in der Tat: Das, was Augustinus in Erfahrung bringen konnte, löste bei ihm nur Unverständnis aus. Denn für Christen, die aus geschichtlichtlichen Ereignissen erkennen wollten, wo und wann die göttliche Vorsehung am Werk war, hatte er kein Verständnis. Für Augustinus war es immer ein fundamentaler Fehler gewesen, dass die christlichen Reichstheologen das Christentum und das Römische Reich wie zwei siamesische Zwillinge auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden hatten.

Und als Hieronymus und andere jetzt klagten, dass die Welt ihrem Ende zugehe, ergriff Augustinus öffentlich das Wort:

"Schaut her, sagen sie, Rom fällt, und es fällt auch das Christentum.
Aber bei der christlichen Religion geht es doch nicht um den Zustand einer Stadt.
Es geht dabei doch nicht um Steine und Holz oder schöne Gebäude und Mauern.
Das, was der Mensch baut, zerstört er auch. Das ist nichts Neues."

Für Augustinus ist die sichtbare Welt selbstverständlich einem ständigem Wandel unterworfen. Und als ihm ein Bischof entgegen hielt, dass schließlich auch Priester von den Barbaren getötet worden seien, wies Augustinus ihn in einem Brief zurecht:

"Du sagst, dass gute und treue Gottesdiener durch das Schwert der Barbaren umgekommen sind. Was aber, frage ich dich, macht das für ein Unterschied, ob ein Fieber oder ein Schwert sie vom Leben geschieden hat? Gott sieht nicht darauf, bei welcher Gelegenheit, sondern in welchem Zustand seine Diener aus dem Leben scheiden."

Dass Augustinus mit solchen Bemerkungen auf schroffe Ablehnung bei den meisten Theologen seiner Zeit stieß, war kaum verwunderlich. Denn er kratzte offensichtlich an der christlichen Glorifizierung Roms. Kirchenvater Hieronymus war aufgebracht:

"Das hellste Licht unter den Ländern ist ausgelöscht. Ja das Haupt des Römischen Reiches ist abgeschlagen. In dieser Stadt ging der ganze Erdkreis unter."

Augustinus fühlte sich deshalb herausgefordert und startete nun zu einem Großangriff gegen die Reichstheologen.

"Was Gott verheißt, liegt jenseits von allem irdischen Erfolg oder Misserfolg."

Für Augustinus ist es unmöglich, in irgendwelchen weltgeschichtlichen Ereignissen dem Heilsplan Gottes nachzuspüren. Er kennt nur ein Ziel, die von Gott verheißene Erlösung am Ende der Zeit. Bis dahin aber wird die innere Dynamik seines theologischen Geschichtsbildes durch zwei staatsähnliche Gebilde bestimmt.

Das eine Reich, die civitas caelestis, ist Gott und dem Himmel zugeordnet, es steht, vereinfacht ausgedrückt, für das Prinzip des Guten, nach dem der Mensch streben soll. Das andere Reich, die civitas terrena, ist dem irdischen Staat zugehörig, in dem das Prinzip des Bösen anzutreffen ist, das den Menschen von Gott entfremdet.

Diese beiden Reiche sind für ihn allerdings nicht durch eine Demarkationslinie getrennt, sondern wenn Augustinus von den beiden Reichen spricht, dann geht es ihm um zwei Idealbilder. Die beiden Reiche sind in ihrer wirklichen Form, als wahre Kirche und wahres irdisches Reich, mit keiner geschichtlichen und soziologischen Gemeinschaft identisch, sondern sie bleiben bis zum Ende der Geschichte unsichtbar. Die Grenze der beiden Reiche geht vielmehr quer durch alle weltlichen Gemeinschaften. Diese undurchschaubare Vielschichtigkeit bestimmt für Augustinus auch die Realität im Verhältnis von Kirche und Staat. Der Historiker Klaus Rosen:

"Mit der entscheidenden Abwendung von der ganzen römischen Geschichte tritt Augustinus aus der Antike heraus und hilft nun, das Staatsdenken des Mittelalters vorzubereiten."

Wobei allerdings im Mittelalter nicht beachtet wurde, dass Augustinus von zwei Idealbildern gesprochen hatte, die bis zum Ende der Zeit unsichtbar bleiben.

Man übertrug die beiden Reiche in die Realität und sah das himmlische Reich durch die Papstkirche und das irdische Reich durch das Kaisertum repräsentiert.

Dieser sogenannte politische Augustinismus tat dann genau das, was Augustinus strikt abgelehnt hatte, nämlich die beiden Idealbilder gegeneinander abzugrenzen. Augustinus hatte die Wirklichkeit viel nüchterner gesehen. Für ihn konnte die sichtbare Kirche keineswegs nur für das Gute stehen und der irdische Staat nicht nur für das Böse, denn in beiden gibt es sowohl Ungerechtigkeit wie Gerechtigkeit. In der sichtbaren Welt ist keine Unterscheidung möglich.

"Der Geschichtsablauf ist wie das Meer – ruhelos, gepeitscht, haltlos zerfließend und bitter."

Augustinus sieht die endgültige Scheidung der zwei Reiche erst in der Endzeit beim Weltgericht. Doch theologische Spekulationen über irgendwelche Zeichen des Weltendes hat er stets abgelehnt.

"Großmächte steigen auf und gehen unter in der Weltgeschichte und keiner kann behaupten, einen klar erkennbaren Grund dafür angeben zu können. Wir durchschauen die Gesamtordnung nicht."

Eine Christianisierung des römischen Reiches und überhaupt eine christliche Politik liegt nicht in der Absicht des Augustinus. Christoph Horn, Professor für Klassische Philosophie:

"Mehr noch, überhaupt keine sichtbare Institution, nicht einmal die Kirche, ist nach Augustinus einfach als Verkörperung einer moralischen Ausrichtung und der religiösen Integrität zu verstehen."

Augustinus’ Schrift „De civitate Dei“ – oft als „Der Gottesstaat“ übersetzt – ist zu einem Schlüsselwerk der abendländischen Staats- und Geschichtsphilosophie geworden. Auch wenn die Intention des Bischofs von Hippo eine andere war.

Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch: "Augustinus hat nicht einmal den Versuch gemacht, sein Geschichtskonzept immanent philosophisch durchzuführen. Augustinus' Gottesstaat ist keine Geschichtsphilosophie, sondern eine dogmatische Auslegung des christlichen Glaubens im Bereich der Weltgeschichte."

Am 28. August 430 ist Augustinus dann im Alter von 76 Jahren in Hippo Regius gestorben. Während dieser Zeit wurde die Stadt bereits durch die Vandalen belagert. Er hat nicht mehr erlebt, dass die gesamte Provinz von den fremden Eindringlingen der Völkerwanderung verwüstet wurde und die katholische Kirche in Nordafrika unterging.

Auch wenn von der nordafrikanischen Kirche nur Ruinen übriggeblieben sind, ist der Ruhm des Bischofs von Hippo Regius in zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte niemals verblasst. Der Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen: "Augustinus ist der einzige Kirchenvater, der bis auf diesen Tag eine geistige Macht geblieben ist. Er lockt Ungläubige und Christen, Philosophen und Theologen ohne Unterschied der Richtung und der Konfession zur Beschäftigung mit seinen Schriften."

< Folge 3

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Prinzipien der Ästhetik Augustins

Cornelius Mayer

Festrede anlässlich der Überreichung des dem Bischof von Würzburg, Dr. Friedhelm Hofmann gewidmeten Buches Gnade – Freiheit – Rechtfertigung. Augustinische Topoi und ihre Wirkungsgeschichte am 18. Juli 2007 im Museum am Dom.

Werde ich nach dem schönsten Buch über Augustinus gefragt, was nicht selten passiert, so antworte ich ohne Zögern: Augustinus der Seelsorger. Leben und Wirken eines Kirchenvaters von Fritz van der Meer. Das Buch ist 1946 in Holland erschienen und in viele Sprachen übersetzt. Nun war Augustinus gewiss nicht nur Seelsorger. Er war ebenso Theologe und Philosoph, Pädagoge und Psychologe, Grammatiker und Linguist – um nur einige Wissenszweige und Tätigkeitsbereiche zu nennen –, von Beruf war er jedoch Rhetor und als solcher Künstler. Die beispiellose Wirkungsgeschichte seines Den-kens gründet nicht zuletzt darin .

Augustinus brillierte durch Sprache. Wohin immer er als Bischof auf seinen zahlreichen Reisen zu Synoden und Konzilien kam, wollte man ihn predigen hören. Dabei kam es ihm primär auf die Sache an, die er zu verkündigen hatte – auf jene Sache, die sei es in Wort, sei es in Schrift gleichsam in den sinnlichen Bereich der Sprache drängt. Diesen Eindruck gewinnt man auch bei der Lektüre seiner theologischen Werke, mustergültig in seinen Confessiones. Er verfasste diese epochale Schrift zum Beginn seines Episkopates. Am Ende seine Lebens urteilt er selbst über sie: «Die dreizehn Bücher meiner Bekenntnisse rühmen Gott, den gerechten und guten sowohl des Bösen wie des Guten in mir; sie erheben des Menschen Verstand und Gemüt auf ihn hin. Auf mich haben sie jedenfalls so gewirkt, als ich sie schrieb, und sie tun dies noch, so oft ich sie lese. Was andere dabei empfinden, mögen sie selbst sehen. Ich weiß jedoch, dass sie vielen Brüdern sehr gefallen haben und immer noch gefallen» .

In diesen, den ästhetischen wie intellektuellen Ansprüchen einer breiten Leserschaft genug tuenden Bekenntnissen bedient Augustinus sich neben einer narrativen weithin auch einer reflexiven Sprache, die den Leser immer wieder zum Innehalten und zum Verweilen einlädt, wenn sie ihn nicht gar zwingt. Der stößt z.B. gleich im ersten Absatz der Confessiones auf den wahrscheinlich meist zitierten Satz aus dem Gesamtwerk des Kirchenvaters: «... auf dich hin hast du uns geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir» . Eine Art Dialektik von ‹Unruhe› und ‹Ruhe› durchzieht wie ein Roter Faden alle Teile dieses Werkes, das, indem es den Leitgedanken von der Ruhe wieder aufgreift, mit den rhetorisch vollendeten Sätzen schließt: «Dass wir im großen Schoße deiner Heiligung ruhen werden, wenn wir sie (sc. unsere Werke mit Hilfe deiner Gnade) vollbracht haben werden, das hoffen wir. Du aber, Gut, das keines anderen Guts bedarf, bist immer ruhevoll, denn du selber bist deine Ruhe. Dies zu begreifen, wer von den Menschen könnte es einem Menschen geben? ... welcher Engel einem Menschen? Von dir muss man es erbitten, in dir muss man es suchen, an deiner Türe muss man klopfen: so, so wird man es empfangen, so es finden, und so wird einem aufgetan» .

Diese Kostprobe einer ausgefeilten Kunstprosa mag genügen, um zu sehen, mit welcher Meisterschaft Augustinus die Sprache zu handhaben verstand.

Wenn wir uns unserem Thema zuwenden, so sei zunächst die Frage nach der Herkunft der Prinzipien der augustinischen Ästhetik beantwortet. Wir haben in der Laudatio bereits von der Erstlingsschrift Augustins, die das Schöne und Angemessene zum Gegenstand hatte, gehört. Diese Schrift wurde etwa um das Jahr 380 verfasst, als Augustinus noch in Karthago Grammatik und Rhetorik lehrte. Wenngleich er sich später mit diesem Erstlingswerk nicht mehr identifizieren wollte, weil sich deren Analysen vorzüglich im Bereich des Materiellen bewegten , so bezeugt es doch bereits sein ausgeprägtes Interesse am Schönen.

Fünf Jahre später lernte Augustinus – er war bereits Professor der Rhetorik in Mailand – die Philosophie der Platoniker und mit ihr auch die Prinzipien einer Ästhetik kennen, die sich vorzüglich im Bereich des Geistigen bewegte, und die er sich nach seiner Bekehrung modifiziert zu eigen machte. Mit größter Wahrscheinlichkeit las Augustinus noch während seines Aufenthaltes in Mailand einige Schriften Plotins, des Hauptes der sogenannten Neuplatoniker, darunter jene Über das Schöne. Darin unterscheidet und scheidet Plotin zwischen dem Schönen ‹im Bereich des Sinnlichen›, das vergeht, und dem Schönen ‹im Bereich des Geistigen›, das nicht vergeht . Schönes und Schönheit zeichnen danach die Grundstruktur des Seins aus. Etwas in Raum und Zeit ist schön, weil es Teil hat an der unwandelbaren und unvergänglichen Idee der Schönheit. Die Philosophie, so lehrten sie ebenfalls, habet die Aufgabe, dem Menschen den Aufstieg vom Schönen, das vergeht, zum Schönen, das bleibt, zu lehren .

Kehren wir zu Augustinus zurück. Dieser gab bald nach seiner Bekeh-rung seine Lehrtätigkeit zu Gunsten einer reichen schriftstellerischen Tätigkeit auf . In seinen Frühschriften beschäftigte er sich vorzüglich mit philosophischen Fragen. Eine dieser Schriften trägt den bezeichnenden Titel Über die Ordnung. Darin vertrat er die Ansicht, der Aufstieg zu Gott könne vom Menschen neben dem offenbarten Glau-ben auch – wenn nicht gar vorzüglich – auf dem Wege der Reflexion über das Universum bewältigt werden.

Der Begriff ‹universum› – abzuleiten vom lateinischen ‹unum› und ‹versus›, bedeutet eigentlich ‹in eins gekehrt, in eine Einheit zusammengefasst› – verweist wie von selbst auf ein Ordnungsgesetz, das die Dinge in Raum und Zeit strukturiert. Denn unstrukturiert könnten wir diese nicht erkennen. Unterscheidbar und damit auch erkennbar werden sie nur, weil sie Einheiten sind. Ihre Einheit verleiht ihnen Gestalt und Form, an der wir sie erkennen. ‹Einheit› ist somit zugleich das Maß ihrer Schönheit , ihr Quell ist Gott, «die Schönheit alles Schönen – pulchritudo pulchrorum omnium» .

Schon Plotin lehrte, dass es die vollkommene Einheit nur im Bereich der Transzendenz gibt . Im Bereich des Sinnlichen ist sie lediglich als Abschattung präsent. Mit den Platonikern sprach auch Augustinus von den ‹Spuren der Einheit› an den Körpern. Diese sind ihrer wahren Einheit ähnlich und unähnlich zugleich . Die Neuplatoniker nannten aus diesem Grunde die Spitze des Seins, aus dem alles Seiende hervorgeht, konsequent ‹das Eine - ἕν›. Für Augustinus war dieses Eine seit seiner Bekehrung der offenbarte Gott, den die Christen im Hinblick auf den biblischen Schöpfungsbericht einen Künstler nannten. Sie sprachen vom ‹deus artifex› und betrachteten das von ihm erschaffene Universum als Muster allen künstlerischen Schaffens. «Gott ist in der Weise Künstler im Großen, dass er im Kleinen nicht klein ist», schreibt Augustinus in einem seiner Kommentare zum Schöpfungsbericht der Bibel .

Natürlich übersah Augustinus das Hässliche in diesem Universum nicht. Er betrachtete es als einen Defekt am Seienden und er verglich diesen Zustand des gegenwärtigen Universums mit den dunklen Farben in einem Gemälde, die diesem zusammen mit den hellen seine ihm eigene Schönheit verleihen . Kritiker der Schönheit des Universums verglich er mit Menschen auf einem Mosaikboden, deren beschränkter Blick nicht über ihr Umfeld hinausreicht. Sie tadeln den Künstler, weil sie in der Vielfalt lediglich die Unordnung und nicht die Ordnung des Ganzen in seiner bewundernswerten Schönheit überblicken . Die Schönheit des Universums gründet jedoch gerade darin, dass jedes Seiende den ihm zugewiesenen Ort einnimmt.

Gott ist in der Weise Inbegriff des Schönen, in der er zugleich auch Inbegriff des Wahren ist. Daraus folgert Augustinus, die in Gott gründenden Prinzipien der Ästhetik müssten samt ihrer daraus abgeleiteten Normen intellegibler bzw. rationaler Natur sein. Daraus wieder folgert er, weil die ‹ratio›, die Vernunft, als Ordnungsprinzip über allem stehe, werde das Schönsein der Dinge erst durch die Schau ihres rationalen Ordnungsprinzips recht erfasst. Die Wahrnehmung des Schönen verläuft also sowohl von oben, von ihrem transzendenten Grund nach unten, zu den Spuren des Schönen an den Dingen, wie auch von diesen Spuren unten zum Ursprung alles Schönen oben. Es versteht sich von selbst, dass der Betrachter des Schönen jene einzigartige und wahre Schönheit mehr lieben soll als die, welche sich ihm in den Dingen zeigt .

Wenden wir uns nunmehr der Lehre Augustins von der Kunst zu. In seiner Schrift Über die wahre Religion kommt er ausführlich darauf zu sprechen . Kunst, so betont er vielsagend, sei nicht mit Kunstfertigkeit zu verwechseln, denn Kunst habe es ebenfalls mit der Vernunft zu tun. Er stellt dort die Frage, warum eine harmonisch gleiche Anordnung der Fenster an einem Gebäude gefalle, während eine ungleiche unser ästhetisches Empfinden verletze. Daraus zieht er den Schluss: In allen Sparten der Kunst sei es die Übereinstimmung, ‹convenientia›, ferner die Gleichheit, ‹aequalitas›, und nicht zuletzt die Einheit, ‹unitas›, die das Gefallen, ‹delectatio›, in uns erwecke. Jedoch, so fragt er kritisch weiter, gibt es das Gleiche überhaupt in dieser veränderlichen Welt? Seine Antwort lautet: ‹Wahre Gleichheit› könne mit den Augen genau so wenig gesehen werden wie ‹wahre Einheit›. Schon in früheren Schriften legte er dar, dass geometrische Figuren an Gegenständen, etwa das Dreieck oder der Kreis auf einer Tafel, streng genommen immer nur annähernd ihrer idealen Form entsprächen. Eher könne man mit einem Schiff auf dem Trockenen fahren, bemerkt er dort, als mit den Sinnen Geometrie treiben . Ein Anderes ist also das Schöne in einer konkreten Gestalt und ein Anderes ist das ‹Gesetz der Gleichheit, der Ähnlichkeit und der Übereinstimmung›, wonach der Künstler sein Werk schafft und wonach die Betrachter dessen Werk beurteilen. Letzteres, weil unwandelbar, steht über allen Künsten. Kunstverständnis und Kunstgenuss haben es vorzüglich damit zu tun.

Augustinus hat auch sechs Bücher über die Musik geschrieben. Darin hebt er ebenfalls das Verstehen der Gesetze der Musik als Kunst von der Kunstfertigkeit, Musik zu machen, radikal ab. «Musik», so definiert er dort, «ist die Wissenschaft der rechten Gestaltung – musica est scientia bene modulandi» . Die Musik als Kunst hat es also ebenfalls mit Wissen zu tun; auch in ihr dominiert die ‹ratio›, die Kenntnis der Zahlen und der Zahlenverhältnisse. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich zu wissen, dass ‹ratio› im Latein ursprünglich ‹Rechnung› oder ‹Berechnung› bedeutet; davon abgeleitet dann die ‹Geistestätigkeit›, die ‹Überlegung›, die ‹Begründung›, die ‹Regel›, und nicht zuletzt jene Kenntnis, welche der Umgang mit den Zahlen erfordert .

In den Büchern Über die Musik geht es vorzüglich um die Metrik , um die Versmaße und um den Rhythmus in der Lyrik, die man in der Antike offensichtlich zur Musik zählte. In der erwähnten Definition spielt das Umstandswort ‹bene› mit der Grundbedeutung ‹gut, recht, gehörig› die entscheidende Rolle, denn dieses ‹bene› bezieht sich auf die Proportionalität und Rationalität sämtlicher Elemente der Musik, der Melodie, der Harmonie, des Taktes, des Rhythmus usw. Wieder grenzt Augustin die Musik als Kunst von dem sonstigen Musizieren ab, mag diese mit noch so großer Virtuosität vorgetragen werden. Freilich können Musikverstand und Virtuosität in einer Person vereint sein, der Liebhaber der Musik als Kunst müsse aber kein Virtuose, wohl aber ein Wissender sein.

Ein Wissender ist, der die Zahlenstruktur der Musik kennt . Denn Zahlen liegen bereits den wahrgenommenen Tönen und Rhythmen der Musik zugrunde. Wir sprechen von einem ganzen Ton, einem halben, einem viertel usw., ähnlich herrscht in den Versfüßen, den Jamben, den Trochäen usw. die Zahl, die deren Längen und Kürzen regelt. Augustinus spricht im Hinblick auf die akustischen Schwingungen der Musik von den tönenden Zahlen, den ‹numeri sonantes› . Diese erregen jedoch lediglich die Aufmerksamkeit beim Hören eines Verses oder eines Liedes, denn das Musikhören ist weniger eine Sache des Ohres, als des Verstandes. Dieser erfasst nämlich die zahlhaften Schwingungen, die ihm vom Sinnesorgan über einen ‹inneren Sinn›, den ‹sensus interior› , vermittelt wurden, und er vergleicht sie mit jenen Zahlen, über die er bei der Beurteilung der musikalischen Vorgänge verfügt. Augustin nennt diese Zahlen sinnvoll ‹iudiciales - Urteiler› . Das Verstehen der Musik hat somit dieser Lehre zufolge die Fähigkeit zur Voraussetzung, das Wahrgenommene mit den Zahlen beurteilen zu können, welche die Musik oder die Lyrik als Wissenschaft und in diesem Sinn als Kunst ausweisen.

Augustinus hat den ästhetischen Aspekt der platonischen Tradition produktiv und konsequenzenreich auch in einen theologischen Kontext übertragen . Seine Reflexionen über das Schöne beherrschen neben Fragen der Philosophie ebenso die der Theologie, der Trinitätslehre, der Christologie etc. In gebotener Kürze soll noch davon die Rede sein.

Die im augustinischen Œuvre des öfteren erwähnte Genitivverbindung von den ‹Spuren Gottes› in theologischen Texten verdeutlicht noch einmal die Richtigkeit des schon Gesagten. Da ist z.B. die Lehre des Kirchenvaters von der ‹Gottebenbildlichkeit des Menschen› nach Gen. 1,26, bei deren Darstellung er mit Hinweisen auf den ‹urschönen, alles schönmachenden Gott› nicht sparsam ist. Die ‹Gottebenbildlichkeit des Menschen› bezieht Augustin freilich ausdrücklich und nachdrücklich auf den dreieinigen Gott. Das heißt, er will die ‹Gottebenbildlichkeit des Menschen› in allen drei göttlichen Personen ver-ankert wissen. Dies hat Konsequenzen für die Anthropologie, denn dank seiner ‹Gottebenbildlichkeit› vermag der Mensch über seine gemeinsame triadische Struktur mit Gott sich selbst in seinem Sein, in seinem Erkennen und in seinem Wollen besser zu verstehen .

Unter ästhetischen Kategorien erörtert Augustin auch den Glauben an die Erlösung des Menschen durch Christi Heilswerk. Durch perverses Begehren – so die Bibel – büßte der Mensch seine exzellente Stellung ein. Der Sündenfall, sagt Augustin, machte ihn hässlich, schön aber im Sinne einer Wiederherstellung seines Urstandes könne er sich allein nicht machen . Dazu bedarf es des Christus, des Künstlers und des Arztes, den Gott in die Welt gesandt hat. Gottes eingeborener Sohn kam jedoch nicht in seiner gottgleichen Schönheit in die Welt. Augustin reflektiert das Mysterium der Inkarnation im Hinblick auf dessen Kreuzestod als ein Hässlichwerden – ganz im Sinne der ‹Entäußerung› nach der Verkündigung des Apostels Paulus im Philipperbrief 2,6-11 .

Ebenso vermag Augustinus auch das übrige Heilswerk Christi, die Gnade, die Kirche, die Sakramente, die eschatologischen Verheißungen in typisch ästhetischen Begriffen theologisch durchzudenken und zu artikulieren. Dies geschieht allerdings nicht mehr in der Sprache der Platoniker, sondern vorzüglich in der Sprache der Bibel, speziell der Psalmen . Der Kern seiner Pastoral blieb aber nach wie vor die Bemühung, den Menschen den Weg zu Gott zu zeigen und sie zum Aufstieg, sei es durch die Betrachtung des Schönen, sei es durch das Evangelium zu motivieren.

Im zehnten Buch seiner Confessiones – ich halte es für das Schönste – zeichnet Augustinus mustergültig beide Wege. Er beginnt mit dem der Philosophen. Schon im ersten Satz wird das beherrschende Thema klar formuliert: «Ich werde dich erkennen, der du mich kennst,‹ich werde dich erkennen, wie auch ich erkannt bin›». Die Unmöglichkeit einer perfekten Gotteserkenntnis hier und jetzt schon ist damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Das als ‹unruhig› bezeichnete ‹Herz› kommt erst nach Vollendung seiner irdischen Pilgerschaft zur ersehnten ‹Ruhe›. Mit einer dramatischer Sprache – wer wollte das dem Rhetor Augustinus verübeln? – wendet dieser sich der Erde, dem Meer, den Lüften und den Gestirnen mit der Bitte zu, sie mögen ihm von seinem Gott sprechen. «Mein Fragen war mein sinnendes Be-trachten und ihre Antwort ihre Schönheit», heißt es da. «Suche höher. ... Wir sind nicht Gott. ... ‹Er hat uns geschaffen›» , lautet ihre Antwort.

Das zu suchende Höhere in der Ordnung des Seienden ist die Seele mit dem Gedächtnis, die ‹memoria›, deren Bereich er in imposanten Bildern schildert . Man dürfte in der Literatur kaum Treffenderes darüber finden als in diesen Kapiteln. Die schier alle Tiefenpsychologie in den Schatten stellenden Analysen dienen einerseits dem Nachweis der Größe des in gewisser Hinsicht souverän über die Welt des Geistes verfügenden Menschen, sie gewähren jedoch zugleich auch Einblick in die Unzulänglichkeit und in die Gebrechen unserer Seelenkräfte – man lese nur das Kapitel 16 über die Tortur des Vergessens! Die Geistseele ist also ebenfalls nicht Gott. Aber in ihr präsentieren sich der Ver-nunft die Grundlagen des zeitlos sicheren Wissens, die Gesetze der Logik und allem voran die der Zahlen und der Maße, von denen niemand behaupten kann, sie würden eines Tage nicht mehr gelten.

Das ‹Wahr-Sein› dieser Gesetze gründet nicht in der Geistseele, sondern in der intellegiblen Transzendenz der ‹Wahrheit›, die für die Christen Gott ist. «Wo ich die Wahrheit fand, da habe ich meinen Gott, die Wahrheit selbst, gefunden und ich habe sie nicht vergessen, seit dem ich sie gefunden habe» , heißt es gegen Ende des Abschnitts über den Aufstieg. Wie sehr das Suchen und Finden der Wahrheit zugleich ein Suchen und Finden der Schönheit ist, zeigen die Sätze, mit denen der Aufstieg in den Confessiones schließt.

«Spät habe ich dich geliebt, o Schönheit, so alt und doch so neu, spät habe ich dich geliebt. Und siehe, du warst drinnen und ich war draußen, und dort suchte ich dich, und auf das Schöngestaltete, das du geschaffen, warf ich mich missgestaltet. Du warst mit mir und ich war nicht bei dir. Und weit hielt mich von dir, was gar kein Dasein hätte, wäre es nicht in dir. Du hast gerufen, ja geschrieen und meine Taubheit zerrissen; du hast geblitzt und gestrahlt und meine Blindheit verscheucht; du hast geduftet, und ich habe den Hauch eingeatmet und lechze nun nach dir; ich habe gekostet, nun hungere ich und dürste; du hast mich angerührt, und da bin ich entbrannt nach deinem Frie-den» .

Die Einsicht in die Verflechtung platonisch-philosophischer und biblisch-heilsgeschichtlicher Gedanken, die in dem besprochenen Abschnitt der Confessiones eine seltene Dichte erreicht, ist für das Verständnis der Schriften Augustins eine der wichtigsten Voraussetzungen. Der weithin mit Begriffen der neuplatonischen Stufenontologie geschilderte Aufstieg mündet jedoch nicht in ein exstatisches Erlebnis, sondern in einen Lobpreis, dessen hymnische Sprache vorzüglich von heilsgeschichtlichen Kategorien bestimmt ist. Das biblische Gottesbild bricht darin in voller Intensität durch. Obgleich die Parabel vom verlorenen Sohn, Lk 15,11-32, mit keinem Wort erwähnt wird, so merkt doch der Kenner sofort, welcher Vorstellungswelt die Texte wie ‹missgestaltet warf ich mich auf das Schöngestaltete› und ‹weit hielt ich mich von dir entfernt› entnommen sind. Worauf es Augustinus anzukommen scheint, ist der sich gleichfalls von der Parabel her nahelegende Gedanke, dass Gott immer schon bei ihm war, und dass er es war, der als ‹artifex mundi› und als der ‹Erlöser der Welt› seinerzeit seine Bekehrung bewirkte, dass er aber auch heute noch jeden und jede über die Betrachtung der Schönheit seiner Geschöpfe zu sich, dem Urheber der Schönheit, zieht und durch sein Heilswerk an sich bindet.

«EHRET IN EUCH GEGENSEITIG GOTT, DESSEN TEMPEL IHR GEWORDEN SEID» (Regel 3,3,1)
Vortrag zur Ordensspiritualität bei den Ritaschwestern

von Cornelius Petrus Mayer OSA

8. Januar 2007

>>> Leitfaden zum Vortrag <<<


Leitfaden durch den
Vortrag zur Ordensspiritualität bei den Ritaschwestern

von Cornelius Petrus Mayer OSA

8. Januar 2007

Das in der christlichen Caritas gipfelnde gegenseitige Verhalten als Leitgedanke für eine Ordensspiritualität.

Die Mitte des Evangeliums: Gottes Heilshandeln an Christus Jesus, dem Mensch gewordenen Gottessohn, und der daraus abgeleitete Imperativ gegenseitiger Ehrerbietung. – Christi Erlösungswerk als Schlüssel zum Verstehen der biblischen Offenbarung. – Die Rolle des Tempels in den Religionen, im Alten und im Neuen Testament. – Die Tempelkritik Jesu und der neutestamentlichen Schriften. – Zusammenfassende These: Die Loslösung von der Tempelfrömmigkeit des Alten Testamentes vollzog sich prinzipiell christologisch, das heißt, von Christus her und auf Christus hin.

Der Christ als Tempel Gottes nach der Theologie des hl. Augustinus. – Einschlägige Texte aus der Predigt Nr. 217,4: Der Tempel Salomos, der Tempel Jesus Christus und die Tempel der Leiber der Christen. – Das Wirken des Heiligen Geistes im Tempel der Leiber der Glieder Christi. Zusammenfassende These: Wenn ‹die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in unsere Herzen gegossen ist› (Röm 5,5), dann ist eigentlich sie (die christliche Caritas) es, die auch das Wesen einer als Tempel Gottes sich verstehenden christlichen Person bestimmt.

Zur Praxis der Forderung einer gegenseitigen Ehrerbietung bei Christen und christlichen Ordensleuten: Das Christsein, das unser Bewusstsein bestimmt und das Bewusstsein, das unser sittliches Handeln steuert. – Das Beispiel Augustins. – Die Grenzen der Forderung und das Angewiesensein auf die Gnade. – Der gegenseitige Respekt vor der Menschenwürde als Minimum einer sittlichen Forderung für das Zusammenleben in der Gesellschaft. – Die Forderung der gegenseitigen Ehrerbietung im Hinblick auf die Lehre der Bibel von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen. – Die dreifache Struktur der Gottebenbildlichkeit nach der Trinitätslehre des hl. Augustinus. – Die Identität von Wollen und Lieben im Dreieinigen Gott. – Das Urbild der gegenseitigen Liebe im dreieinigen Gott. – Die Fortpflanzung der die Einheit schaffenden christlichen Caritas in der Kirche, den Gliedern Christi: Augustins Kommentar zu 1 Joh 5,1-3. – Die christliche Caritas von oben nach unten und von unten nach oben. – Die Unteilbarkeit der christlichen Caritas.

Zusammenfassung und Ergebnis: Es gibt nach Augustinus nur eine kirchengebundene Spiritualität für Ordenleute. – Die christliche Caritas als Wille zum Guten, Wahren und Schönen ist Bedingung und zugleich auch Voraussetzung bei der Erfüllung des anspruchsvollen Imperativs: «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid!»


Wenn ich mich recht erinnere, spielte der Satz aus der Regel «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid» bei den Vorbereitungen auf Ihr Kapitel im vergangenen Jahr eine wichtige Rolle. In ihm sollte so etwas wie der Leitgedanke bei der Suche nach einem Konzept Ihrer Ordensspiritualität zum Ausdruck kommen.

Als Theologe von Fach, noch dazu als Dogmatiker, kann ich Sie zur Wahl dieses Satzes nur beglückwünschen. Warum? Weil es Augustinus mit diesem Satz gelang, Wesentliches der christlichen Existenz auf den Punkt zu bringen. Zum Wesentlichen der christlichen Existenz gehört aber, so lange das Neue Testament nicht nur gelesen, sondern auch ernst genommen wird, immer noch auch die uns durch Christi Erlösungswerk geschenkte Gotteskindschaft sowie das daraus abzuleitende, in der christlichen Caritas gipfelnde Verhalten der Christen zueinander.

Ich darf Sie zunächst auf folgenden, leider häufig vergessenen Aspekt der neutestamentlichen Verkündigung aufmerksam machen, womit wir freilich sogleich zur Sache kommen: Das Evangelium verkündet primär nicht sittliche Vorschriften, Gebote und Verbote, sondern Christi Erlösungswerk, seine Menschwerdung, seinen Kreuzestod und seine Verherrlichung. In seiner Mitte steht also das Geschehen an Christus und um Christus, dieses aber ist wieder eingebettet in das Heilshandeln des dreieinigen Gottes: des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gott, den wir ‹gegenseitig› in uns ehren sollen, ist der ‹Schöpfer des Himmels und der Erde›, wie es im Großen Glaubensbekenntnis der Kirche heißt; Gott ist der ‹eingeborene Sohn›, der ‹für uns Menschen und zu unserem Heil vom Himmel gekommene› Christus›; Gott ist der ‹lebendig machende› Heilige Geist.

Folgendes ist ferner im Hinblick auf unser Thema zu sehen wichtig: Der Satz «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid» ist ein Imperativ, eine Aufforderung, aber diese ist an einen Indikativ, an eine Aussage geknüpft, die ihr logisch vorausgeht und den Imperativ erst einsichtig macht. Es heißt also: Weil ihr Gottes ‹Tempel› geworden seid, deshalb sollt ihr in euch gegenseitig Gott ehren! Da ist etwas geschehen. Was ist da geschehen? Neues, vorher nicht Gewesenes, Unerhörtes!

Die Apostel und die ersten Christen, welche die Bibel, die Schriften des Alten Testamentes, kannten und eifrig lasen, wussten, dass Gott, der mit seinem Volke Israel einen Bund schloss, immer wieder auch Neues ankündigte. Dieses Neue erblickten sie im Christusgeschehen, mit dem die Offenbarung zugleich zu ihrem Abschluss kam. Sie sprachen jetzt von einem Neuen Bund, und sie nannten ihre Schriften, die davon kündeten, das Neue Testament.

«Viele Male und auf vielerlei Weise», so fasst der Hebräerbrief sämtliche Geschehnisse der Offenbarung zusammen, «hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit hat er zu uns gesprochen durch seinen Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort; er hat die Reinigung von unseren Sünden bewirkt und sich dann gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe» (1,1-3). Diese drei ersten Verse des Hebräerbriefes geben die auf das Erlösungsgeschehen durch Christi Tod und Auferstehung abzielenden Mitte der biblischen Offenbarung bündig wieder. Nun aber lautete die Mitte der frühkirchlichen Verkündigung und Katechese nicht, der gekreuzigte Jesus lebt, sondern der für uns gekreuzigte Jesus, ‹der Urheber des Lebens›, lebt – so die Pfingstpredigt des Apostels Petrus nach der Apostelgeschichte 3,14. Er schenkt allen, die an ihn glauben, Anteil an seinem Leben.

Der Verstehensschlüssel nicht nur zum Neuen Testament, sondern zur biblischen Offenbarung insgesamt sind die Ereignisse des Karfreitags und der Osternacht. Von ihnen her fällt das Licht auf die Jesusgeschichte unserer Evangelien, von denen ein namhafter Theologe, Martin Kähler, sagte, diese seien nichts anderes als nach rückwärts in das Leben Jesu hinein verlängerte Passions- und Auferstehungsgeschichten. Beides, Kreuz und Verherrlichung durchziehen die Evangelien wie ein roter Faden: Jesus von Nazareth – so lautet deren Quintessenz – ist der Christus, der Messias, und er ist dies deshalb, weil er der ‹Erlöser› ist.

In den alttestamentlichen Schriften war der Titel ‹Erlöser› streng genommen Gott allein vorbehalten. Wenn also Jesus von Nazareth nach biblischem Verständnis ‹Erlöser› ist, dann kommt ihm auch der Titel Christus, der Messias, der Gesalbte, in einem neuen, von Gott her bzw. auf Gott hin zu reflektierenden Sinn zu. Der Glaube an das im Neuen Testament entfaltete Erlösungsgeschehen ist also das Fundament der Lehre von Christus, und diese wieder weist uns den Weg zu Gott dem Einen in drei Personen. Diese gedrängte Darstellung des Kerns der neutestamentlichen Verkündigung ist für unser Verständnis der Weisung aus der Regel des hl. Augustinus, in uns ‹gegenseitig Gott zu ehren›, nicht unerheblich. Denn, wie gesagt, die Weisung ergibt sich aus der Verkündigung der österlichen Ereignisse.

In unserem Satz spielt aber noch ein anderer Begriff, nämlich der des ‹Tempels›, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nun ist auch in bezug auf den Begriff ‹Tempel› ein Blick in das Neue Testament höchst aufschlussreich. Das Wort ‹Tempel› beinhaltet als Begriff nicht mehr wie noch im Alten Testament jenes Gebäude, das Salomon für Gott errichten ließ, sondern primär und vorzüglich die Innerlichkeit der Erlösten. Der Apostel Paulus spricht in bezug auf einen erlösten Christen vom ‹inneren Menschen› (vgl. 2 Kor 4,16). In seinem Ersten Brief an die Korinther schreibt er: «Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn einer den Tempel Gottes verdirbt, wird Gott ihn verderben. Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr» (3,16).

Verständlicher Weise löste die Übertragung des Tempelbegriffes auf die Christen in der frühen Kirche heftige Reaktionen im Zusammenleben mit anderen Religionsgemeinschaften, speziell mit dem Judentum aus. Ich denke, wenn wir uns den Satz «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid» für unsere Spiritualität zu eigen machen wollen, müssen wir auf die Auseinandersetzungen um den Tempel, welche jene Übertragung auslöste, in gebotener Kürze eingehen.

Zur Religion gehört der Kult, und zum Kult der Tempel als das Haus einer oder mehrerer Gottheiten, der bzw. denen der Kult gilt. Schon im alten Orient waren die Tempel in der Regel Paläste, denn die Religionen als Mütter der Kulturen standen mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen in edlem Wettstreit unter- und miteinander, was sich bis heute nicht geändert hat. Man muss die imposanten Anlagen von Theben oder Karnak in Ägypten gesehen haben, um sich ein adäquates Bild von der Bedeutung der Tempel für die Religion eines Volkes machen zu können.

Ähnliches gilt hinsichtlich des Tempels zu Jerusalem. Ausführlich schildert das erste Buch der Könige dessen Bau durch König Salomo. In ihm erhielt auch Israel ein zentrales Heiligtum, dessen Größe und Schönheit in den Schriften des Alten Testamentes, speziell in den Psalmen besungen wird. Solche Äußerungen lassen indes vergessen, dass in Israel das Gottesverhältnis sich ursprünglich anders zu artikulieren hatte. Parallel zur Verherrlichung der Tempelfrömmigkeit durchzieht eine nicht zu überhörende Kritik diesen Tempelkult. Jahwe, der sein Volk aus Ägypten durch die Wüste führte, so lautet die Kritik zusammengefasst, brauchte kein aus Stein gebautes Haus. Die am Hof Salomos und seiner Nachfolger herrschende Gottesvorstellung versuchte zwar die ursprüngliche, von den Patriarchen und Moses vertretene nach und nach zuzudecken, aber die Kritik der Propheten bis zu Jesus verstummte nie ganz. Im Neuen Testament wurde sie lebendiger als je zuvor.

Unseren Evangelien zufolge ließ Jesus die Tempelfrömmigkeit dann gelten, wenn diese den Gott gefälligen, die Barmherzigkeit nicht vernachlässigenden Kult förderte. Das Wort des Zwölfjährigen, den seine Eltern auf der jährlichen Wallfahrt nach einer dreitägigen Suche im Tempel lehrend fanden – «Wusstet ihr nicht, dass ich in dem, was meines Vaters ist, sein muss?» (Lk 2,59) –, unterstreicht die positive Bewertung des Tempels, ebenso die zahlreichen Aufenthalte Jesu während der Festtermine zu Jerusalem, von denen alle vier Evangelien berichten. Indes, die Evangelien berichten auch von Spannungen und Konflikten. So legt das Matthäusevangelium in der Perikope über das Ährenrupfen der Jünger am Sabbat Jesus die Worte in den Mund: «Ich sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: ich will Barmherzigkeit, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt» (12,6-7). Schließlich war es die Kritik Jesu am Tempel, die zu seiner Verurteilung führte. Im Bericht über die Vertreibung der Händler aus dem Tempel nach Joh 2,13-22 forderten die Juden ein Zeichen für seine Vollmacht dies zu tun. Worauf Jesus antwortete: «Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten» (2,19). Der Passionsgeschichte des Markusevangeliums zufolge beriefen sich Zeugen bei der Verhörung Jesu vor dem Hohen Rat gerade darauf: «Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen mit Händen gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen, nicht mit Händen gemachten erbauen» (14,58). Der Evangelist Johannes fügte jedoch vielsagend zu jenem Jesuswort hinzu: «Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er dann von den Toten erweckt war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte» (2,12-22).

Diese, auf den Tempel des Leibes Jesu gedeuteten Worte mögen nicht wenig zur Spiritualisierung und zur Umdeutung des Tempelkultes in der frühen Kirche beigetragen haben, die uns, wie schon erwähnt bei Paulus, aber auch bei andren neutestamentlichen Schriftstellern begegnet. Zweifelsohne besuchten die Christen der Urgemeinde zu Jerusalem weiterhin den Tempel, aber ihren ureigenen Kult, die Eucharistie, die feierten sie in den Häusern. «Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel», lesen wir in der Apostelgeschichte über jene Gemeinde, dann aber fährt der Bericht fort: «sie brachen in ihren Häusern das Brot und aßen miteinander in Freude und Einfalt des Herzens» (2,46f.). Im Laufe der Zeit kam es jedoch zur wachsenden Distanz sowohl zum mosaischen Gesetz wie auch zum Tempelkult und schließlich zu einem Eklat, der zur Verurteilung des Stephanus und zu dessen Steinigung führte.

«Dieser Mann», so hieß es in der Anklage, «hört nicht auf, Reden zu führen gegen die heilige Stätte und gegen das Gesetz» (6,13). Vor der Steinigung wird Stephanus das Wort gewährt, in welcher er auf die erforderliche Scheidung der christlichen von der jüdischen Kultgemeinde eingeht, und in welcher er den Tempel als Bauwerk radikal ablehnt: «Salomon», so der Passus über den Tempel, «baute ihm (Gott) ein Haus. Und doch wohnt der Allerhöchste nicht in dem, was von Händen gemacht ist, wie der Prophet sagt: ‹Der Himmel ist mein Thron, die Erde der Schemel meiner Füße. Welches Haus wollt ihr mir bauen, spricht der Herr, oder welches ist die Stätte meiner Ruhe? Hat nicht meine Hand dies alles gemacht?› (Jes 66,1f.)» (7,47-50).

Fassen wir diesen neutestamentlichen Befund der Kritik an dem Tempel zusammen, so dürfen wir festhalten: Die Loslösung von der jüdischen Tempelfrömmigkeit in der frühen Kirche vollzog sich prinzipiell christologisch, d.h. von Christus her und auf Christus hin. Denn der wahre Tempel ist nach dem Prolog des Johannesevangeliums Jesus, ‹in dem Gottes Wort Fleisch annahm› (eskenosen, Joh 1,14). Bei der Kreuzigung Jesu wurde zwar dieser Tempel, Jesus, der Christus, niedergerissen, er wurde aber bei seiner Auferstehung wieder auferbaut. Als der Verherrlichte «gab (und gibt) er (nunmehr) allen, die ihn aufnahmen, Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind» (ebd. 1,12f.). In der Gotteskindschaft pflanzt sich also die wahre Tempelfrömmigkeit fort. Daraus ist zu folgern, diese hat auch eine ekklesiologische, eine auf die Kirche, auf den Leib Christi hin sich erstreckende Dimension. Davon kündet unser Satz aus der Regel, dem wir uns nunmehr zuzuwenden haben.

Selbstverständlich feierte die Kirche zur Zeit Augustins ihre Liturgie bereits in eigens dafür errichteten Gebäuden. Vor der sogenannten konstantinischen Wende um 313, die der Kirche die Freiheit der Mission brachte, gab es nur sporadisch christliche Kultbauten, aber danach setzte eine rege Kirchenbautätigkeit ein, wofür der Kaiser Konstantin selbst durch die Errichtung der Lateranbasilika zu Rom ein Zeichen setzte. Im Gegensatz zu den Kultgebäuden der Heiden, in denen die verehrte Gottheit anwesend war, dienten die nunmehr errichteten Kirchenräume vorzüglich als Versammlungsstätten, denn es galten nach wie vor die schon erwähnten neutestamentlichen Weisungen, der Tempel Gottes sei die Gemeinde selbst. Gottes Haus könne deshalb kein von Menschenhand errichtetes Bauwerk sein.

Augustinus, der mit seiner Gemeinde täglich die Eucharistie feierte und dabei auch regelmäßig predigte, kam wiederholt auf den Unterschied, durch den die christliche Gemeinde sich vor der Versammlung nicht nur der Heiden, sondern auch des alttestamentlichen Gottesvolkes auszeichnete, zu sprechen. Hören wir uns ein Stück aus einer solchen Predigt, aus dem Sermo 217,4, an:

«Wir (Christen) beten Gott an, dessen Tempel wir selbst sind. ... Wären wir Heiden, so bauten wir Tempel den Göttern. ... Salomon indes baute zwar, weil er ein Prophet Gottes war, einen Tempel aus Holz und Stein, er baute ihn aber Gott: Gott, und nicht einem Götzen; Gott, und nicht einem Engel; Gott, und nicht der Sonne, nicht dem Mond; Gott (vielmehr), der Himmel und Erde erschaffen hat; Gott, ... der im Himmel bleibt, dem baute er (Salomon allerdings) einen irdischen Tempel. Und Gott verschmähte dies nicht, im Gegenteil, er befahl, dies zu tun.

Warum befahl er (Gott) den Bau eines Tempels für sich? Hatte er keine Bleibe? Hört den heiligen Stephanus, der bei seiner Hinrichtung sagte: ‹Salomon errichtete ihm (Gott) ein Haus, der Allerhöchste wohnt jedoch nicht in von Händen erbauten Tempeln› (Apg 7,47sq.). Warum also wollte er den Bau eines Tempels? Damit dieser ein Hinweis (figura) auf den (künftigen) Leib Christi sei. Jener Tempel (Salomos) war (lediglich) eine Abschattung (umbra): es kam das Licht, und es verscheuchte die Abschattung. Suche nunmehr nach dem Tempel, den Salomon errichtete, du findest eine Ruine. Warum ist jener Tempel eine Ruine? Weil es sich bereits erfüllte, worauf er zeichenhaft verwies».

Jetzt erst, nachdem die heilsgeschichtliche Funktion des alttestamentlichen Tempels geklärt ist, kommt der Prediger Augustin auf den neutestamentlichen zu sprechen. «Ja, selbst der Leib des Herrn sank ins Grab, aber er erstand – und zwar erstand er so, dass er nicht mehr dem Tod anheimfallen kann. Und als die Juden ihn fragten, ‹welches Zeichen kannst du uns geben, damit wir dir glauben?› (Ioh 2,18) antwortete er: ‹reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen baue ich ihn wieder auf› (ebd. 2,19). Freilich sprach er zu ihnen in dem von Salomon errichteten Tempel, als er sagte: ‹reißt diesen Tempel nieder›. Sie hörten aber nicht, was er mit dem Wort ‹diesen (Tempel)› meinte. ... sie glaubten, er spreche vom (salomonischen) Tempel. Schließlich antworteten sie ihm: ‹46 Jahre wurde dieser Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufbauen?› (ebd. 220). Deshalb fügte der Evangelist sogleich hinzu: ‹Er sagte dies vom Tempel seines Leibes› (ebd. 2,21). Also ist der Tempel (in einem strikten Sinn) Gottes Christi Leib».

Wir sehen unschwer, wie eng der predigende Augustinus sich an der neutestamentlichen Verkündigung orientiert. Der Tempel schlechthin ist Gottes Fleisch gewordenes Wort, der gekreuzigte und verherrlichte Christus. Dies ist sozusagen die Plattform, das Fundament, von dem aus das Tempelsein der Kirche in den Blick kommt. Ausdrücklich und nachdrücklich betont der Bischof, dass das Wort ‹Kirche - ecclesia› zwar auch die Basilika als Versammlungsort bedeuten könne, dass aber diese Bedeutung dem Wort nur sekundär zukomme (vgl. quaest. hept. 3,57). Primär ist die Kirche als Gemeinde der Glaubenden, Hoffenden und Liebenden ‹Christi Leib› und als solche ‹Tempel Gottes›.

Wenn der ‹Tempel Gottes› im Sinne des Neuen Testamentes die Kirche als ‹Christi Leib› ist, so nimmt Augustinus den Faden seiner Darlegungen in der zitierten Predigt wieder auf, «was sind (dann) unsere Leiber?» Die Antwort lautet bündig: «Christi Glieder», und er beruft sich abermals auf die neutestamentliche Verkündigung: «Hört den Apostel selbst: ‹Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?› (1 Kor 6,15). Was wollte der zum Ausdruck bringen, der da sagte, ‹eure Leiber sind Christi Glieder›, wenn nicht dies, dass unsere Leiber und unser Haupt, (das doch) der (der eine) Christus ist, zusammen der eine Tempel Gottes ist?»

Weil der auch philosophisch gebildete Augustin wusste, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, appellierte er sogleich an seine Zuhörer, darüber zu reflektieren, dies immer wieder zu bedenken. «Zuversichtlich halten wir daran fest», so fährt er weiter, «dass Christi Leib und unsere Leiber Gottes Tempel sind, und dass wir dies (nach unserem irdischen Leben) sein werden: denn wenn wir daran (jetzt) nicht glauben, werden wir es auch (dann) nicht sein».

Ich sagte bereits eingangs, dass es nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes der Dreieinige Gott ist, der im ‹Tempel-Leib› wohnt. Dies wird darum vom Prediger ebenfalls gebührend zur Sprache gebracht: «Da also unsere Leiber Glieder Christi sind, vernehmt (auch) noch das Andere, das der Apostel gesagt hat: ‹Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt, und den ihr von Gott habt?› (1 Kor 6,19). Er (Gott) hat also einen Tempel (als Wohnung): ist er deshalb nicht Gott?» fragt der Prediger und fährt fort: «Wäre er es (nur dann), wenn er in einem Tempel aus Holz und Stein wohnte, wenn er einen von Händen errichteten Tempel hätte, und ist er (womöglich) deshalb nicht Gott, weil er zu seinem Tempel die Glieder Gottes hat? Fügt also den Heiligen Geist (zum Tempel) hinzu. Der Heilige Geist ist Gott. (Denn) der eine Gott ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist». Augustinus beschließt diesen Abschnitt seiner Predigt – keineswegs überraschend – mit der Mahnung: «Lasst euch (als Tempel) in Einheit aufbauen, damit ihr in der Trennung nicht untergeht».

Die Betonung der Einheit in der Trinität ist für die Theologie und auch die Spiritualität des Kirchenvaters charakteristisch. Er bevorzugte in seiner Sprache über die Trinität den Terminus Dreieinigkeit gegenüber jenem der Dreifaltigkeit deshalb, weil im ersteren die die Einheit betonende Liebe als Gottes Wesen (vgl. 1 Joh 4,8) klarer zur Sprache kommt. Ja, Liebe und Einheit bedingen sich gegenseitig, sie bedingen auch Gottes Identität. Wenn ‹die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in unsere Herzen gegossen ist›, wie der Apostel Paulus in seinem Römerbrief (5,5) schreibt, dann ist eigentlich sie es, die auch das Wesen einer als Tempel Gottes sich verstehenden christlichen Person bestimmt. Darüber lässt Augustinus keinen Zweifel aufkommen.

Wenn wir uns nunmehr der Umsetzung des Imperativs, ‹uns gegenseitig zu ehren› zuwenden, dann ist erneut ins Gedächtnis zu rufen, dass das Sein unser Bewusstsein bestimmt. Dem ist allerdings gleich hinzuzufügen, dass unser Bewusstsein unser Verhalten, auch das sittliche steuert. Lassen Sie mich dies anhand einer anderen Predigt Augustins illustrieren, die Augustinus anlässlich eines der Jahrestage seiner Bischofsweihe hielt. Um sein hohes Amt, das er in seiner Diözese innehatte, wissend, sagte er, er sei für seine Diözesanen zwar Bischof, was ihn erschrecke, er sei aber mit ihnen zusammen Christ, was ihn tröste und erfreue. Denn das Amt sei seine Bürde, was ihn jedoch mit seinen Diözesanen verbinde, nämlich das Christsein, das sei seine Würde. Bei aller Sorge um eine rechte Amtsführung war er sich der Gefahren seiner Stellung bewusst. «Schließlich», so sagt er wörtlich, «werden wir wie in einem großen Meer durch den Sturm unserer Tätigkeiten umhergeworfen. Aber indem wir uns erneut ins Gedächtnis rufen, durch wessen Blut wir erlöst worden sind, treten wir durch die Ruhe dieses Gedankens wie in einen Hafen der Sicherheit ein» (s. 340,1).

Erlöste sind wir also. Dieser Gedanke ist ungemein wichtig, wenn wir darüber nachdenken, wie wir dem Aufruf zur gegenseitigen Ehrerweisung nachkommen sollen. Erlöst sein bedeutet keineswegs schon fehlerlos und vollkommen zu sein. Keiner hat dies besser gewusst als Augustinus, der wieder im Anschluss an den Apostel Paulus auch über die ‹in ihm wohnende Sünde› Bescheid wusste und mit dem Apostel ‹das Gesetz der Sünde, das in seinen Gliedern herrsche›, beklagte (Röm 7,7-25). Dieses Wissen um das Angewiesensein auf die Gnade im Umgang mit dem Nächsten – so lange unser irdisches Leben währt –, macht demütig. Und in diesem Sinne ist die Demut der Lehre des hl. Augustinus zufolge nach der Caritas die zweitwichtigste christliche Tugend. Der Christ ist also dank der ihm zuteilgewordenen Erlösungsgnade ‹Tempel Gottes›, er bleibt aber auch zeit seines Lebens ‹der homo peccator – der Sünder›.

Und dennoch soll gelten: «Ehret in euch gegenseitig Gott!» Wie und wodurch sollen wir in uns gegenseitig Gott ehren? Darauf gibt es bei Augustinus grundsätzlich nur eine Antwort: Durch die christliche Caritas. Sie sehen, ich spreche absichtlich nicht von der Liebe, sondern von der Caritas und füge noch das Beiwort christlich hinzu. Eine Ehrerbietung dem Mitmenschen gegenüber kennt auch die philosophische Ethik. Keine funktionierende Gesellschaft kann darauf verzichten, denn das Zusammenleben verlangt ein Minimum an gegenseitigem Respekt vor der Menschenwürde eines jeden und einer jeden, was auch das Grundgesetz unseres Staates von uns einfordert.

Die von Christen verlangte Ehrerbietung hat mit Gott zu tun, und zwar mit dem Dreieinigen, was Augustinus zu betonen nicht müde wird. In seinem theologisch wohl bedeutendsten Werk, den 15 Büchern Über den Dreieinigen Gott hat er im Zusammenhang seiner Darlegungen wie Vater, Sohn und Hl. Geist sich so zueinander verhalten, dass sie bei aller Gemeinsamkeit der Natur ihre sie kennzeichnende Eigentümlichkeit behalten, zugleich viel zur Klärung des Personbegriffes beigetragen, weshalb man ihn auch für den ersten modernen Menschen hielt. Weil der Mensch nach der Bibel als Gottes Gleichnis und Ebenbild erschaffen wurde, versuchte Augustinus die Gottebenbildlichkeit des Menschen von allen drei göttlichen Personen abzuleiten. Diese spiegelt sich in der Geistseele mit ihrer dreifachen Struktur: sie ist, sie erkennt und sie will. Sein, Erkennen und Wollen sind wie in Gott so auch im Menschen untrennbar ineinander verflochten (vgl. ciu. 11,26; trin. 9,18).

Es ist im Kontext unseres Themas darauf aufmerksam zu machen, dass der Wille und die Caritas nach Augustinus in Gott identisch sind. Der Heilige Geist ist die Liebe das Vaters zum Sohn und die Liebe des Sohnes zum Vater. Gegenstand des Wollens oder des Liebens bei Gott ist das Gute, das Wahre und das Schöne. Mustergültig lebte Jesus als der Mensch gewordene Gottessohn die Identität des Willens mit der Caritas in seiner irdischen Existenz uns vor. Das Reich, das Christus am Ende der Zeiten herbeiführen wird, wird ein Reich der vollendeten Caritas sein. So lange freilich die gegenwärtige, von Gott entfremdete Welt währt, wird die christliche Caritas immer nur in Stücken zu verwirklichen sein, aber als ‹die Erfüllung des Gesetzes› (Röm. 13,10) ist sie der Kirche aufgegeben. Wann und wo immer der Kirche es gelingt, die Caritas zu verwirklichen, weiß sie, dass dies letztlich nicht ihr, sondern eine Werk der Gnade ist.

Diesen Prozess der von Gott ausgehenden und in der Kirche sich fortpflanzenden Caritas beschreibt Augustinus in seinem Kommentar zum Ersten Johannesbrief mit der ihm eigenen Eindringlichkeit. Er zitiert zunächst den zu kommentierenden Text: «‹Jeder der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren. Und jeder, der den liebt (nämlich den Vater), der ihn› (den ewigen Sohn, Gottes Wort) geboren, liebt auch den, der von ihm geboren wurde (unseren Herrn Jesus Christus)›. Dann fährt der Apostel fort: ‹Daran erkennen wir, dass wir die Söhne (und Töchter) Gottes lieben› (5,1f.), gerade als ob er sagen wollte: Daran erkennen wir, dass wir den Sohn Gottes lieben. Die Söhne (und Töchter) Gottes nennt er, während er doch kurz zuvor vom Sohn Gottes gesprochen hatte; denn die Söhne (und die Töchter) Gottes sind der Leib des eingeborenen Sohnes Gottes. Und da er das Haupt, wir die Glieder sind, ist einer der Sohn Gottes. Wer darum die Söhne (und Töchter) Gottes liebt, der liebt den Sohn Gottes; und wer den Sohn Gottes liebt, der liebt den Vater. Und keiner wieder kann den Vater lieben, wenn er nicht den Sohn liebt; und wer den Sohn liebt, der liebt auch die Söhne (und die Töchter) Gottes. Welche Söhne (und welche Töchter) Gottes? Eben die Glieder des Sohnes Gottes. Und indem er liebt, wird er auch selbst Glied, und durch die Liebe wird er dem Leibe Christi eingefügt: und so wird ein einziger Christus sein, der sich selbst liebt. Denn da die Glieder sich gegenseitig lieben, liebt der Leib sich selbst. Wie Paulus sagt: ‹Leidet ein Glied, leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit›. Und wie fährt er fort? ‹Ihr aber seid der Leib Christi und seine Glieder› (1 Kor 12,26f.)».

Der philosophisch gebildete Augustin war ein scharfer Dialektiker. Man spürt in diesen Sätzen einen Zwang der Logik – allerdings nur dann, wenn man an das Erlösungsgeschehen, von dem das Neue Testament kündet, glaubt. Im bisher zitierten Text bewegt sich die Caritas von oben nach unten: Der Vater liebt den Sohn und über den Sohn die Söhne und Töchter. Die Caritas verläuft jedoch unter dem gleichen Zwang der Logik auch von unten nach oben. So fährt Augustinus fort: «Wenn du aber deinen Bruder (und deine Schwester) liebst, liebst du da vielleicht deinen Bruder (und deine Schwester), und Christus liebst du nicht? Wie wäre das möglich, wenn du die Glieder Christi liebst? Wenn du also die Glieder Christi liebst, liebst du Christus. Wenn du Christus liebst, liebst du den Sohn Gottes. Wenn du den Sohn Gottes liebst, liebst du auch den Vater. Unteilbar ist die Liebe».

Ehe ich zum Schluss die gestellte Frage, wie wir als der augustinischen Ordensregel verpflichtete Christen in uns ‹gegenseitig Gott ehren› sollen, zu beantworten versuche, darf ich Sie noch einmal auf den eingangs erwähnten theologischen Rahmen aufmerksam machen, innerhalb dessen unser Ordensvater Augustinus argumentiert. Es gibt für Ordensleute, für Christen in einem Orden, prinzipiell keine andere Theologie und darum auch keine andere Spiritualität als die der Kirche. Allerdings sollen und wollen Ordenschristen diese Theologie und Spiritualität der Kirche zeichenhaft, d.h. in einer intensivierten Weise für die Kirche in der Welt leben. Ausgangs- und Kernpunkt unserer Überlegungen war deshalb die uns durch Christi Heilswerk geschenkte Gotteskindschaft. Sie ist ein Stand, der uns durch die Gnade Christi vermittelt wurde. Augustinus spricht über die christliche Existenz mit Vorliebe vom Gnadenstand, in dem wir Christen trotz des Fortbestandes der Sünde, die uns belastet, leben. Der Begriff Gnadenstand beleuchtet vielleicht aufs Beste, was unter dem Begriff ‹Tempel Gottes› für das Einwohnen Gottes in uns zu verstehen ist. Gott wohnt nicht in seiner Substanz in uns, aber seine Gnade, seine in unsere Herzen ausgegossene Liebe. Sie, die christliche Caritas ist darum die Bedingung und zugleich die Voraussetzung bei der Erfüllung des anspruchsvollen Imperativs: «Ehret in euch gegenseitig Gott!»

Was aber heißt Ehren in unserem Imperativ, wenn nicht gegenseitig auf die Caritas bedacht zu sein? Diese ist jedoch, weil von Gott abzuleiten, primär keineswegs eine Sache des Gefühls, den Launen unterworfenen Emotionen, sondern Wille – Wille zum Guten, Wille zum Wahren und Wille zum Schönen. Inbegriff des Guten, Wahren und Schönen ist nach der Theologie Augustins wieder Gott selbst, in der Trinität die zweite Person, Gottes eingeborener Sohn, Christus. Alles Gute, alles Wahre, alles Schöne in dieser raum-zeitlichen Welt ist lediglich eine ‹Abschattung›, ein ‹Abglanz› davon. Das ‹wichtigste und erste Gebot› (Mt 22,38) hat deshalb die Ehre Gott gegenüber zum Ziel.

Es entging aber Augustinus nicht, dass das zweite, das Gebot der Nächstenliebe an die Selbstliebe gebunden ist: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Mk 12,31; Mt 22,39; Lk 10,27). Was heißt das, wenn nicht, den Nächsten dort haben wollen, wohin man als Christ kommen will: zu Gott? Was heißt das, wenn nicht, ihn daran teilhaben zu lassen, ihn darin zu fördern, was man für sich selbst erstrebt: das Gute, das Wahre und das Schöne? Ich denke, dies ist die ‹gegenseitige Ehre›, die, eingedenk der menschlichen Schwäche und darum mit Hilfe der Gnade grundsätzlich von allen Christen und intensiviert von uns Ordensleuten gefordert wird.

Von Augustinus wird gerne und häufig der Satz zitiert, der sein theologisches Denken und seine Spiritualität bündig zusammenfasst: «dilige, et quod uis fac!» (ep. Io. tr. 7,8). Die gängige Übersetzung: «Liebe, und dann tu, was du willst!» trifft den Sinn des Satzes nicht, denn sie könnte einer sittlichen Libertinage Tür und Tor öffnen. Die korrekte Übersetzung lautet vielmehr: «Liebe, und was du willst (d.h. was du von der christlichen Caritas her motiviert willst), das tu!». Eine solche Weisung liegt auch unserem Satz zugrunde: «Ehret in euch gegenseitig Gott, dessen Tempel ihr geworden seid!»