ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

DER MEISTZITIERTE THEOLOGE DER CHRISTLICHEN KIRCHEN
ZUR ANHALTENDEN AKTUALITÄT DES KIRCHENVATERS AUGUSTINUS

Vortrag von Cornelius Mayer

Am 18.11.2006 veranstaltete die Evangelische Stadtakademie München in der Ludwig-Maximilians-Universität unter dem Titel Augustinus – ein klingendes Mosaik eine theologische und musikalische Einführung in die Kirchenoper Augustinus von Winfried Böhm und Wilfried Hiller. Der Vortrag fand zu diesem Anlass statt. Das Werk wird am Samstag, 25.11.2006 um 19 Uhr in der St. Lukas-Kirche, Marienplatz 3 zum dritten Mal aufgeführt.
Am 13. November 354 erblickte im heutigen Algerien jener Mann das Licht der Welt, der die Geistesgeschichte des christlichen Abendlandes wie kaum ein zweiter geprägt hat: Augustinus. Kardinal Newman nannte ihn «das große Licht der westlichen Welt, der ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit die Intelligenz Europas prägte». Und der evangelische Kirchenhistoriker Adolf von Harnack sagte sogar von ihm: Er «ist der Mann, der überhaupt in der Antike und in der Kirchengeschichte nicht seinesgleichen gehabt hat».
Augustins Stellung in der westlichen Kultur ist in der Tat einmalig: Die Literatur um seine Person und sein Werk wächst Jahr für Jahr immer noch um rund 300 Titel. Diese exzeptionelle Breitenwirkung beruht sicherlich darauf, dass am Gespräch mit ihm und über ihn nicht nur Theologen, sondern auch Philosophen und Gelehrte aus unterschiedlichen Disziplinen wie der Geschichte, der Psychologie, der Linguistik – um nur einige zu nennen – teilnehmen. Mit Recht sah man in Augustinus den letzten antiken und den ersten modernen Menschen, denn in seiner Person hat die Antike die ihr innewohnende Gestaltungskraft noch einmal zusammengefasst. Er wuchs aber über sie hinaus – eben durch seine Bekehrung zum Christentum.
Als eine mit reicher Emotionalität, mit Phantasie und mit praktischem Sinn ausgestattete hochbegabte Person war Augustinus, ehemaliger Lehrer der Grammatik, Professor der Rhetorik, kenntnisreicher und versierter Dialektiker, bereits zu seinen Lebzeiten ein in gebildeten Kreisen viel gelesener und begehrter Autor. Seine 15 Bücher Über den dreieinigen Gott sind wohl das Tiefsinnigste, was je über den Gott der Christenheit geschrieben wurde. 20 Jahre arbeitete er daran. Da die elitäre Leserschaft deren Fertigstellung nicht mehr abwarten wollte, entwendete sie ihm die ersten zwölf, ehe die letzten geschrieben waren.
Sein 22 Bücher umfassendes epochales Werk Über den Gottesstaat nahm Augustinus nach der Besetzung Roms durch die Westgoten im Jahr 410 deshalb in Angriff, weil eine damals noch heidnisch gebliebene Schicht von Gebildeten die Schuld für diese Niederlage dem Christentum anlastete. Dieses ‹opus grande›, wie Augustin es nannte, erschien von 413-427 in Abschnitten. Schon die erste Lieferung beeindruckte die Leser. Kein Geringerer als Macedonius, der damalige Statthalter in Afrika, fragte sich, was er an dem Verfasser dieser Bücher mehr bewundern solle, die Fülle seines historischen Wissens, seine philosophische Bildung oder den Reiz seiner Beredsamkeit.
Das Werkverzeichnis Augustins umfasst rund 130 Titel. Von seinen Briefen – manche umfangreiche Abhandlungen – sind 246 überliefert; ihre Gesamtzahl wird auf das Achtfache geschätzt, die der noch vorhandenen 569 Predigten sogar auf das Zehnfache. Bei der Flut dieses schriftstellerischen Schaffens ist zu bedenken, dass Augustinus als Bischof zugleich Richter seiner Diözese war. In der Regel saß er von Morgen bis Nachmittag zu Gericht, weil die Kaiser den Bischöfen richterliche Funktionen übertragen hatten. Außerdem war Augustin häufig auf Reisen. Gut ein Drittel der Zeit seines 35 Jahre währenden Episkopates verbrachte er außerhalb seiner Diözese. Wohin immer er kam, erwartete man vom ihm, dass er predigte.
Wann, wie und wo schrieb der Vielbeschäftigte und Vielgereiste seine Bücher? Als Bischof besaß er eine geordnete, durch Kataloge gut sortierte und verwaltete Bibliothek mit einem ‹scriptorium›, einer Schreibstube. Dort standen ihm nicht nur seine Mitbrüder in dem von ihm gegründeten Kloster als Stenographen und Kopisten Tag und Nacht zur Verfügung, sondern auch angestellte und bezahlte Kräfte, denen er seine Schriften diktierte. Die Bibliothek war zugleich mit einer Art Druckerei, einer Vervielfältigungsanstalt und einem Verlag verbunden.
Gewiss lagen die wesentlichen Voraussetzungen für den enormen Bekanntheitsgrad Augustins zunächst in der Tiefe seiner Gedanken und im Glanz seiner Sprache, sie lagen aber auch in seinem Organisationstalent. Die Verbreitung seines Schrifttums war ihm ein Anliegen. Von Leuten, die ihn um seine Werke baten, verlangte er, sie sollten Kopisten zum Abschreiben schicken. Mit dem Verleih seiner Codices scheint er großzügig umgegangen zu sein. Er ermunterte die Empfänger, davon weitere Abschriften anfertigen zu lassen. So gab er z.B. einem reichen Nordafrikaner und Taufbewerber namens Firmus konkrete Anweisungen für die Abschrift des schon erwähnten Werkes Über den Gottesstaat; zugleich ermunterte er ihn freilich, das Werk auch zu lesen..
Schon 20 Jahre nach seinem Tod – er starb 430 – begannen Gelehrte sein Schrifttum in Sentenzensammlungen zu verbreiten. Solche Sammlungen waren im Mittelalter gefragte Hilfsmittel des Schulbetriebs. Nahezu alle namhaften Theologen des Mittelalters betrachteten Augustinus als ihren Lehrer und Meister. Dies war erst recht bei den Reformatoren der Fall. Luther, dessen Vorlesungen als Augustinermönch an der Universität Wittenberg von Augustinuszitaten gespickt waren, meinte, Augustinus sei ganz und gar der seine. Bei der Konzeption sowie bei der Verteidigung seiner Gnaden- und Rechtfertigungslehre berief er sich laufend auf Augustinus. Auch Calvin hielt Augustinus für den authentischen Interpreten der Schriften des Apostels Paulus von der Rechtfertigung des Sünders allein aufgrund des Glaubens an den rettenden Gott. Auf katholischer Seite berief sich das Konzil von Trient ebenfalls vorzüglich auf Augustinus. Der christliche Humanismus propagierte in Ablehnung der mittelalterlichen Scholastik die Rückkehr zu den Quellen – nicht nur zur Heiligen Schrift, sondern auch zu den Kirchenvätern, speziell zu Augustinus. Die Philologen der Renaissance haben mit Hilfe der Buchdruckerkunst entscheidend zur Verbreitung der augustinischen Schriften beigetragen. Bereits 1506 – also genau vor 500 Jahren – erschien in Basel die erste Gesamtausgabe.
In den folgenden Jahrhunderten war sowohl die Theologie wie auch die Philosophie weithin vom Gedankengut Augustins geprägt: In dem berühmten Diktum des Philosophen Descartes: «cogito ergo sum – ich denke, folglich bin ich», erkannte man unschwer den schon von Augustin gegangenen Weg der Gewissheit über die eigene Existenz. Und in dem im 17. Jahrhundert durch den Bischof Jansen ausgelösten Gnadenstreit, der die Kirche in Frankreich zu spalten drohte, ging es vorzüglich um die Auslegung der Schriften Augustins. Zur Zeit der Aufklärung haben Theologen der Evangelischen Kirche sich bei der Abwehr liberalistischer Tendenzen nicht nur auf Luther, sondern auch auf Augustin berufen. In der Katholischen Kirche vermochte die dort favorisierte scholastische Theologie ihm nicht den Rang abzulaufen. In den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils zählt der Bischof von Hippo zu den meist zitierten Autoren. Es bleibe in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt, dass die Homepage des Zentrums für Augustinus-Forschung in Würzburg, die über eine Vielzahl augustinischer Themen informiert, zur Zeit täglich weltweit von etwa tausend Besuchern frequentiert wird.
Was fasziniert an Augustinus heute noch? Um Kritisches gleich vorwegzunehmen: nicht alles. Da ist z.B. seine gegenwärtig nicht unangefochtene Moral, speziell auf dem Gebiete der Sexualität. Mit ihr pflegte der Kirchenvater seine Lehre von der Erbsünde zu illustrieren. An der physiologisch bedingten Unbotmäßigkeit der Sexualorgane glaubte er nämlich die Spuren der Adamssünde, mit der jeder und jede geboren werde, erblicken zu dürfen. Er dürfte sich indes kaum geirrt haben, wenn er die Erbsünde als ein Hineingeborenwerden jedes Menschen in eine entfremdete Welt deutete und verdeutlichte. Gewiss, so lehrte er, sei der Mensch der Bibel zufolge die Krone der sichtbaren Schöpfung, er sei aber auch ein ‹Abgrund›, ein ‹grande profundum› (conf. 4,22).
Ich wiederhole: Was fasziniert an Augustinus heute noch? Vieles, wie dies an der erwähnten Flut an Literatur über ihn zu sehen ist! Da ist zunächst seine Hochschätzung der Vernunft. Augustin hatte seit seiner Bekehrung zum Christentum ein enges Verhältnis zum Neuplatonismus, der Philosophie seiner Zeit. Sie lehrte, der Mensch sei dank seiner Ausstattung mit einer geistbegabten Seele ein Mikrokosmos. In der gestuften Ordnung alles Seienden nehme er die Mitte ein. Mit seinem Leib gehöre er zu den unteren Schichten des Universums, mit seiner Geistseele jedoch zu den oberen. Dank seiner Vernunft sei er in der Lage, die einzelnen Schichten alles Seienden wahrzunehmen und auf ihre Spitze hin ordnen. Diese Spitze nannten die Neuplatoniker schlicht ‹das Eine - ἕν› und sie lehrten: Wie in der Arithmetik alle Zahlen von der Zahl Eins ausgehen, auf die sie auch zurückzuführen sind, so verhalte es sich mit allem Seienden. – Es war natürlich für philosophisch gebildete Christen ein Leichtes, dieses ‹Eine› mit dem Schöpfergott der Bibel zu identifizieren.
In der bald nach seiner Bekehrung abgefassten Schrift Soliloquia – Selbstgespräche schrieb Augustin den programmatischen Satz nieder, er wolle nichts anderes erkennen als Gott und die Seele (1,7). Für dieses Ziel gab es seiner Ansicht nach zwei Wege, den der Vernunft und den der Autorität aufgrund des Glaubens an die göttliche Offenbarung. Setzte er die Akzente in bezug auf dieses Erkenntnisprogramm zum Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn noch auf die Vernunft, so verlagerte er sie später auf die Autorität. Er blieb jedoch zuinnerst davon überzeugt, dass es zwischen den vom Glauben vermittelten Erkenntnissen zur Vernunft keine Widersprüche geben dürfe.
Durch sein Festhalten an der prinzipiellen Intelligibilität des offenbarten Glaubens unterschied sich der Kirchenvater von manch anderem Schriftsteller in der christlichen Antike, die – um nur Tertullian zu nennen – ein Heranziehen der Vernunft zum Besseren Verständnis des offenbarten Glaubens ablehnten und polemisch fragten, was denn Jerusalem mit Athen und die Kirche mit der Akademie (der Philosophen) zu tun habe (praescr. 7). Weil jedoch für Augustinus Christus als das Mensch gewordene Wort des dreieinigen Gottes der Inbegriff alles Wahren und Vernünftigen war, zog er das Wissen seiner Zeit zum besseren Verständnis der Bibel heran. Augustinus blieb also ein christlicher Intellektueller in dem Sinn, dass er die Glaubensinhalte stets auch mit Hilfe der Vernunft zu reflektieren trachtete und solches in der Kirche zu tun, den dazu Befähigten aufs Wärmste empfahl: «Intellectum uero ualde ama – Liebe die Vernunft sehr!» (ep. 120,13) lautete seine Devise.
Lassen Sie mich das Gesagte nicht zuletzt im Hinblick auf den gegenwärtigen Streit um die Evolutionstheorie und die Schöpfungslehre in aller Kürze illustrieren. Wir kennen den ersten Satz der Bibel aus Genesis 1,1: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde». Weil aber die Bibel unmittelbar mit der Schilderung des Sechstagewerkes der Schöpfung fortfährt, halten wir uns bei diesem Vers, den wir als eine Art Überschrift betrachten, kaum auf. Nicht so Augustinus. Wiederholt setzte er sich damit auseinander, um dessen Gehalt auch intellektuell zu erschließen. Indem Gott sprach: Es werde ...! – so lautete das Resümee seiner Überlegungen – sei sozusagen im Augenblick schon alles, eben «Himmel und Erde» erschaffen gewesen. Ja, in der Bibel selbst konnte er lesen: «Der in Ewigkeit lebt, schuf alles auf einmal – simul» (Jesus Sirach 18,1). Daher das Fachwort: Simultanschöpfung.
Bei seinen Darlegungen zu dieser Simultanschöpfung griff Augustin auf ein theoretisches Konzept der griechischen Philosophie zurück, wonach der Kosmos sich dank eines ihm vor- bzw. eingegebenen Programms der in ihm wirkenden, und der ihn gestaltenden Ursachen und Kräften, der sogenannten ‹rationes causales› bzw. ‹seminales› entwickle. Mit dieser seiner hier nur knapp wiedergegebenen Auslegung wollte Augustin die Schöpfung als Werk Gottes auch für Intellektuelle plausibel machen. Die Bibel freilich – davon war er überzeugt – wollte in ihrer weisen Pädagogik mit ihrer historisierend erzählenden Darstellung der Schöpfung in sechs Tagen der Fassungskraft auch weniger Begabter Rechnung tragen.
Was also Augustins theologisches Denken kennzeichnet und zugleich auszeichnet – dies dürfte unschwer zu sehen sein –, war sein Bestreben, die Wahrheiten des christlichen Glaubens für den Diskurs auch mit Gebildeten – Christen wie Nicht-Christen – offen und aufrecht zu erhalten. Wohl aus diesem Grunde erörterte er so intensiv und extensiv auch das Wesen des Gedächtnisses, als den eigentlichen Ort der auf die Gotteserkenntnis abzielenden Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung in seinen Bekenntnissen; aus gleichem Grunde erklärte und erläuterte er nicht weniger intensiv und extensiv das Wesen der Zeit im Kontext der Ewigkeit Gottes (ebd.) und vieles andere, wonach zu fragen wissenshungrige Menschen hier auf Erden nicht müde werden.
Augustinus war zwar Theologe von Rang, aber kein Fachvertreter, kein Dogmatiker, kein Exeget, kein Kirchenrechtler etc. Er schrieb, um bei der Dogmatik zu bleiben, keinen Traktat über Gott und über dessen Schöpfung, keine Christologie und Ekklesiologie, keine Sakramenten- und Gnadenlehre und dennoch wusste er zu all diesen Fächern Substantielles, ja Wegweisendes zu sagen. Die anhaltende Aktualität seines Denkens ließe sich an jedem der genannten Fächer aufzeigen. Ich beschränke mich im Hinblick auf die Ökumene der beiden großen Kirchen hierzulande auf den Themenbereich Gnade und Rechtfertigung.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Philosophie der Neuplatoniker. Sie lehrten, die Entfremdung des Menschen gründe in der Abwendung von dem ‹Einen› und der Hinwendung zu den niederen Schichten des Kosmos. Wissen also, und zwar philosophisches, tue Not – Aufklärung im sokratischen Sinn. Erfolgreich sei diese dann, wenn es ihr gelingt, dass der Mensch sich von außen nach innen wendet. In einer der Frühschriften Augustins stößt man auf den ganz und gar neuplatonisch klingenden Satz, der übrigens auch in das Libretto der Augustinus-Oper aufgenommen wurde: Gehe nicht nach außen; in dich selbst kehre zurück. Im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur als wandelbar empfindest, so überschreite dich selbst (uera rel. 72). In der Kehre also von Außen nach Innen und von Innen nach Oben wies die Philosophie der Neuplatoniker den Weg zum Heil.
Die Schriften des Neuen Testamentes weisen indes einen anderen Heilsweg, den der Gnade. Die Entfremdung gründet der Bibel zufolge nicht im Mangel an Einsicht, sondern in der Sünde, dem Inbegriff der Gottferne. Aufgehoben wird diese Gottferne durch das Erlösungswerk Jesu Christi. Der Kern der frühkirchlichen Predigt lautete nicht, der gekreuzigte Jesus lebt, sondern der ‹für uns› gekreuzigte Jesus lebt. Als der verherrlichte Erlöser schenkt er allen, die an ihn glauben, Anteil an seinem neuen Leben. Gnade im Sinne der neutestamentlichen Verkündigung ist darum immer die Gnade Christi.
Nun wird man zugeben, dass nach dem Neuen Testament insgesamt, speziell nach den Evangelien auch sittliche Weisungen Jesu für die Lebensgestaltung der Christen eine wichtige Rolle spielten. Schon in der nachapostolischen Zeit schienen diese Weisungen innerhalb der Christenheit eine zunehmend dominierende Bedeutung gewonnen zu haben. Auch Augustinus sympathisierte noch vor seiner Bekehrung mit einem Christentum, das den Kern des Evangeliums vorzüglich in der Lehre Jesu und nicht in dessen Erlösungswerk erblickte.
Ich kann hier auf die Entwicklung der Gnaden- und Rechtfertigungslehre Augustins im einzelnen nicht eingehen. Folgendes bleibe jedoch nicht unerwähnt: Etwa zehn Jahre nach seiner Bekehrung erhielt er bereits als Bischof ein Schreiben von Simplician, seinem bischöflichen Kollegen aus Mailand. Dieser legte ihm die heikle Frage vor, welche Rolle denn der Gnade und welche der Willensfreiheit bei der Bekehrung eines Menschen zukomme. Augustinus vertiefte sich daraufhin erneut in die Briefe des Apostels Paulus. Bei der Lösung dieser Frage Simplicians, so notierte er später, habe er zwar eine Menge zugunsten auch des freien Willens vorgebracht, die Gnade Gottes habe jedoch gegenüber dem Wollen des Menschen gesiegt (retr. 2,1).
Um die dominierende Bedeutung der Gnade für das Verständnis christlicher Existenz zu illustrieren, schrieb Augustinus seine Bekenntnisse. Sie sollten die Leser daran erinnern, was offenbar allmählich bereits in Vergessenheit geraten zu sein schien, dass das Wort von der Gnade und von der Rechtfertigung des Sünders das Herzstück des Evangeliums sei. Zu den Höhepunkten der Bekenntnisse, die neben den Großtaten Gottes in der Schöpfung allem voran Gottes Erbarmen und darin die Macht seiner Gnade rühmen, zählt zweifelsohne die Bekehrung ihres Autors im 8. Buch. Sie ist literarisch betrachtet buchstäblich inszeniert, das will sagen, in Szene gesetzt. Augustin schildert sie mit großem sprachlichen Können.
Ihre Dramaturgie beginnt bereits mit der Ankunft des jungen Professors der Rhetorik in Mailand und sie hat gleich mehrere, eigentlich schon von der Gnade herbeigeführte Vorgeschichten: Im Einzelnen sind dies: die Begegnung mit dem Bischof Ambrosius, das Kennen lernen der neuplatonischen Philosophie, die Lektüre der Paulusbriefe, die Erzählungen des Simplician über einige an Wunder grenzende Bekehrungsgeschichten bekannter Persönlichkeiten. Dann erst folgt als Höhepunkt die Aufforderung an Augustinus durch die wiederholte Stimme eines Kindes: Nimm und lies!
Die Szenerie ist durchsichtig: Nicht der Mensch Augustinus, sondern Gottes Gnade verwandelte dessen alten, fleischlichen Willen zu einem neuen geistigen. Gottes Gnade bewirkt dies aber nicht, indem sie den freien Willen des Menschen vergewaltigt, sondern indem sie die Ketten, die den Willen niederhalten, allmählich, gelegentlich auch plötzlich, lockert. Wie Gott dies herbeiführt und aufrecht erhält, dies ist das erregende Thema dieser epochalen Schrift.
In den Bekenntnissen kommt des öfteren der Satz vor, der die augustinische Gnaden- und Rechtfertigungslehre gleichsam auf den Punkt bringt: Gib, was du befiehlst, und (dann) befehle, was du willst (conf. 10,40.45.60). Es gehört zur Tragik dieser von Christen nach dem Neuen Testament vielleicht meistgelesenen Schrift, dass gerade sie bzw. der zitierte Satz jenen Streit unter den gebildeten Christen auslöste, der eigentlich bis zur Gegenwart nicht zur Ruhe kam. Als nämlich Pelagius, ein britischer Wandermönch und Zeitgenosse Augustins, dessen Bekenntnisse las, nahm er an dem zitierten Satz Anstoß. Er löste daraufhin eine Bewegung innerhalb der Kirche aus, die den Akzent bei der Verkündigung des Evangeliums entschieden auf das sittliche Tun und Lassen legte und die eigentlichen Glaubenswahrheiten, die sich insbesondere in den Feiern der Mysterien der Taufe und der Eucharistie artikulieren, ihrer Heilsbedeutung entleerte. Augustinus erkannte, dass mit dieser die Gnade gegenüber dem sittlichen Handeln hintansetzenden Lehre der Pelagianer, so hießen die Anhänger der Bewegung, die Substanz des Evangeliums auf dem Spiel stand. Sein ganzes theologisches und literarisches Können bot er auf, um diese Art der Verkündigung in die Schranken zu weisen.
Nun ist es im Hinblick auf die Geschichte der Theologie interessant zu wissen, dass ein Hintansetzen der Gnade gegenüber anderen Inhalten des Evangeliums sich in den Kirchen des öfteren wiederholt hat. Ich erinnere neben dem theologischen Anliegen Martin Luthers im 16. Jahrhundert an das gleiche Anliegen Karl Barths zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Und erst im Jahr 1990 erschien eine von Philosophen Kurt Flasch kommentierte Übersetzung der bereits erwähnten Schrift Augustins An Simplicianus unter dem Titel Logik des Schreckens. Der frühe Augustinus, so ist darin zu lesen, habe in Fehldeutung der Paulusbriefe sich zum Klassiker der religiösen Intoleranz und zu einem Denker tiefsinniger Schroffheiten verwandelt. Nun wäre zu fragen: Haben Martin Luther und Karl Barth diese Fehldeutungen der Paulusbriefe durch Augustinus nicht gesehen?
Kenner der Geschichte der Kirchen machen darauf aufmerksam, dass, wo immer das Thema der Gnade nicht mehr gebührend zur Sprache komme, die Theologie verkümmere: die Christologie degeneriert zur Jesuologie – Jesus ist dann nicht mehr der ‹Herr›, nicht mehr der ‹Retter›, nicht mehr der ‹Erlöser›, sondern lediglich unser Bruder; die Lehre von Gott dem Dreieinen mutiert dann zur überflüssigen Spekulation; in der Lehre von der Kirche, verschwindet die im Neuen Testament so beliebte und von Augustinus bevorzugte Identifikation der Christen mit dem ‹Leib Christi›.
Nun lehrt die Geschichte der Kirchen allerdings auch, dass solche Degenerationsphänomene in der Theologie stets überwunden zu werden pflegten durch Besinnung auf die Bedeutung der Gnaden- und Rechtfertigungslehre. Dabei spielte und spielt immer noch jeweils im Sinne eines Paradigmenwechsels eine erneute Vertiefung in die Lektüre der Briefe des Apostels Paulus sowie in die Schriften des Augustinus eine wichtige Rolle.
Es sei zum Schluss rühmend erwähnt, dass die Augustinus-Oper die Macht der Gnade ebenfalls gebührend zur Sprache und zum Klingen bringt. In der Werkeinführung steht zum 5. Bild zu lesen, zwischen Adeodatus, dem Sohn Augustins sowie seiner Konkubine Stelle und den Philosophen entspinne sich ein höchst tiefsinniger Dialog darüber, was der Mensch denn zu seinem Glück zu tun vermöge. Am Ende laute die Botschaft des Adeodatus, die vom Chor gleich (mehrfach) wiederholt wird:.«Wir vermögen nichts aus uns selbst. ‹Wisse, o Mensch, und sei eingedenk: Alles ist Gnade, alles Geschenk›». Die Stimme eines Philosophen rezitiert dann jenen Textabschnitt aus dem 1. Korintherbrief des Apostels Paulus, den auch Augustinus in seinen Gnadenschriften zu wiederholen nicht müde wurde. Ich zitiere nach dem Libretto: «Was hat der Mensch, das er nicht empfangen hat? Und warum rühmt er sich, als hätte er es nicht empfangen?»
Anstelle einer Zusammenfassung zwei Bemerkungen: 1. Die Kirchenoper in 7 Bildern über Augustinus von Wilfried Hiller und Winfried Böhm dürfte selbst aufs Beste die anhaltende Aktualität Augustins dokumentieren. 2. Die Kirchenoper, die sich sehen und hören lassen kann, ist eine Hommage an den Mann, wie Eingangs zitiert, «in der Antike und in der Kirche nicht seinesgleichen gehabt hat».

REDE ZUR PRÄSENTATION DER FESTSCHRIFT FÜR
P. DR. THOMAS GERHARD RING OSA

am 24. September 2006

Cornelius Petrus Mayer OSA

Als ausgewiesenem Kenner der Gnadenschriften des Kirchenvaters Augustinus wurde P. Dr. Thomas Gerhard Ring OSA am 24. September 2006 im Rahmen einer Feier des Konventes St. Augustin zu Würzburg eine Festschrift überreicht.

Die herkömmliche Dogmatik teilt ihren Stoff in sieben oder acht Traktate auf. Der sechste über die Gnadenlehre sei das Herzstück der christlichen Theologie – dies unterstrich in seinen Vorlesungen der ehemalige Dogmatiker hier in Würzburg, Fritz Hofmann seligen Andenkens.

Die Antwort auf die Frage, weshalb der Gnadenlehre diese Bedeutung zukomme, lautet schlicht und einfach, weil das Evangelium des Neuen Testamentes in der Verkündigung des Erlösungswerkes Christi gipfelt und Christi Erlösungswerk die Gnade schlechthin ist. Der Kern der frühkirchlichen Predigt und der Katechese lautete nicht, der gekreuzigte Jesus lebt, sondern der ‹für uns gekreuzigte Jesus lebt› – als der verherrlichte Erlöser schenkt er allen, die an ihn glauben, Anteil an seinem neuen Leben. Gnade im Sinne der Theologie ist darum immer Gnade Christi.

Verständlicher Weise setzt die christologisch-theologische Reflexion der neutestamentlichen Schriften hierin an: Denn wer kann von sich sagen bzw. von wem kann man sagen, er sei der Erlöser in jenem umfassenden Sinn der kirchlichen Verkündigung?

In den alttestamentlichen Schriften war der Titel ‹Erlöser› streng genommen Gott allein vorbehalten. Wenn also Jesus von Nazareth nach biblischem Verständnis ‹Erlöser› ist, dann kommt ihm auch der Messias-Titel Christus in einem neuen, von Gott her bzw. auf Gott hin zu reflektierenden Sinn zu. Die Soteriologie, die Lehre von der Erlösung, ist also das Fundament der Christologie, der Lehre von Christus, und diese wieder weist den Weg in die Trinitätslehre mit dem Bekenntnis des einen Gottes in drei Personen.

Nun wird man zugeben, dass in den Evangelien wie in der Bibel insgesamt auch sittliche Weisungen für die Lebensgestaltung des Menschen keine geringe Rolle spielen. In der nachapostolischen Zeit schienen diese Weisungen innerhalb des Christentums allmählich eine dominierende Bedeutung in der Predigt und Katechese gewonnen zu haben. Ja, zur Zeit des hl. Augustinus gab es Bewegungen innerhalb der Kirche, die den Akzent bei der Verkündigung und in der Pastoral auf das sittliche Tun und Lassen der Christen legten und die eigentlichen Heilswahrheiten, die sich insbesondere in den Feiern der Mysterien der Taufe und der Eucharistie artikulieren, ihrer Heilsbedeutung entleerten. Sie lehrten, das Heil des Menschen hänge vorzüglich, wenn nicht ausschließlich von seinem Handeln ab. Augustinus erkannte, dass mit dieser Lehre die Substanz des Evangeliums auf dem Spiel stand. Sein ganzes theologisches wie literarisches Können bot er auf, um diese Art der Verkündigung in die Schranken zu weisen.

Es zählt gewiss mit zu den rühmenswerten Leistungen der Deutschen Augustinerordensprovinz, dass sie Mitte der 50er Jahre im Augustinus-Verlag die Reihe Sankt Augustinus * Der Lehrer der Gnade. Gesamtausgabe seiner antipelagianischen Schriften startete. Mit der Übersetzung und Kommentierung der Schriften des Kirchenvaters hat sie nicht nur die Augustinus-Forschung bereichert, sie hat auch der wissenschaftlichen Theologie hierzulande einen unschätzbaren Dienst erwiesen.

Die Meriten des P. Dr. theol. Thomas Gerhard Ring erschöpfen sich zweifelsohne nicht in der wissenschaftlichen Theologie, aber mit einer Festschrift geehrt wird er ausschließlich im Hinblick auf sie. Ich wage zu behaupten, hätte die Provinzleitung ihm ein zusätzliches Studium der klassischen Philologie ermöglicht, wäre er ein glänzender Vertreter jener Fächer geworden. Indes, er durfte promovieren. Auctoritas bei Augustinus, lautete das Thema seiner Dissertation, mit dem ihm jedoch jemand zuvorkam. So begrenzte er sein Thema auf Auctoritas bei Tertullian, Cyprian und Ambrosius. Trotz dieses Missgeschicks wurde er ein ausgewiesener Kenner der Theologie Augustins.

Im Jahr 1981 wandte er sich als Mitglied des Augustinus-Institutes der Übersetzung und Kommentierung der Gnadenschriften Augustins zu. Rasch entdeckte er die Defizite der bereits erwähnten Reihe. Denn Augustinus beschäftigte sich mit der Gnade nicht erst in seinen gegen die Pelagianer gerichteten späteren Schriften. Schon als Priester legte er einige Briefe des Apostels Paulus aus und dabei konnte ihm die Bedeutung der Gnade im paulinischen Schrifttum nicht entgehen.

P. Gerhard hat erkannt, dass die von unserer Ordensprovinz geplante Edition der Gnadenschriften Augustins ohne die Miteinbeziehung dessen früher Paulus-Kommentare historisch betrachtet ein Torso bleiben musste, weil diese erst genügend Licht nicht nur auf das Werden, sondern auch auf die Eigenart der augustinischen Gnadenlehre werfen. Mit einem Eifer sondergleichen ergänzte er die noch unabgeschlossene Reihe durch drei weitere Bände, die er mit dem Titel versah: Schriften über die Gnade: Prolegomena I-III, darunter sein 1991 erschienenes magistrales Werk An Simplicanus zwei Bücher über verschiedene Fragen. Speziell mit diesem Band, der von Augustin selbst als Meilenstein für die Entwicklung seiner Gnadenlehre eingeschätzten Schrift, hat Thomas Gerhard Ring sich in der Fachwelt einen Namen gemacht.

Allein schon dessen Umfang – rund 400 Seiten – übertrifft m. W. alle bisher vorliegenden Übersetzungen und Auslegungen in moderne Sprachen. Der Übersetzung geht eine Einleitung von rund 30 Seiten voraus, die sowohl über den Anlass zur Abfassung wie auch über die Bedeutung dieser Schrift im Gesamtwerk des Kirchenvaters gründlich informiert. Die Erläuterungen dazu – sie umfassen 200 Seiten – lassen kaum einen Aspekt der von Augustin darin zur Sprache gebrachten Probleme außer Acht. Im Hinblick auf die wichtigen hermeneutischen Aspekte des Werkes sind die angehängten Verzeichnisse, allem voran das der Bibelzitate, aber auch die der Personen sowie der Sach- bzw. Stichwörter hilf- und aufschlussreich.

Ich erwähne die Details dieser Veröffentlichung deshalb, weil P. Gerhard wie schon bei der erwähnten Promotion wieder jemand zuvorkam. Im Jahr 1990, also ein Jahr zuvor, erschien in Mainz die von dem Mediävisten und Philosophen Kurt Flasch edierte gleiche Augustinus-Schrift unter dem Titel Logik des Schreckens. Dieser Text, so der Umschlag, markiere eine epochale Wende in der Geschichte des Denkens, der Politik und der Kultur. Augustins Gnadenbegriff erwecke beim Leser ganz andere Gefühle als jene, welche die Bibel vermittle. Die Schrift an Simplician, so Flasch, sei in Wirklichkeit das Dokument eines welthistorischen Zusammenbruchs; Augustinus habe sich zum Klassiker der religiösen Intoleranz, zu einem Denker tiefsinniger Schroffheiten verwandelt, der bereits als solcher im Voraus die Geschichte des Terrors in Europa illustrierte. Flasch äußert den Verdacht, die Theologen hierzulande hätten aus Kenntnis des Monströsen dieser Schrift ihrem Leserkreis sowohl deren Übersetzung wie auch deren Kommentierung interessegelenkt vorenthalten.

Man wird es Thomas Gerhard Ring nicht hoch genug anrechnen können, 1. dass er diese Meinung nicht teilte, sondern ganz im Gegenteil, die singuläre Bedeutung der Schrift An Simplician nicht allein für die Gnadenlehre, sondern für die Theologie Augustins insgesamt erkennend, der theologisch interessierten deutschsprachigen Leserschaft schon seit Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zugänglich zu machen beabsichtigte. Danken wird man ihm sodann müssen, 2. dass er die Mühe auf sich nahm, diese Publikation Flaschs, die seiner eigenen um ein Jahr zuvorkam, in der Zeitschrift Augustiniana 44 (1994) 31-113 unter dem Titel Bruch oder Entwicklung im Gnadenbegriff Augustins? Kritische Anmerkungen zu K. Flasch, Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397 auf 83 Seiten einer ebenso umfassenden wie gründlichen Rezension zu unterziehen.

Der in der Fachwelt hochgeschätzte Augustinuskenner Goulven Madec wünschte sich am Ende seiner vier Seiten umfassenden Rezension in der Revue des études augustiniennes von 1991 jene profunde Kritik an diesem Augustin malträtierenden Opus, die es verdient, denn so fügte er hinzu: «K. F. est un redoutable argumentateur – K. F. ist ein bestrickend gefährlich argumentierender Autor». T. G. Ring hat diese Kritik besorgt und am Flaschschen Kommentar zahlreiche Ungereimtheiten und tendenziöse Desinformationen entlarvt.

Ich wurde gebeten, mich kurz zu fassen, deshalb kann ich auf diese Widerlegung im einzelnen nicht mehr eingehen. In gebotener Kürze habe ich sie in der P. Gerhard gewidmeten Festschrift dargestellt. Zusammen mit dem Kommentar zu Ad Simplicianum vermitteln diese seine kritischen Anmerkungen nicht nur den besten Einblick in den souveränen Kenntnisstand des augustinischen Œuvres des Jubilars, sondern auch in dessen gekonnt vornehme Art und Weise mustergültiger Auseinandersetzung in der streng wissenschaftlich arbeitenden Theologie.

Ich sagte zum Beginn meiner Laudatio, die Gnadenlehre sei das Herzstück der christlichen Theologie. Augustinus gilt zweifelsohne als ihr größter Herold nach Paulus. Kenner der Dogmengeschichte machen darauf aufmerksam, dass das Thema Gnade in der kirchlichen Verkündigung und Pastoral von Zeit zu Zeit nicht mehr gebührend zur Sprache kommt. Mit diesem ihrem Verstummen verkümmert als charakteristische Folgeerscheinung die Theologie insgesamt: die Christologie degeneriert zur Jesuologie – Jesus ist dann nicht mehr der κύριος und der σωτήρ, sondern lediglich unser Bruder –, die Trinitätslehre mutiert zur im Prinzip nutzlosen und darum überflüssigen Spekulation, in der Ekklesiologie verschwindet die im Neuen Testament so beliebte Vorstellung von der Kirche als ‹Leib Christi› usw. usf.

Kenner der Dogmengeschichte machen aber auch darauf aufmerksam, dass solche Degenerationsphänomene in der Theologie stets überwunden zu werden pflegen durch Besinnung auf die Bedeutung der Gnadenlehre. Dabei spielte und spielt immer noch jeweils im Sinne eines Paradigmenwechsels eine erneute Vertiefung in die Lektüre der Briefe des Apostels Paulus – speziell in seinen Römerbrief – sowie in die Lektüre der Schriften des hl. Augustinus – speziell in seine Gnadenschriften – eine wichtige Rolle.

Wenn ich recht sehe, erleben wir zur Zeit einen solchen Wechsel. P. Gerhard dürfte dazu das Seine beigetragen haben. Dafür sei ihm durch die Widmung einer Festschrift zu seinem 70. Geburtstag aufs Herzlichste gedankt.

Von Cornelius Petrus Mayer OSA

Die in Würzburg erscheinende Zeitung Die Tagespost veröffentlichte in ihrer Nr. 105 vom 2. 9. 2006, S. 23, anlässlich des Papstbesuchs vom 9.-14. 9. 2006 unter der Überschrift «Ein roter Faden durch die Schriften. Die Themen des Kirchenvaters Augustinus prägen seit mehr als fünfzig Jahren die Publikationen des Theologen Josef Ratzinger» folgenden Beitrag:

Die Laufbahn eines Wissenschaftlers beginnt in der Regel mit der Dissertation. Sie gleicht der ersten Liebe und prägt das Leben eines Gelehrten aufs Nachhaltigste. In den lesenswerten «Erinnerungen (1927-1977). Aus meinem Leben» erzählt Josef Ratzinger schon als Kardinal, wie es zur Themenwahl seiner Doktorarbeit kam. Unter seinen akademischen Lehrern rühmt er den von ihm mit Vorliebe ‹Meister› genannten Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen. Kennzeichnend sei für diesen gewesen, dass er von den großen philosophischen und theologischen Quellen her dachte. Besonders beeindruckt habe ihn dessen Leidenschaft für die Wahrheit und die Entschiedenheit des Fragens nach dem Grund und dem Ziel des Wirklichen.

Im Sommer 1950 sei in der theologischen Fakultät in München Söhngen an der Reihe gewesen, die alljährliche Preisaufgabe zu stellen, die dem Gewinner zugleich das Prädikat summa cum laude für eine Promotionsarbeit sicherte. Söhngen überredete Ratzinger, der sich in die Pflicht genommen fühlte, denn um diese Zeit las er eifrig die Schriften der Kirchenväter und er hatte gerade auch ein Augustinus-Seminar seines Meisters besucht. Das gestellte Thema lautete: «Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche». Das Ja zu dieser Themenwahl zählt zweifelsohne mit zu den Sternstunden im Leben Benedikts XVI., dessen Bearbeitung stellte nämlich die Laufbahn seines Lebens auf ein Gleis, das vom Denken des Kirchenvaters Augustinus geprägt, mit der Lehre über die Kirche zugleich auch die Liebe zur Kirche zum Ziel hatte.

Freilich gibt es schon in den geistigen Anlagen überraschend viel Gemeinsames zwischen Benedikt XVI. und Augustinus. Jener weiß zu berichten, dass ihm das Lernen leicht fiel (Erinnerungen, 28), dieser dass ihm rasche Auffassungsgabe und scharfer Verstand zu eigen war (Bekenntnisse 4,30). Jener erhoffte sich bereits vom Universitätsstudium, aufgrund des erworbenen Wissens möglichst intensiv und extensiv «in die geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart eindringen» zu können (Erinnerungen 52), dieser gilt als größter Apologet der Kirche, weil er seit seiner Bekehrung zum Christentum die Lehre der Kirche mit der ihm eigenen Leidenschaft verteidigte. Der christliche Glaube schließt nach jenem Rationalität und Intelligibilität nicht aus, dieser erteilte einem über das Mysterium der Trinität nachdenkenden Zeitgenossen den Rat, er möge dabei den Intellekt nicht gering schätzen: «intellectum vero valde ama» (Briefe 120,13).

Die Liste solcher strukturellen Parallelen ließe sich leicht erweitern. Es sei lediglich noch auf die außergewöhnliche Sprachkompetenz sowie auf das reiche literarische Œuvre beider hingewiesen. Augustinus war von Beruf Professor der Grammatik und der Rhetorik. In seinem Werk «Über die christliche Wissenschaft» 4,27 verlangt er vom vollendeten Redner, dieser möge bei seinen Reden allem voran auf das Lehren der Wahrheit bedacht sein (docere), sodann auf das Bewegen zum Tun des Guten (movere) und schließlich (wem dies gegeben ist) auf das Ergötzen durch wohlformulierte Sätze (delectare). Josef Ratzinger beherrscht diese Bedingungen guter Rhetorik meisterhaft. Die Liste seiner Publikationen umfasst über 600 Titel, wobei die zahlreichen Texte von Gremien, Kommissionen und Dokumenten, an denen er maßgebend und wahrscheinlich auch federführend mitgewirkt hat, in diese Liste nicht aufgenommen sind. Von Augustinus sind uns rund 100 Werke (manche voluminöse) überliefert – von den Predigten (immerhin 500 überlieferte) fehlt das Neunfache von den Briefen (immerhin 246 überlieferte) fehlt das Achtfache.

Augustinische Themen durchziehen das Schrifttum Ratzingers wie ein roter Faden. Zu seiner Enzyklika «Gott ist die Liebe» bemerkt Karl Kardinal Lehmann, sie schöpfe aus der Fülle des christlichen Glaubens. «In den 36 Anmerkungen werden die Kirchenväter aus Ost und West, die Päpste des letzten Jahrhunderts, das Zweite Vatikanische Konzil und vor allem die Bibel in beiden Testamenten gehörig zu Wort gebracht. ... Natürlich hat der hl. Augustinus bei dem Papst, der schon vor fast 55 Jahren seine Doktorarbeit über ihn gemacht hat, und den er seither ständig begleitet, einen hohen Rang» (Herder-Ausgabe 2006, 137).

Gewiss nimmt die Gnadenlehre in Augustins Schrifttum einen breiten Raum ein, dennoch kulminiert dessen Theologie in der Lehre von der Kirche. Die Kirche ist sozusagen die Plattform, von der aus Augustinus die Themen des christlichen Glaubens in den Blick nimmt. Aus diesem Grunde wurden schon dem Theologiestudenten Ratzinger die Bücher des Franzosen Henry de Lubac «Der Katholizismus» und die «Betrachtungen über die Kirche» zur Schlüssellektüre, weil sie es ihm ermöglichten, aus ihrem Horizont heraus in das Gespräch mit Augustinus einzutreten. Zum Bund der favorisierten Theologen zählten weiter Hans Urs von Balthasar und Yves Congar – alle ausgewiesene Kenner der Werke des Kirchenvaters.

Obgleich es bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfangreiche Monographien zum vielerörterten Thema über den Kirchenbegriff bei Augustinus gab, so gelang es doch dem jungen Theologen Ratzinger, mit seiner Dissertation neue Gesichtspunkte und Ergebnisse vorzulegen. Haus Gottes ist nicht der Tempel, sondern die Gemeinde, Gottes Volk, die Kirche. Und diese heißt bei Augustinus im Anschluss an den Apostel Paulus mit Vorliebe «Leib Christi», der sich vorzüglich in der kultischen Feier der Eucharistie als gelebte «caritas» und verwirklichte «unitas» darstellt. Der Kirchenvater sprach gerne im Hinblick auf die Kirche als Leib des Hauptes Christus vom «ganzen Christus- totus Christus». Haupt und Leib bilden den einen Christus, der sich selbst liebt: «unus Christus amans seipsum» (Kommentar zum Ersten Johannesbrief 10,3). Mit dieser von Rezensenten durchwegs als hervorragende Leistung bewerteten Dissertation hat Josef Ratzinger die Grundlagen für seine Kompetenz als Peritus, als Konzilstheologe und Berater von Kardinal Frings, während des Zweiten Vatikanums, dessen Hauptthema die Kirche sein sollte, gelegt.

Nachdem ihm dann 1977 die Leitung der Erzdiözese München-Freising anvertraut wurde, begründete er die Wahl seines Leitspruches «Mitarbeit der Wahrheit» erneut und sicher auch bewusst mit diesem augustinischen Programm: Der Glaube müsse allzeit der Frage nach dessen Wahrheitsgehalt standhalten. Mit Verve verteidigte er als Präfekt der Glaubenskongregation die 1998 veröffentlichte Enzyklika «Fides et ratio». Das Kernproblem, um das es dieser Enzyklika gehe – so der Kardinal –, sei die Frage nach der Wahrheit. Trotz des gegenwärtig vorherrschenden Zweifels an der Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Wahrheit erkennen zu können, dürfe der offenbarte Glaube vor dem Anspruch auf Rationalität und Intelligibilität nicht kapitulieren. Der Wahrheitsanspruch des Glaubens besitzt natürlich wie die zu verkündigende und verkündigte Liebe eine metaphysische, eine auf Dauer angelegte Dimension. In seinen Bekenntnissen hat Augustinus diesen Dreiklang von Wahrheit, Liebe und Ewigkeit mit den ihm eigenen Glanz und Prägnanz so zum Ausdruck gebracht: «O aeterna veritas et vera caritas et cara aeternitas! – O ewige Wahrheit und wahre Liebe und geliebte Ewigkeit!» (7,16). Mit diesen drei begrifflichen Größen hat es das Christentum zu tun.

Das bischöfliche Wappen Benedikts XVI. schmücken eine Muschel und ein Bär. Die Wahl dieser Symbole hat abermals viel mit dem Kirchenvater Augustinus zu tun. Die Muschel erinnere ihn an die Legende vom spielenden Knaben, der das Meer in eine Grube zu schöpfen versuchte. Es sei ein Hinweis auf seinen «großen Meister Augustinus» und zugleich Hinweis auf seine eigene theologische Arbeit, «Hinweis auf die Größe des Geheimnisses, das weiter reicht als all unsere Wissenschaft». Ebenso erinnere ihn das Symbol des Bären an eine Meditation Augustins zum Psalm 72 (73), 23. Der Vers lautet: «Wie ein Lasttier bin ich vor dir. Dennoch bin ich stets bei dir». Darin erblicke Augustinus ein Bild seiner selbst unter der Last des bischöflichen Amtes. Dazu der schon in Rom in der Glaubenskongregation waltende Kardinal: «Er (Augustinus) hatte das Leben eines Gelehrten gewählt und war von Gott zum Zugtier bestimmt worden – zum braven Ochsen, der den Karren Gottes in dieser Welt zieht. Wie oft hat er aufbegehrt gegen all den Kleinkram, der ihm auf diese Weise auferlegt war und ihn an der großen geistigen Arbeit hinderte, die er als seine tiefste Berufung wusste. Aber da hilft ihm der Psalm aus aller Bitterkeit heraus: Ja, freilich, ein Zugtier bin ich geworden, ein Packesel, ein Ochs – aber gerade so bin ich bei dir, diene dir, hast du mich in der Hand. Wie eben das Zugtier dem Bauern am nächsten ist und ihm seine Arbeit tut, so ist er gerade in solchem demütigen Dienst ganz nahe bei Gott, ganz in seiner Hand, ganz Werkzeug – nicht näher könnte er bei seinem Herrn sein, nicht wichtiger für ihn. ... Inzwischen habe ich», so fährt der Kardinal weiter, «mein Gepäck nach Rom getragen und wandere seit langem damit in den Straßen der Ewigen Stadt. Wann ich entlassen werde, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass auch mir gilt: Dein Packesel bin ich geworden, und so, gerade so bin ich bei dir» (Erinnerungen 179f.).

Welch ein Bekenntnis zur Kirche und welch ein Bekenntnis zum Dienst in und an der Kirche! Unbestreitbar ist Papst Benedikt XVI. ganz und gar der Theologe Josef Ratzinger. Ist er gerade als solcher nicht auch ein Augustinus redivivus – ein zweiter Augustinus?

TANZ UND TANZEN BEI AUGUSTINUS

von Cornelius Mayer

I. Die dem Zentrum für Augustinus-Forschung häufig gestellte Frage nach einem Satz über das Tanzen bei Augustinus

Als 1993 der EDV-Text aller Werke Augustins, des namhaften Kirchenlehrers und Bischofs von Hippo (354-430), fertiggestellt war und man nicht nur Wortformen, sondern auch ganze Sätze aus seinen Schriften abfragen konnte, lautete eine der am häufigsten an uns gestellten Anfragen: Wo steht bei Augustinus der Satz «Mensch, lerne tanzen, denn sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen». Am 4.7.2005 stand der Satz erneut im Diskussionsforum unserer Homepage www.augustinus.de mit folgender Ergänzung: «... – Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge und bindet den Einzelnen zur Gemeinschaft. – Ich lobe den Tanz, denn er beschwingt den Geist und verleiht der Seele Flügel». Die Adressatin fügte hinzu: «Wer kennt noch mehr? Oder kennt diesen Zitatensatz zum Tanz in seiner ganzen Länge? Über eine Antwort würde ich mich freuen, denn ich bin Tänzerin und tanze auch als Ausdruck von Spiritualität im kirchlichen Raum ...». Seit dieser Eintragung gibt es neuere vom 5.9 und 12.10.2005. Um Licht in den Diskurs zu bringen, habe ich mich entschlossen, das Thema Tanz und Tanzen bei Augustinus aufgrund des vorhandenen Quellenmaterials zu bearbeiten und das Bearbeitete auf unsere Homepage zu stellen.

II. Die Unechtheit des Augustinus zugeschriebenen Zitates über den Tanz

Obgleich schon häufig geschehen, sei nochmals darauf hingewiesen, dass dieser Satz bzw. diese Sätze bei Augustinus, so weit uns dessen Schriften vorliegen, nicht zu finden sind. Warum werden sie dann dem Kirchenvater zugeschrieben? Ich denke, aus einem doppelten Grund: Einmal, weil Augustinus einer der am häufigsten gelesenen Schriftsteller der Spätantike war und immer noch ist. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu wissen, dass die Anzahl der sogenannten pseudoaugustinischen Schriften im Mittelalter die der Originale um ein Vielfaches übertrifft. Viele Schriftsteller schrieben wohl deshalb unter seinem Namen, weil sie hofften, dadurch gelesen zu werden. Möglicherweise sind die besagten Sätze unter den Pseudoaugustiniana tatsächlich zu finden, diese sind jedoch via EDV noch nicht erfasst. Der zweite Grund dürfte mit Augustins Lehre von der Kunst zu tun haben. Der Kirchenvater war nicht nur ein Liebhaber der Kunst, er war als Rhetor, als Lehrer der Redekunst, selbst Künstler und als solcher setzte er sich des öfteren intensiv mit der Kunst, zu der er auch den Tanz zählte, auseinander. Freilich blieb es bei diesem Aspekt der Beurteilung des Tanzes, wie wir sehen werden, nicht. Aber wenden wir uns zuerst diesem Aspekt zu.

III. Der Tanz und das Tanzen unter dem Aspekt der Kunst

01. Der Wortschatz

Die vom Stamm ‹sal*› mit ‹salire› in der Grundbedeutung springen, hüpfen, und dessen Supin ‹saltum› abgeleiteten Wörter mit dem Stamm ‹salt*› kommen im vorliegenden Gesamtwerk Augustins 101mal vor: das Verb ‹saltare›, tanzen, etwas tanzend darstellen, 81mal; die Substantive ‹saltatio›, das Tanzen, der mit Gebärden verbundene Tanz, 12mal; ‹saltator›, der Tänzer, 5mal; ‹saltatrix›, die Tänzerin, 1mal; ‹saltus›, das Springen, 1mal; das Adjektiv ‹saltatorius›, zum Tanzen gehörig, 1mal.

02. Augustins Lehre über die ‹sieben freien Künste›

Kennzeichnenderweise beschäftigte Augustinus sich mit dem Tanz als Kunst vorzüglich in seinen Frühschriften (von der Bekehrung im Jahr 386 bis zur Übernahme kirchlicher Ämter im Jahr 391), und zwar in jenen, die entweder indirekt oder direkt von den freien Künsten, den ‹disciplinae liberales› oder auch ‹artes liberales›, handeln. Er zählte deren sieben: zuerst die der Sprache (‹trivium›), die Grammatik, die Dialektik, die Rhetorik, darauf die Musik (gleichsam aller sieben Mitte), sodann die mathematischen Disziplinen (zusammen mit der Musik das ‹quadrivium›) der Geometrie und der Arithmetik, schließlich der Philosophie (inklusive der Astronomie). Nach seiner Taufe plante Augustinus, über jede der Disziplinen Lehrbücher zu schreiben. Von den geschriebenen sind noch Fragmente vorhanden, allem voran die sechs Bücher Über die Musik, De musica libri sex. Dieses für die Musikgeschichte epochale Werk blieb unvollendet, denn es behandelt lediglich den Rhythmus, also die Musik als Bewegung, weitere sechs Bücher über die Melodie sollten noch folgen. Da Augustin jedoch um 391 Priester der Kirche von Hippo wurde, kam er nicht mehr zur Abfassung der noch ausstehenden Bücher zu De musica; er ließ es bei einer Überarbeitung des 6. Buches bewenden.

03. Die Zugehörigkeit des Tanzes zur Disziplin der Musik

Nun ist der Tanz keine eigenständige Disziplin, er gehört aber aufgrund seiner rhythmischen Bewegungen zur Disziplin der Musik. Die Musik wieder ist vorzüglich dank der ihr innewohnenden Bewegung Kunst. Eine Bewegung vollzieht sich in der Zeit, und zwar in einer zählbaren und zu zählenden. Augustins Schrift De musica ist ein Dialog zwischen einem Lehrer und einem Schüler. «Musik», so definiert der Lehrer, «ist die Kenntnis von der rechten Gestaltung – musica est scientia bene modulandi». ‹Singen und Tanzen›, so fügt der Lehrer Augustin hinzu, setze das ‹Gestalten› – kein oberflächliches, betont der Lehrer, sondern ein ‹richtiges-bene› – voraus. Lehrer und Schüler werden sich rasch darüber einig, dass vom Gesang und Tanz als Kunst nur dann die Rede sein kann, wenn ‹das Gestalten-modulare› bzw. ‹das Gestaltet werden-modulari› den Regeln der Kunst, einer streng rationalen Vorgabe folgt. Eine richtige Bewegung bedient sich der Zeitmaße, der Intervalle. Ein der Laszivität dienendes Singen und Tanzen erfüllt daher die Bedingungen der Kunst nicht (De musica 1,2-4).

04. Der Rhythmus und die ihm zugrunde liegenden Zahlenverhältnisse

Zum Wesen der Musik und des Tanzes gehört somit der Rhythmus, dem wieder exakte mathematische Verhältnisse zugrunde liegen. Wir messen die Zeit als Bewegung in Einheiten und sprechen von der Verdoppelung einer Einheit, von deren Hälfte usw., erklärt der Lehrer und er fragt den Schüler: «Wenn jemand rhythmisch klatscht, so dass ein Schall eine, ein zweiter eine doppelte Zeit dauert, ... und dies anhaltend fortsetzt; und wenn ein anderer dazu tanzt, indem er den Zeiten entsprechend die Glieder bewegt, erkennst du da nicht das Zeitverhältnis vom Einfachen und Doppelten bei den aufeinanderfolgenden Bewegungen, sei es beim Hören des Klatschens, sei es beim Sehen des Tanzes?» (ebd. 1,27). Der Schluss, der daraus zu ziehen ist, leuchtet dem Schüler ein: Die wahrgenommene Zahlhaftigkeit, die ‹numerositas›, ist es, die das Ergötzen, das ‹delectare›, beim Klatschen und Singen und Tanzen verursacht. Die Musik als Disziplin und in ihrem Gefolge auch der Tanz sind Vorgänge, die den geheimsten Gemächern der Geistseele des Menschen entstammen: ‹musica de secretissimis penetralibus procedens› (ebd. 1,28).

05. Der Tanz als Kunstgenuss

Was sich in der sinnlichen Sphäre abspielt, sind lediglich Spuren, ‹vestigia›, der reinen Kunst. Diese auch mit den Sinnen wahrzunehmen ist deshalb wichtig, weil es Aufgabe der Kunstwerke ist, den sie Wahrnehmenden den Weg in die Innerlichkeit zu weisen, wo das raum- und zeitlos Schöne als der eigentliche Gegenstand der Kunst sich zum Genuss darbietet. Nach Augustin beglückt die im Tanz verborgene, aber ihm letztlich zugrunde liegende Zahlhaftigkeit den Tänzer wie den Zuschauer selbst dann, wenn er diese mit seinem Intellekt nicht vollständig erfasst. Wo und wann immer diese Maße und Zahlenverhältnisse vom Tänzer beachtet werden, erfreuen sie auch das Auge des Zuschauers. (De musica 1,27f. und 6,22.24; zur platonisch-philosophischen Herkunft dieser Kunstauffassung Augustins siehe meinen Vortrag: Kunst und Kunstgenuss nach der Lehre des Kirchenvaters Augustinus, hier im Internetportal unter der Rubrik: Beiträge zu augustinischen Themen).

06. Zahlen als Prinzipien des Universums

Augustinus konnte sich nicht genug tun, die Zahlen mit der Eins an der Spitze als Prinzip nicht nur der Kunst, sondern des Universums selbst zu preisen. «Alles hat Formen, weil es Zahlen hat; nimm sie ihnen, und es wird alles zunichte», schreibt er in dem ebenfalls noch vor seiner Priesterweihe begonnenen, aber erst danach abgeschlossenen Dialog Über den freien Willen – De libero arbitrio 2,42. Künstler arbeiten bewusst oder unbewusst mit Zahlen, denen sie ihre Werke nach Möglichkeit anpassen. «Frage», so fährt er fort, «was im Tanz ergötzt, die Zahl wird dir antworten: Siehe, ich bin es – quaere ergo quid in saltatione delectet: respondebit tibi numerus: ecce sum» (ib.).

07. Der rationale Charakter aller Künste und folglich auch des Tanzes

Schon in der vor seiner Taufe (387) abgefassten Schrift Über die Ordnung – De ordine erörterte Augustinus den rationalen Charakter aller Künste. Kunstwerke sind als solche gewiss auch Sachen, ‹res›, bzw. Vorgänge in Raum und Zeit. Was sie aber zu Objekten der Kunst macht, ist die ihnen innewohnende Rationalität. Beim Gesang z.B., dem Bereich des Hörens, liegt diese Rationalität in der Berechenbarkeit des Rhythmus, der ‹dimensio›. Im visuellen Bereich des Tanzes ist es ebenfalls das berechenbare Maß, das unser Auge ergötzt. Alle Figuren, die der tanzende Schauspieler, der ‹histrio saltans›, vor den Augen seiner Zuschauer vorführt, haben Zeichen von Sachen bzw. Vorgängen zu sein, die er im Tanz darstellen will – «gestus illi omnes signa sint rerum». Man kann deshalb nur dann von einem der Vernunft und damit auch der Kunst genügenden Tanz, von einer ‹rationabilis saltatio›, sprechen, wenn der Tänzer durch die Bewegung seiner Glieder etwas gut anzuzeigen und auch unabhängig vom Reiz der Sinne darzustellen in der Lage ist – «quod bene aliquid significat et ostendat excepta sensuum uoluptate» (Über die Ordnung – De ordine 2,34).

08. Der Tanz unter dem Aspekt der Zeichen

Soeben war von der Zeichenhaftigkeit des Tanzes die Rede. Augustinus war einer der ganz großen Semiotiker (= Theoretiker der Lehre von den Zeichen). Es nimmt daher nicht wunder, wenn er im Rahmen seiner Zeichenlehre auf den Tanz zu sprechen kommt. Zeichen verweisen auf Sachen, ‹res›, die sie bezeichnen. Dabei ist zu bedenken, dass das Bezeichnen, das ‹significare›, nur dann funktioniert, wenn man das Bezeichnete schon kennt. Zeichen und Bezeichnetes bilden als Begriffspaar ein Schema. Innerhalb des Schemas kommt der bezeichneten Sache ein ontologisch-gnoseologischer Vorrang vor dem Zeichen zu. Diesem Vorrang Rechnung tragend, lehrt Augustinus in seiner ersten Abhandlung über die Zeichen, in dem um das Jahr 388/389 geschriebenen Dialog De magistro – Über den Lehrer § 33: Eher könne man das Zeichen durch das Bezeichnete als das Bezeichnete durch das Zeichen erkennen – «magis signum re cognita, quam signo dato ipsa res discitur».

09. Der Tanz der Pantomimen

Augustinus teilt die Zeichen in natürliche, ‹signa naturalia›, und in solche, die auf einer Übereinkunft beruhen, ‹signa data›, auf. Zu den letzteren zählt die Sprache. Erschöpfen sich die auf Übereinkunft aufruhenden Zeichen in der Sprache? Nein, lautet die Antwort unter Hinweis auf die Gebärdensprache tauber Menschen. Mit deren Hilfe könne nämlich praktisch alles, was wir über die fünf Sinne wahrnehmen, ohne Worte kenntlich gemacht werden. Auch diesen Sachverhalt illustriert Augustin mit dem Tanz. Die Schauspieler, sagt er, führten ganze Götter- und Heldensagen, ‹totas fabulas›, ohne Worte, meist nur tanzend, ‹saltando plerumque›, in den Theatern auf und machten sich auf diese Weise verständlich (ebd. 5). Er äußert sein Staunen über diese Fähigkeit, beinahe alles, ‹prope omnia›, inhaltlich vermitteln zu können (ebd. 19). In seiner zweiten Abhandlung über die Zeichen, in der Schrift Über die christliche Wissenschaft – De doctrina christiana, deren Hauptteil er bereits als Bischof (um 397) schrieb, bemerkt er: «Auch die Schauspieler geben durch Bewegungen all ihrer Glieder gewisse Zeichen denen, die diese verstehen – signa quaedam dant scientibus» (ebd. 2,4). Offensichtlich setzte man bei den Theaterbesuchern voraus, dass diese die Strukturen in den Bewegungen der tanzenden Schauspieler kannten und sie deshalb recht zu deuten verstanden. Wie aber Augustin im gleichen Werk berichtet, mangelte es dem Publikum von Karthago an solchem Verständnis, weshalb beim Tanz eines Pantomimen, ‹pantomimo saltante›, ein Herold, ein ‹praeco›, zuvor ansagen musste, was der Tänzer, der ‹saltator›, zum Ausdruck bringen wollte (ebd. 2,38).

IV. Der Tanz des Pantomimen

01. Der junge Augustin ein Bewunderer der Kunst der Pantomime

Wie die einschlägigen Studien zeigen, war das Verlangen nach szenischer Darstellung der Sagen und der mythischen Stoffe in der Spätantike ausgeprägt. Siehe dazu die Abhandlung von Werner Weismann, Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin, Würzburg 1972. Seit der Kaiserzeit entwickelte sich im römischen Reich der Ausdruckstanz zu einer zuvor nicht gekannten Blüte. Der Pantomimus, ein männlicher Schauspieler, bezauberte die Zuschauer allem voran durch die Bewegungen seines Körpers. Selbst die Kirchenväter vermochten sich der Bewunderung dieser Fähigkeit nicht zu verschließen. In seinen Bekenntnissen – Confessiones berichtet Augustinus, mit welcher Inbrunst er das von Schauspielern vorgegaukelte, tänzerisch vermittelte fremde Leid, das ihn zu Tränen rührte, verfolgte (ebd. 3,4).

02. Das umfangreiche Repertoire der Pantomimen in der Spätantike

«Der Tanz», so Weismann, «wurde musikalisch reich untermalt. Im Bühnenhintergrund sang der Theaterchor. Der Text wurde in enger Anlehnung an bestehende Tragödientexte geschaffen und unterschied sich wohl kaum von den Libretti der tragischen Sänger. Für den Pantomimus wurde auch ein großes Instrumentalensemble aufgeboten. ... Der Pantomime trat mit dem Gewand und der Maske des tragischen Schauspielers auf, deren rascher Wechsel es ihm ermöglichte, verschiedene Rollen nebeneinander zu tanzen. Ähnlich wie bei heutigen Balletttänzern war ein hartes gymnastisches Training unerlässliche Voraussetzung für den pantomimischen Tanz. ... Als Vorlage dienten vor allem die Dramen des Euripides und die unter seinem Einfluss stehenden römischen Tragödien. Jedoch beschränkte man sich nicht ausschließlich auf die in den Tragödien behandelten Stoffe. Lukian rühmt, dass das Repertoire der Pantomimen die gesamte Mythologie umfasse. Zieht man zum Vergleich die Äußerungen der Kirchenväter heran, so ergibt sich, dass erotische Stoffe eindeutig bevorzugt wurden. Mit den getanzten Liebesabenteuern der Götter, besonders den Amouren Jupiters und der Venus errang der Pantomime Publikumserfolge» (ebd. 43-45). In der Spätantike eroberte das Ballett der Pantomime das Herz der breiten Massen. Aus dem Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus (XIV,6,19) erfahren wir, dass es im Jahre 353 in Rom etwa 3000 Berufstänzer gab.

V. Der Tanz im Urteil der Kirchenleitungen in der Spätantike und Augustins

01. Die dominierend heidnischen Elemente im Tanz

In Augustins Schriften ist um das Jahr seiner Priesterweihe (391) fast eine Art Metabasis hinsichtlich der Bewertung des Tanzes festzustellen, die sich bei der Übernahme des Episkopates vier Jahre später festigte. Den katholischen Bischöfen insgesamt kam es bei der Beurteilung der Tänze so gut wie ausschließlich auf die Inhalte an, die sie vermittelten. Da dies vorzüglich heidnisch-laszive Stoffe waren, wird man sich über den negativen Tenor der Texte über den Tanz aus der Bischofszeit Augustins nicht wundern. Im 2. Buch seines epochalen Werkes De civitate dei – Vom Gottesstaat geißelt er den Sittenverfall des Römischen Staates ganz allgemein. Zu den Erwartungen der Bürger gehörten die Schauspiele bei Tag und bei Nacht, notiert er ebd. 2,20. «Überall soll Tanzmusik erschallen und die Theater sollen widerhallen von ausgelassenem unanständigem Lärm und jeglicher Art grausamster und schändlichster Lust». Zum täglichen Programm der Theater gehörten die Laster der Götter, die Diebereien Mercurs, die Schamlosigkeit der Venus, die Fabel vom Schönheitswettbewerb der Göttinnen Juno, Minerva und Venus mit dem Urteil des Paris und dergleichen mehr; all dies werde «in Liedern und Tänzen zur Schau gestellt», klagt er ebd. 7,26 und 18,10. Speziell in den Dionysosmysterien waren die Tänze mit orgiastischen Elementen angereichert. Wie Augustin in seiner Epistula 2*,2 erwähnt, war der Tanz in der Kirchen strikte untersagt.

02. Der Tanz in biblischen Texten in den Schriften Augustins

Es ist immerhin aufschlussreich, dass die Texte des Alten Testamentes, die mehrfach vom Tanz handeln, und zwar nicht nur im pejorativem Sinn wie dem um das goldene Kalb (Ex 32,6.19), sondern auch im positiven wie dem Sakraltanz, den David Jahwe zu Ehren vor der Bundeslade aufführte (2 Sm 6,12-23), bei Augustinus nur am Rande zur Sprache kommen. Wiederholt spricht der Psalter vom Tanz und vom Tanzen: So, um nur einige Texte zu zitieren, im Psalm 149, Vers 2f.: «Israel soll sich über seinen Schöpfer freuen, die Kinder Zions über ihren König jauchzen. Seinen Namen sollen sie loben beim Reigentanz, ihm spielen auf Pauken und Harfen»; ferner im Psalm 150, Vers 4: «Lobt ihn mit Pauken und Tanz, lobt ihn mit Flöten und Saitenspiel»; und nicht zuletzt im Psalm 30, Vers 12: «Da hast du mein Klagen in Tanzen verwandelt, hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Freude umgürtet». Diese Psalmenzitate sind dem Stundenbuch (Brevier) für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes entnommen. Im griechischen Text der Septuaginta steht für Tanz das Wort χορός mit der Bedeutung ‹der Reigen› bzw. ‹der Reigentanz›, das unsere Übersetzungen korrekt mit ‹Tanz›, ‹Tanzen› und ‹Reigentanz› wiedergeben. Indes, schon die lateinischen Übersetzungen verwenden für χορός nicht ‹saltatio› bzw. ‹saltus›, sondern in der Regel das latinisierte ‹chorus›, das natürlich sowohl unser Fremdwort ‹Chor› wie auch ‹die Sängerschar› bedeuten kann, was Augustinus begrifflich offensichtlich bevorzugt hat. Im Psalm 30,12 übersetzte die Vulgata den Terminus χορός sogar mit ‹gaudium› (= Freude, Vergnügen, Genuss). Lateinische Übersetzungen aus dem Hebräischen bevorzugen im genannten Vers weiterhin ‹chorus›, Augustinus hingegen ‹gaudium›.

03. Die nur wenigen Bibelzitate vom Tanz im Gesamtwerk Augustins

Es fällt auf, dass das Wort ‹Tanzen-saltare› in Bibelzitaten im Gesamtwerk Augustins nur 9mal vorkommt, und zwar ausschließlich in solchen aus dem Neuen Testament und jedes Mal als Zitat entweder aus Mt 11,17 oder aus Lk 7,32. Jesus vergleicht dort die Menschen seiner Generation mit Kindern, «die auf dem Marktplatz sitzend einander zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht getanzt – cantauimus uobis tibiis et non saltastis –, wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht wehgeklagt» (so nach Lk). Augustin zufolge verdeutlicht Jesus mit diesem Satz die Verweigerung seiner Zeitgenossen, ihn als den Menschensohn anzuerkennen (siehe Quaestiones evangeliorum – Fragen zu den Evangelien 2,11). In seiner Erklärung des Psalms 128 bemerkt Augustin, in der heiligen Schrift und im Evangelium würde Gott zu uns Menschen nicht nur sprechen, sondern sogar singen. Dabei zitiert er Mt 11,17: «Ob wir (nun dazu) tanzen wollen oder nicht, er selbst singe – siue uelimus saltare, siue nolimus, cantet ipse». Indes erblickt der predigende Bischof darin keineswegs eine Aufforderung zum Tanz. Ihm geht es um das spirituelle Engagement der Gläubigen. Der Tanz, von dem hier die Rede ist, wird in der Auslegung Augustins zur Metapher. Und so erklärt er: «Wer nämlich tanzt, bewegt seine Glieder zum Gesang, jene hingegen, die der Weisung Gottes entsprechend tanzen – qui saltant ad praeceptum dei –, richten ihr Tun nach dem Klang dieser Weisung». Daher: «Was antwortete der Herr deshalb jenen im Evangelium, die sich weigerten zu tun (seinen Wunsch zu erfüllen)? ‹Wir haben für euch gesungen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder angestimmt, und ihr habt nicht wehgeklagt›. Er möge also (fortfahren zu) singen» (Enarrationes in Psalmos – Auslegung der Psalmen 128,1).

04. Der Tanz der Tochter der Herodias

Ein ausgesprochen ungünstiges Licht fällt auf den Tanz seitens der Evangelienperikopen bei Mk 6,14-29 und Mt 13,1-13, die von der Enthauptung Johannes‘ des Täufers berichten. Jener Tanz der Tochter der Herodias, der Herodes so entzückte, dass er auf deren Wunsch hin den Täufer enthaupten ließ, wird in christlichen Kreisen der Spätantike zu einem willkommenen Argument gegen den Tanz überhaupt. In Afrika feierte man zur Zeit Augustins die Enthauptung Johannes‘ des Täufers offensichtlich bereits als kirchlichen Gedenktag. Augustin bringt seinen Abscheu an diesen Gedenktagen in einer Predigt so zum Ausdruck: «Das Mädchen tanzt, die Mutter wütet; inmitten der Galanterien und Ausschweifungen wird ohne Überlegung ein Eid geleistet und das ruchlos Geschworene ausgeführt» (Sermo – Predigt 307,1). Ambrosius, der Augustin taufte, riet den christlichen Frauen, ihre Töchter das Tanzen überhaupt nicht zu lehren (De virginibus – Über die Jungfrauen 3,26-31).

05. Die Gefahren der Einschmälzung heidnischer Elemente in den christlichen Kult

Obgleich kirchliche Gesetze sich massiv bemühten, den Tanz zu unterbinden (siehe dazu Carl Andresen, Altchristliche Kritik am Tanz – ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirchen gegen heidnische Sitte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 (1961) 217-262, 229 Anm. 34), gelang es dem christlich gewordenen Staat zunächst nicht, den aus heidnischen Opferhandlungen gewohnten Tanz aus christlichen Kulthandlungen radikal zu eliminieren. Als religiöser Ausdruck der Einbeziehung des aus Leib und Seele bestehenden ganzen Menschen faszinierte der Tanz auch die Christen. Dieser «war formende Sitte, weil er mit Grunddaten menschlichen Lebens, in erster Linie Hochzeit und Bestattung zusammenhing. Die heidnischen Vorstellungen hatten hier eine letzte Zuflucht gefunden, als die christliche Kirche schon das Leben der Öffentlichkeit bestimmte» (ebd. S. 244). Besonders im Totenkult bei Totenmählern hielt auch der Tanz sich lange lebendig. Nicht selten wurden christliche Gedenkfeiern für Märtyrer zum Schauplatz ausgelassener Festlichkeiten. Wenn Augustinus in seinen Confessiones 6,2 von seiner Mutter Monnika erzählt, diese habe nach dem Brauch ihrer Heimat Gedächtnismahle bei den Gräbern von Märtyrern, den sogenannten Refrigerien, abhalten wollen, sei aber dabei auf das Verbot des Bischofs hingewiesen worden, dann haben wir es mit Residuen solcher Totenkulte mit ursprünglich integrierten Kult-, Volks- und Kunsttänzen zu tun.

06. Der Sermo 311, zum Gedenken an Bischof Cyprian als Paradigma der Kritik Augustins am Tanz

Augustin selbst berichtet in einer zwischen den Jahren 400-405 am 14. September in Karthago zum Gedenken an Bischof Cyprian gehaltenen Predigt von solchen Tänzen, die noch zu Beginn seiner kirchlichen Amtszeit stattgefunden haben, sowie von seiner und des Ortsbischofs Aurelius Reaktion darauf. Der aufschlussreiche Passus dieser Predigt sei in voller Länge wiedergegeben.

Schon in der Einleitung (Sermo 311,1) verweist der Prediger auf die Nachahmung der Tugenden der Märtyrer als den eigentlichen Sinn, ihrer in der Kirche zu gedenken. Wozu die Märtyrerverehrung Christen anleitete, sei deren Verhalten in der Welt (ebd. 3). Gott verlange gute Sitten, nicht leere Beteuerungen: «mores volo, non voces». Der Begriff ‹voces› assoziierte bei dem frei predigenden Bischof den ‹Gesang› nach Mt 11,17. So fährt er fort: «Der Herr sagt im Evangelium, ‹wir haben euch gesungen, und ihr habt nicht getanzt›. Würde ich (von mir aus) so etwas sagen, ohne es (dort) gelesen zu haben? Die Prahlerei könnte mich zum besten haben, es stützt mich jedoch das Ansehen (der Heiligen Schrift). Würde ich nicht vorausschicken, wer dies sagte, wer von euch könnte es ertragen, dass ich (solches) sagte, ‹wir haben euch gesungen, und ihr habt nicht getanzt›? Sollte etwa (aufgrund dieses Evangelienwortes) hier an diesem Ort jemand zum Tanzen aufgefordert sein, da doch ein Psalm (in der gottesdienstlichen Feier) zu singen ist?»

Und dann kommt Augustin auf ein Ereignis zu sprechen, das sich bei einer seiner früheren Anwesenheiten in Karthago zugetragen hat. «Vor einigen Jahren – es ist gar nicht so lange her – riss die Dreistigkeit von Tänzern diesen Ort an sich. Diesen so heiligen Ort, wo der Leib eines so heiligen Märtyrers (Cyprian) liegt, wie sich viele, die alt genug sind, noch erinnern werden. Einen so heiligen Ort, sage ich, riss die Pest und die Dreistigkeit von Tänzern an sich. Die ganze Nacht hindurch wurde Verruchtes gesungen und zum Gesang getanzt. Da der Herr es so wollte, wurde durch euren heiligen Bischof und unseren Bruder (Aurelius), sobald die heilige Vigil gefeiert zu werden begann, jene Pest so gut es ging, unterbunden, später wich sie gründlicherer Maßnahme, ja man schämte sich ihrer aus Einsicht» (ebd. 5).

Worauf zielt der Prediger ab? Profane Gesänge verbunden mit Tänzen haben demnach bei kirchlichen Feiern nichts zu suchen. Dennoch belehrt nach Augustin der Tanz dank seiner metaphorischen Bedeutung und Deutung Christen dahin, dass ihre Sittlichkeit mit dem in der Kirche üblichen Gesang übereinzustimmen habe. Auf diesen Aspekt hin fährt der Prediger fort: «Da also solche Dinge (Tänze im Kult) durch Gottes Gnade nicht mehr stattfinden sollen, veranstalten wir den Dämonen keine Spiele mehr. Wo sie (aber angeblich) zur Freude derer, die verehrt werden, (immer noch) stattfinden, (dort) verderben sie (die Sitten) der Anbeter. Hier indes wird die Heiligkeit und die Erhabenheit der Märtyrer gefeiert; getanzt (aber) wird hier nicht». Dennoch gilt selbst dort, wo nicht getanzt wird, das Evangelienwort: ‹wir haben euch gesungen, und ihr habt nicht getanzt› (Mt 11,17). «Es werden demnach jene getadelt, gescholten und angeklagt, die nicht getanzt haben. Es kann aber doch nicht sein, dass jene Dreistigkeit wiederkehre. Achtet (also) sorgfältig darauf, was die Weisheit (nämlich Christi, der den Satz prägte), darunter verstanden wissen will. Es singt jener, der den Befehl (zu tanzen) erteilt; es tanzt jener, der den Befehl ausführt». Und nun erklärt der Prediger die Metaphorik der Aufforderung zum Tanz bei Mt 11,17: «Was heißt (überhaupt) tanzen, wenn nicht die Bewegung der Glieder dem Rhythmus des Gesangs anzupassen? Worin besteht (dieser) unser Gesang? Die Antwort darauf komme nicht von mir. Eher will ich Helfershelfer als Anführer (bei dieser Aufforderung) sein. Ich nenne (lediglich) unseres Gesanges Kern: ‹Liebt nicht die Welt und auch nicht, was in der Welt ist. Wer immer die Welt liebt, in dem ist die Liebe des Vaters nicht. Denn alles, was in der Welt ist, die Fleischeslust, die Augenlust und die Hoffart der Welt, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht und die Lust mit ihr; wer aber den Willen Gottes erfüllt, der bleibt in Ewigkeit› (1 Io 2,15-17)» (ebd. 6).

Der Gesang also, der Gläubige zum Tanz auffordert, ist der Auslegung Augustins zufolge der biblische Text als Gottes Wort, als Gottes Gesang. Dem wird in der Applikation, in der Anwendung und Konkretisierung des in der Predigt Gesagten nunmehr Rechnung getragen: «Welch ein Gesang, meine Brüder! Ihr habt den Sänger vernommen, lasst uns auch die Tänzer (in ihrem Verhalten) vernehmen: Achtet auf die Harmonie eurer Sitten, so wie Tänzer dies tun in bezug auf die Bewegung ihrer Glieder. Bewegt sie innerlich; achtet darauf, dass eure Sitten (mit dem Gesang) übereinstimmen: Die Begierde möge ausgerottet, die Liebe eingepflanzt werden. Was immer dieser (eingepflanzte) Baum (der Liebe) hervorbringt, ist (gewiss) gut. Die Begierde vermag nichts Gutes hervorzubringen, die Liebe nichts Böses. Man sagt (es) so, und man lobt (dies); es ändert sich (doch) niemand. Möge dies nicht so sein! Es stimmt auch nicht. (Denn) die Fischer (Apostel) haben sich (indem sie sich bekehrten) verändert; verändert haben (auf diese Gesänge hin ihre Sitten) zahlreiche Senatoren; verändert hat sich Cyprian, dessen wir heute gedenken. Er selbst schreibt und testiert uns, wie sehr sein Leben einst ein verruchtes, ein gottloses, ein zu missbilligendes und zu verabscheuendes war. Er vernahm (jedoch) den Sänger: daraufhin lieferte er sich nicht dem Leibe, sondern dem Geiste nach dem Tanz aus. Er passte sich dem guten Gesang an, dem neuen Gesang: er passte sich an, (denn) er liebte, er blieb standhaft, er kämpfte und er gewann» (ebd. 7; ähnliche Auslegung sermo Denis 13,4; sermo Caillau 2,6,1; sermo Lambot 6; ).

VI. Ergänzungen zur Bedeutungspalette des Tanzes bei Augustinus

Das Gros der Texte mit den Vokabeln Tanz und Tanzen aus der kirchlichen Amtszeit Augustins hat diese negative Konnotation. So ist die Ironie in einem Brief an Licentius, seinen ehemaligen Schüler und Dilettanten in der Dichtung, nicht zu übersehen, wenn Augustin diesem, der sich vom Christentum offensichtlich entfernt hatte, schreibt: er, Licentius, tanze nicht (mehr) nach dem Gesang seines Lehrers (Briefe – Epistulae 26,3). Ähnlich beklagt der Bischof im Brief an Nectarius, einen klassisch gebildeten Zeitgenossen, den immer noch vorhandenen Kulttanz: «cantatur, saltatur Iuppiter adulteria tanta committens» (ebd. 91,5). Im gleichen Brief nennt er die ausführenden ‹histriones› eine «petulantissima turba saltantium» (ebd. 91,8). In bezug auf den Tanz berichtet Augustinus in seinem Werk Gegen den Brief Parmenians – Contra epistulam Parmeniani 3,29 auch von der Abscheulichkeit unter den Donatisten, die im Parteienhader zwischen Primianus und Maximianus den greisen Bischof Salvius von Membressa, nachdem sie ihn mit seinen Anhängern aus seiner Kirche vertrieben hatten, mit Hundekadavern behängt schändliche Lieder singend und tanzend mit Triumph durch die Straßen führten: «..., ut postremo cum illo ad turpes uoces cantionesque saltarent». Es sei bekannt, bemerkt Augustin, «dass schlüpfrige und unsittliche Tänze» von den Bischöfen unterdrückt würden. Wer erinnere sich, fragt er, dass jemals Menschen, die von Bischöfen zur Hilfe gerufen wurden, mit Bischöfen getanzt hätten? Augustin, der davon auch in seiner Schrift An den Grammatiker Cresconius – Ad Cresconium grammaticum 4,59 berichtet, kommt über diese Gräuel kaum hinweg, und so fügt er hinzu, Salvius, der den Tanz über sich ergehen lassen musste, habe Schlimmeres erlitten, als wenn er lebendig verbrannt worden wäre. Und: «würde jemandem zur Wahl gestellt, ob er nicht selber tanzen, sondern (ob zum Spott) mit ihm getanzt werde – utrum mallet non ipse saltare sed saltari secum -, oder ob er lieber lebend verbrannt werden wolle, so würde niemand zweifeln, was er bezüglich seiner Wahl als Antwort gäbe» (ebd.). Schließlich sei erwähnt, dass Augustin das Wort ‹saltus, -us› in der Bedeutung von Sprung als dialektisch-rhetorischen Terminus kennt und verwendet. So beklagt er in den Büchern gegen Julian dessen Sprünge bei der Darstellung seiner (Augustins) Gnadenlehre: «primum te quaero... cur ... saltus in praetereundi meis disputationibus feceris».

VII. Resümee

Ziehen wir ein Resümee zu dieser Darstellung des Tanzes und des Tanzens bei Augustinus, so ist eine Entwicklung in deren Bewertung und im Zusammenhang damit eine deutliche Ambivalenz nicht zu übersehen. Die enge Beziehung des Tanzes und des Tanzens zur Disziplin der Musik sichert ihnen die Zugehörigkeit zur Kunst, zur ‹ars›. Darüber lässt Augustinus in seinen Frühschriften keinen Zweifel aufkommen. Die Definitionen sind eindeutig. Wie der Musik, so liegen auch dem Tanz Zahlen zugrunde, die beiden ihre Rationalität als Bedingung der Kunst garantieren. Daran scheint Augustinus festzuhalten, denn stets gilt vom Tanz: «quid est saltare, nisi motu membrorum cantico consonare» (Sermo 311,6). Weil der zählbare und zu zählende Rhythmus dem Gesang ontologisch zugrunde liegt und diesem somit vorausgeht, bestimmten die gleichen Zahlen des Gesanges bzw. der Musik die Bewegungen des Tanzes.

In der Kirche der Spätantike verlor der Tanz aufgrund der heidnischen Inhalte der im Tanz vorgetragenen Gesänge seine nicht nur in der heidnischen Antike, sondern auch im Alten Testament noch vorhandene hohe Reputation. Bei Augustin sehen wir eine Einschränkung dieser Reputation auf die Metaphorik, von der er gerne und reichlich Gebrauch macht. Sonst aber findet er für den Tanz und das Tanzen keine anerkennenden Prädikate. Der Kontext und die zahlreichen Synonyma zu ‹saltatio› und ‹saltare› sind ernüchternd und entlarvend; sie haben im großen und ganzen einen negativen Klang. Einige luzide Beispiele: «saeuiendo, saltando, blasphemando, luxuriando» agieren die Feinde der Kirche (Enarrationes in Psalmos – Auslegung der Psalmen 69,2); Feinde sind sie deshalb, weil sie Christen verfolgen, «quia tenent, quia ligant, quia uerberant, quia occidunt, quia saltant, quia insultant» (ebd. 63,3). Die Märtyrer der Kirche erreichten ihr Ziel «non saltando, sed orando, non potando, sed ieiunandno, non rixando, sed tolerando» (Sermo 326,1).

Augustin reiht sich zwar mit seiner Ablehnung des Tanzes und des Tanzens in die kirchliche Tradition ein, er tut dies aber nicht nahtlos. Denn in seinen gegen Ende seines Lebens abgefassten Retractationes, einer kritischen Revision seiner Werke, nimmt er seine Ausführungen zum Tanz und zum Tanzen in seinen Frühschriften nicht zurück; er kritisiert diese auch nicht. Als Ästhet hielt er seine Sicht über den Tanz als zweckfreie Kunst oder als Kunst um der Kunst willen offensichtlich aufrecht. Als Bischof schloss er sich der innerhalb der Kirche und für die Kirche geltenden Ansicht an, den Tanz aus dem Kult und aus allem, was zum Kult gehört, fernzuhalten und, wo noch vorhanden, zu eliminieren.

Kunst und Kunstgenuss nach der Lehre Augustins
Festvortrag von Cornelius Petrus Mayer OSA anlässlich der Feier seines goldenen Priesterjubiläums am 22.4.2005 im Museum am Dom zu Würzburg

Vorbemerkungen:

1. Sie sind Gäste der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e. V. und des Museums am Dom. Dem trägt die Themenwahl meines Referates, Kunst und Kunstgenuss nach der Lehre des Kirchenvaters Augustinus, Rechnung: Es geht um Augustinus und es geht um die Kunst.

2. Da die meisten von Ihnen Mitglieder der Fördergesellschaft sind, darf ich Sie daran erinnern, dass diese Fördergesellschaft bei ihrer auf die Initiative von Dr. Bauer vorgenommenen Um- und Neugestaltung im Jahr 1988 ein Kuratorium mit namhaften Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erhielt. In dieser Angelegenheit wandte ich mich auch an den Augustinuskenner Kardinal Ratzinger, der postwendend zusagte und sich des öfteren anerkennend zu unseren Forschungen äußerte. In diesen Tagen war viel über ihn zu lesen. Der Corriere della Sera in Mailand schrieb: «Die Kirche vertraut sich einem Mann von 78 Jahren mit einem kindlichen Gesicht an, einem Schüchternen mit großer Energie und einer Kultur, die Augustinus in nichts nachsteht». Wollen wir hoffen, dass Benedikt XVI. uns weiterhin zur Seite steht.

3. Was hat die Theologie mit Ästhetik zu tun? – mag der eine oder andere fragen. Der Joseph Ratzinger wohl gleichrangige Theologe Hans Urs von Balthasar – er starb 1988 zwei Tage vor seiner Erhebung zum Kardinal – schrieb ein viele Bände umfassendes Werk der Theologie. Er gab ihm den Titel: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Augustins Schriften könnte man unter dem gleichen Titel zusammenfassen: Denn was ist herrlicher als Gott, den er hochbegabt und sprachgewandt verherrlichte?

4. Mein Referat hat 4 Abschnitte: 1. Augustins Interesse an der Kunst, 2. Kunstverständnis und Kunstschaffen, 3. Der Kunstgenuss, 4. Die Kunst im Dienst der Verkündigung.

1. Augustins Interesse an der Kunst

Augustin war weder Maler noch Bildhauer noch Musiker, dennoch Künstler – Künstler im Sinne der Antike. Er studierte Rhetorik, und als Hochschullehrer übte er dieses Fach bis zu seiner Bekehrung im Jahr 386 ein gutes Jahrzehnt lang aus.

Zu seiner Zeit zählte die Rhetorik zu den freien Künsten, den sogenannten ‹artes liberales› bzw. den ‹disciplinae liberales›[1]. Obgleich Augustin nach seiner Bekehrung die berufliche Laufbahn eines Rhetors aufgab, so schätzte er die Rhetorik als Kunst um so höher ein, als er sie zusammen mit den übrigen Künsten, deren er sieben zählte[2], zur philosophischen Wahrheits- und Gotteserkenntnis für nützlich hielt. Wohl aus diesem Grunde fasste er zwischen seiner Bekehrung und seiner Taufe den Beschluss, eine Enzyklopädie zu schreiben, in welcher der gesamte Bildungsstoff und das heidnische Bildungsideal dem christlichen zu- und untergeordnet werden sollte.

In den gegen Ende seines Lebens verfassten Retractationes, einer Art kritischen Revision aller seiner Werke, lesen wir: «Zu der Zeit, als ich in Mailand die Taufe empfangen sollte, unternahm ich den Versuch, Bücher über die Wissenschaften zu schreiben». Diese Bücher verfolgten das Ziel, die Studierenden über die einzelnen Disziplinen zur Einsicht in den sie alle umfassenden transzendenten Grund des Wissens zu führen. ‹Per corporalia ad incorporalia – über das Sichtbare zum Unsichtbaren›, lautete das neue Bildungsprogramm[3].

Indes, so berichtet Augustin in den besagten Retractationes weiter, das geplante Unterrichtswerk blieb ein Torso. Vollendet habe er davon allein das verloren gegangene Buch Über die Grammatik sowie den sechs Bücher umfassenden ersten Teil Über die Musik, der nicht vom Rhythmus handelt, auf den dann noch sechs weitere Bücher über die Melodie folgen sollten[4]. Über die anderen fünf Disziplinen, die Dialektik, die Rhetorik, die Geometrie, die Arithmetik und die Philosophie, hat er zwar zu schreiben begonnen, er besaß aber davon nichts mehr.

Die Zielsetzung des ‹über das Sichtbare zum Unsichtbaren› verfolgte Augustin in nahezu allen seinen Frühschriften. Es überrascht deshalb nicht, wenn darin im Kontext der Erörterungen über die Künste und die Disziplinen die Kunst selbst und der Kunstgenuss eine kaum zu übersehende Rolle spielen.

Das außergewöhnliche Interesse des jungen Augustin an der Kunst zeigt nichts besser als sein verloren gegangenes Erstlingswerk mit dem vielsagenden Titel Über das Schöne und Angemessene – De pulchro et apto. Er hatte dieses noch als Anhänger der Sekte der Manichäer etwa um das Jahr 380 geschrieben. Zur Zeit der Abfassung der Confessiones, etwa 20 Jahre später, besaß er es nicht nur nicht mehr, er hatte es offensichtlich wegen darin mitverarbeiteter Gedanken aus der Weltanschauung der häretischen Manichäer, denen er damals noch angehörte, so erfolgreich verdrängt[5], dass er schon nicht mehr wusste, ob jenes Werk aus zwei oder aus drei Büchern bestand. Immerhin berichtet er dort, was ihn und seine Freunde von damals an diesem Thema so brennend interessierte: «Lieben wir etwas außer dem Schönen? ... Was also ist das Schöne (pulchrum)? Und was ist die Schönheit (pulchritudo)? Was ist es, das uns anlockt und an Dinge bindet, die wir lieben?»[6] Die damals gegebenen Antworten befriedigten ihn jetzt nicht mehr. Im Gegenteil, er unterwarf dieses sein Erstlingswerk einer umfassenden Kritik. Es sei ihm nicht gelungen, so führt er aus, über Körperformen, Linien, Farben und schwellende Größen hinaus das Wahre (verum) zu schauen[7].

2. Kunstverständnis und Kunstschaffen

Das Wahre und das Schöne gehören zusammen, das war die neue Sicht der Dinge, die Augustin sich mit Hilfe der neuplatonischen Philosophie aneignete. Noch vor seiner Bekehrung hatte er nämlich in Mailand Schriften der Neuplatoniker, darunter Plotins Abhandlung Über das Schöne, die Enneade 1,6, gelesen[8]. Gleichzeitig konnte er beim dortigen Bischof Ambrosius, dessen Predigten er hörte, Gedanken über die Schönheit hören, die ihm den Weg in die Innerlichkeit wiesen. «Schönheit ist innerlich», lehrte dieser. Wer sie sehen wolle, «der möge nach innen eintreten (ingrediatur intro) und das Gesicht seines Leibes draußen lassen»[9]. In der besagten Enneade fand Augustin gleichsam die philosophisch-ontologischen Grundlagen der ambrosianischen Gedanken.

Zwischen den schönen Dingen und der Schönheit unterscheidend, lehrte Plotin, Dinge in Raum und Zeit seien nicht von sich aus schön, sondern durch Teilhabe an einer alle innerweltlichen Dinge übersteigenden, von ihm mit dem (göttlichen) Intellekt (νοῦς) identifizierten Schönheit. Körper erschienen in unterschiedlicher Dichte als schön. Das stets mit sich selbst identische Schöne kenne eine solche Differenzierung nicht. Die mit einem inneren Organ ausgestattete Geistseele des Menschen sei befähigt, jenes unveränderlich Schöne zu erkennen und erkennend zu schauen. Aufgrund solcher Schau (θεωρία) nehme die Geistseele das Schöne an den Dingen jeweils wie eine Spur (ἴχνος) der transzendenten Schönheit wahr.

Plotin zufolge existiert die Schönheit als eine von jeglicher Materialität freie unveränderliche Idee[10]. Ihr gegenüber seien die «sinnlich schönen Dinge nur Abbilder, gleichsam entsprungene, in die Materie eingedrungene Schatten»[11]. Letztere stehen im Dienst des von den Platonikern gelehrten Aufstiegs. Plotin erwähnt sie nur, um im Sinne seiner Methode – es sei hier an die ursprüngliche Bedeutung dieses Terminus μέθοδος erinnert – von ihnen weg «zur Schau des weiter droben liegenden Schönen»[12] zu kommen. «Betroffenheit, süße Erschütterung, Verlangen, Liebe und lustvolles Beben» begleiten diese Schau. Weit mehr als bei der Betrachtung sinnlicher Dinge ist die Geistseele «entzückt, gepackt und gerührt», weil sie gleichsam schauend ‹berührt›, was geistig, unveränderlich und deshalb wahrhaft ist[13].

Im Maße die Geistseele sich mit der ihr wesensverwandten Schönheit beschäftigt, wird sie ihres eigenen Schönseins inne, denn, indem sie sich dieser Schönheit ausschließlich zuwendet, wird sie wahrhaft Seele[14]. Schön, so lehrt also Plotin, ist eigentlich nur das der Veränderung nicht unterworfene geistige Sein. Dieses ist, weil zeit- und raumenthoben wahr, und darum zugleich auch gut. Wer es genießen will, darf sich bei den mit den Sinnen wahrgenommenen schönen Dingen nicht aufhalten. Ιn der Schau, in der Theorie, wozu die schönen Dinge als Abbilder, Spuren und Schatten den Betrachter anleiten[15], wird das Schöne zum Wegweiser der zeit- und raumlosen Schönheit[16].

Man versteht Augustins Lehre über die Kunst und über den Kunstgenuss nur vor dem Hintergrund der hier in der gebotenen Kürze dargestellten Enneade 1,6, die Plotins frühphilosophisch religiös und metaphysisch bestimmtem Denken angehört[17]. Deren Lektüre musste den vor seiner Bekehrung stehenden Rhetor ungemein fasziniert und infolgedessen auch seine Auffassung von der Kunst und vom Kunstschaffen entscheidend beeinflusst haben. Beides, so erklärt er im Frühdialog De ordine – Über die Ordnung, ist nur geistbegabten Wesen eigen, und dies unterscheidet den Menschen von allen übrigen Gattungen der Lebewesen auf Erden. Die Schwalbe, so führt er aus, baue ihr Nest zwar mit einer Fertigkeit sondergleichen, aber in dieser staunenswerten, jedoch stereotypen Technik zeige sich zugleich ihr auf das Fehlen von Intelligenz zurückzuführendes künstlerisches Unvermögen. Ähnliches müsse von der ihre Waben nach mathematischen Proportionen bauenden Biene gesagt werden. Tiere agieren unwissend und instinktiv: «nescientes ... operante natura». Der kunstschaffende Mensch übertrifft sie nicht an der Anzahl der zu schaffenden Objekte, wohl aber an Erkenntnis der dem Kunstschaffen zugrunde liegenden Zahlen, «non ... numerosa faciendo, sed numeros cognoscendo»[18].

Augustin gibt sich indes mit dieser Unterscheidung zwischen Tier und Mensch in Sachen Kunstverständnis noch nicht zufrieden. Da der Umgang mit der Kunst seiner Auffassung nach theoretische Einsichten erfordert, hält er auch beim Menschen eine allein auf Erfahrung und technischem Vermögen aufruhende Kunstausübung keineswegs für hinreichend, um bei einem über solche Fertigkeit verfügenden Menschen von Kunstsinn reden zu können. Er nennt deshalb diese Art künstlerischen Agierens eine ‹ars uulgaris›, eine vulgäre Kunst, die er von der Kunst als Disziplin scharf abhebt[19]. Ein Sänger z.B. sei dank seines Harmoniegefühls auch dann imstande, richtig zu singen, wenn er von den Gesetzmäßigkeiten der Musik nichts verstünde. Er singe gegebenenfalls sozusagen von Natur aus, ‹operante natura›, und nicht selten ohne jeglichen Sachverstand.

Mustergültig entfaltet Augustin sein Verständnis von Kunst in dem bereits erwähnten Unterrichtswerk Über die Musik[20]. Musik sei, so definiert er dort, «das Wissen um das richtige Gestalten»[21] sowie «das Wissen um die richtige Bewegung»[22]. Richtiges Gestalten (‹modulare›) wird durch das Maß (‹modus›) bestimmt, das sich in der Bewegung kundtut[23]. Den Kunstcharakter der Musik erblickt somit Augustin im Anschluss an die neupythagoreisch-neuplatonische Tradition in den dieser zugrundeliegenden mathematischen Verhältnissen, denn rechnerisch unanfechtbare Bewegungen machen diese zu einer Wissenschaft (‹scientia›). Er nennt die Musik deshalb auch eine «disciplina quae est de numeris»[24]. Von diesen Zahlen sind die einen, in der Regel ‹sensuales› genannt, in der gehörten Musik deshalb nachzählbar, weil sie rein rationalen Zahlen, sogenannten ‹numeri rationis›, die als ‹numeri iudiciales› die Gesetze der Musik bestimmen, folgen[25].

Gleiches gilt von den übrigen Künsten, schuf doch Gott als der Künstler, der ‹deus artifex› «alles nach Maß, Zahl und Gewicht», las Augustin in der Bibel (Wei 11,20)[26]. Was immer uns an Körpern entzückt, ist zahlenmäßig bestimmt. «Sie (die Körper) haben Formen, weil sie Zahlen haben. Nimm ihnen diese weg, und sie werden nicht mehr vorhanden sein», heißt es in der noch zum Frühwerk zählenden Schrift Über den freien Willen[27]. Dort lehrt Augustin von allen Künstlern, die Körperhaftes gestalten, dass sie sich in ihrem Schaffen gleichfalls von Zahlen leiten lassen, die sie mit den Augen ihres Geistes schauen, denen sie bei der Kunstausführung bis in die Bewegung ihrer Glieder folgen.

«Betrachte die Schönheit eines gestalteten Körpers: Zahlen sind im Raum eingefangen. Betrachte die Schönheit einer Bewegung im Körper: Zahlen wirken in der Zeit. Nun betrete die Kunst als Disziplin, die sie hervorbringt; suche Zeit und Raum in ihr: Niemals und nirgends wirst du sie finden, und dennoch lebt in ihr die in einem unausgedehnten Reich und in einem zeitlosen Alter wesende Zahl»[28]. So lange schafft der Künstler an seinem Werk, bis er damit zufrieden ist und sagen kann, es sei vollkommen – vollkommen im Sinne möglicher Annäherung an die im Geiste geschauten Kunst[29].

An diesem nicht nur qualitativen, sondern essentiellen Unterschied zwischen der Kunst und dem Kunstwerk wird Augustin sein Leben lang festhalten. Eine von einem Handwerker angefertigte Lade, so führt er noch Jahrzehnte später aus, kann morsch werden, nicht dagegen die rein begrifflich vorzustellende Kunst, dank derer Kunstwerke überhaupt angefertigt werden können. Letztere wohnt zeitenthoben in der Seele der Künstler und vermag immer und immer wieder aufs neue in endlosen Variationen von Kunstwerken in Erscheinung zu treten[30].

Wie die Platoniker, so können wir resümierend sagen, stellt auch Augustin die Kunst als ein streng rationales Bezugssystem von Zahlen jedwedem vergänglichen Kunstwerk gegenüber. Mit ihnen hält er an ihrer Transzendentalität fest. Unvergleichlich schöner ist sie dort als in jedwedem noch so vollkommen ausgeführten Kunstwerk. Sie hat nach seiner neuplatonisch idealistischen Ontologie ein in der Transzendenz gründendes Prä und kann infolgedessen von keinem Künstler eingeholt werden. Der Kirchenvater kann nicht genug betonen: Kunstwerke sind vergänglich, die Kunst selbst ist dies ganz und gar nicht[31].

3. Der Kunstgenuss

Diesem ausgeprägt rationalen Kunstverständnis Augustins korrespondiert seine Auffassung vom Kunstgenuss, die von einem Genuss der Sinne tunlichst absieht. Abermals bestimmen philosophische Theorien die einschlägige Lehre. Sie lassen sich an der Erkenntnistheorie sowie an der Ethik des Kirchenvaters aufzeigen[32]. Die augustinische Erkenntnislehre hat die ebenfalls auf die Platoniker zurückgehende Verhältnisbestimmung von Seele (eigentlich Geistseele, ‹anima rationalis›)[33] und Leib (‹corpus›)[34] zur Voraussetzung. Der zufolge befinden sich die rationale Seele und der materielle Leib auf verschiedenen Stufen des Seins. Dank ihrer rationalen Natur steht die Geistseele unter allen Geschöpfen Gott am nächsten[35]. Sie ist unvergleichlich besser als der Leib und behält diesem gegenüber die Oberherrschaft[36]. Gewiss sind die Sinnesorgane im Bereich des Leibes angesiedelt, sie stehen aber, weil von der Seele belebt, in deren Dienst.

Nicht nur das Erkennen (‹cognoscere, intellegere›), auch das Wahrnehmen mit Hilfe der Sinne (‹sentire›) ist Sache der Seele (‹actio animae›). Nicht das Auge, sondern die Seele sieht mittels der Augen, die Seele hört auch mittels der Ohren. Objekte im Außenbereich (‹foris›) wirken zwar auf den Leib ein, aber die Seele empfindet dies, indem sie drinnen (‹intus›) das Geschehen im Bereich der Sinne aufmerksam verfolgt[37]. Ja, die Seele wird umso mehr auf der Hut sein, als ihr die Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung bekannt ist[38], was sie mit ihrer Vernunft überprüft.

Was nimmt die Seele über die Sinne wahr, wenn nicht Gestaltetes und Geformtes an veränderlichen Dingen[39]. Da diese Dinge nach der neuplatonischen Ontologie Augustins ihre jeweilige Gestalt und Form ihrer in der Transzendenz gründenden unveränderlichen Gestalt (‹species›) und Form (‹forma›) verdanken[40], an der sie teilhaben[41], die sie jedoch stets nur mangelhaft abbilden[42], wird die Geistseele, deren adäquater Erkenntnisstoff das geistig Seiende ist, sich mit der Wahrnehmung des Gestalteten und Geformten allein nicht zufrieden geben. Sie wird aber die Wahrnehmung als Antrieb benützen, um zur Schau der Gestalt und der Form selbst zu gelangen. In zahlreichen Texten demonstriert Augustin den Weg des Geistes, der über die Wahrnehmung des Gestalteten und Geformten zur Erkenntnis der mit den unveränderlichen Zahlen identischen reinen Gestalt und reinen Form in der Transzendenz führt[43]. Erkennen hat das Unveränderliche (‹immutabilitas›), die Einheit (‹unitas›), die Wahrheit (‹ueritas›), das höchste Gut (‹summum bonum›), und die Schönheit (‹pulchritudo›), letzten Endes Gott als Inbegriff all dieser transzendenten Gegenstände zum Ziel[44].

Die von den Platonikern angenommene Aufteilung des Seienden in Veränderliches und Unveränderliches und die radikale Unterordnung alles Veränderlichen unter das Unveränderliche bestimmen auch Augustins Ethik, die darüber hinaus weithin der von den Neuplatonikern ebenfalls noch geteilten Lehre von der gestuften Ordnung aller Dinge, dem ‹ordo rerum›, verpflichtet ist[45]. Danach befindet sich der mit Willensfreiheit ausgestattete Mensch in der Mitte dieses ‹ordo› und zugleich in einem Geflecht von Beziehungen zu dessen Teilen über und unter ihm[46]. Diese Beziehungen wecken Bedürfnisse, deren Stillung an die Weisungen des der kosmischen Ordnung innewohnenden zeitlosen Ge­setzes, der ‹lex aeterna›, gebunden ist[47]. Den Weisungen dieses Geset­zes zufolge sind die Dinge innerhalb der vorgegebenen Ordnung entwe­der zum Genuß (‹frui›) oder zum Gebrauch (‹uti›) bestimmt[48] – zum Genuss die unveränderlichen Dinge, die ‹res aeternae›, die um ihrer selbst willen zu erstreben sind, zum Gebrauch die veränderlichen Dinge, die ‹res temporales›, die zur Erlangung der zum Genuss bestimmten verhelfen sollen. Wir sprechen zwar vom Genießen auch in bezug auf den Gebrauch zeitlicher Dinge, aber dies ist nicht sachgerecht, stellt Augustin in De doctrina christiana 1,37 fest, denn die zum Genuss bestimmten Dinge müssen zeitlosen Bestand haben.

Dieses Schema aus der Ethik überträgt Augustin auch auf seine Ästhetik. Kunst zielt zweifelsohne auf Genuss, nur verwendet der Kirchenvater dafür nicht die Begriffe ‹frui› und ‹fruitio›[49], sondern bevorzugt ‹delectare› und ‹delectatio›[50]. Obgleich Augustin die beiden letztgenannten Vokabeln nicht ausschließlich der Bezeichnung des Kunstgenusses reserviert, so legt er doch denkbar großen Wert darauf, dass im Kontext von der Kunst diesbezüglich terminologische Klarheit herrscht: ‹delectatio rationabilis pulchritudinis – Freude an der geistigen Schönheit› z.B. ist unmissverständlich[51]. Deshalb klärte er bereits erwähnten Frühschrift De ordine den Doppelcharakter des ‹delectatio›-Begriffes. Von der Definition der Vernunft (‹ratio›) ausgehend[52], bestimmt er als ‹rationale›, was sich der Vernunft bedienen kann, als ‹rationabile› hingegen, was durch die Vernunft getan oder gesagt wird. Letzteres wird den Dingen der Natur abgesprochen[53]. Ein anderes ist demnach die ‹carnalis delectatio› der Sinne, ein anderes die ‹delectatio rationis› der Geistseele, die sich, wie eingangs erwähnt, der Künste bedient, um den Aufstieg aus der Welt der Sinne in die des Geistes zu vollziehen.

Der frühe Augustin, so haben wir gesehen, macht das Wesen der Kunst an den Zahlen und Zahlenverhältnissen fest. Gewiss bewirkt deren Ausführung in der Architektur z.B. oder in der Musik im Betrachter oder im Hörer einen Genuss[54], aber Augustin geht entweder geringschätzend darüber hinweg, oder er ‹benützt› das Gesehene oder Gehörte ganz im Sinne von ‹uti – Gebrauchen› – heute würden wir sagen, er instrumentalisiert das Kunstwerk, um als Wahrnehmender über das Wahrgenommene hinweg zur ‹fruitio – Genuss› im erwähnten Sinn bzw. zur ‹delectatio mentis – geistigem Ergötzen› zu gelangen. Hilfreiche Parallelen findet er abermals im biblischen Schöpfungsglauben. Wie über seine Werke in der Schöpfung spricht Gottes Weisheit auch über ein Kunstwerk den Betrachter an und ruft ihm zu, sich nicht ins Äußere zu verirren, sondern sich ins Innere zurückzuziehen[55], um das wahrgenommene Werk dort anhand der im Geist geschauten unveränderlichen Gesetze der Schönheit, der ‹pulchritudinis leges›, zu beurteilen[56]. Im Vollzug der Befähigung, dies zu tun, kommt es zum Kunstgenuss.

Die Höherwertigkeit des sinnenenthobenen Kunstgenusses gegenüber dem sinnlich vermittelten resultiert aus der dargestellten Lehre vom gestuften ‹ordo rerum›. Der Kunstverständige orientiert sich bei der Beurteilung eines Kunstwerkes nicht am Stoff – im Bilde der gestuften Ordnung des Kosmos: von der Mitte betrachtet unten –, sondern am Geist – im Bilde wieder: von der Mitte betrachtet oben. Solcher Kunstgenuss bewirkt zugleich ein Ordnen der Seele, wozu Augustin den Leser von De musica ermuntert. Wer sich im Rahmen des vorgegebenen ‹ordo› nicht von ‹unten› (‹deorsum›) bestimmen läßt, den Genuß vielmehr ausschließlich ‹oben› (‹sursum›) sucht, der findet zugleich das Gleichgewicht seiner Seele, «denn der (recht verstandene) Kunstgenuss ordnet die Seele»[57]. Einen zur Gewohnheit gewordenen, geistlosen Umgang mit der Kunst, der über die Sinne nicht hinaus führt, bringt Augustin mit dem Sündenfall in einen Zusammenhang. Er ist dessen Folge. Durch die Einübung in den Genuss geistiger Dinge könne jener Zustand zwar nicht behoben, jedoch erheblich eingedämmt werden. Diese Verknüpfung der Ästhetik mit der Ethik ist nicht nur für den jungen Augustin, sondern auch für den späten charakteristisch[58].

4. Die Kunst im Dienst der Verkündigung

Augustin hatte wache Sinne. Sein Biograph Possidius hielt es immerhin für erwähnenswert, dass der greise Bischof mit ungeschwächtem Augenlicht und Gehör entschlief[59]. Er war ein Ästhet, und Themen der Ästhetik durchziehen unter wechselnden Gesichtspunkten sein ganzes schriftstellerisches Schaffen[60]. Dem aufmerksamen Leser seiner Werke wird eine gewisse Spannung in der Darstellung der Kunst und des Kunstgenusses nicht entgehen. Dies dürfte mit der Vertiefung in die Lehre der Bibel insbesondere des reifen Augustinus zusammenhängen.

Bei aller Betonung des Vorranges der Gotteserkenntnis, der Gotteserfahrung und des Gottgenießens beurteilen biblische Schriftsteller Gottes Werke in Raum und Zeit, damit freilich indirekt auch des Menschen Werke positiver als die Neuplatoniker. Verständlicherweise redet der Seelsorger Augustinus nicht mehr vordergründig von der Kunst und vom Kunstgenuss. Sein pastorales Anliegen, wozu ihm der Psalter eine Fülle von Anregungen gab, ist das Gotteslob. In den Psalmen las er die vielfache Aufforderung, Gottes Geschöpfe sollen ‹den Herrn preisen› (vgl. Psalm 145,10).

Wie erwähnt, verglich Augustin den Schöpfer gerne mit einem Künstler und Gottes Geschöpfe mit Werken eines Künstlers. So ist es auch verständlich, wenn er Gottes Werke im einzelnen wie im ganzen im Horizont seiner Hermeneutik, die auch sein Kunstverständnis prägt, auslegt (Hermeneutik = Kunst der Auslegung). Nach dem Grundprinzip dieser Hermeneutik verweist alles Veränderliche auf das Unveränderliche, das für Augustin letztlich mit dem sich auch in seinen Geschöpfen offenbarenden Schöpfer identisch ist[61]. Im Römerbrief sah er dieses sein hermeneutisches Grundprinzip bestätigt. Dort las er 1,19f.: «Was man von Gott erkennen kann, ist ihnen (den Menschen) offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit»[62]. Es ist interessant zu sehen, wie Augustin versucht, Rm 1,19f. interpretatorisch gerecht zu werden, wie er aber auch darin seiner rationalen Ästhetik treu bleibt. Es bereitet ihm keine Probleme, die Werke des Schöpfers nicht nur schön, sondern sogar eine ‹große Schönheit – magnam pulchritudinem› zu nennen, aber es würde ihm Probleme bereiten, wollte jemand bei dieser Art Schönheit verweilen[63].

Die Versenkung in die Schönheit der veränderlichen Dinge der Welt, in die ‹pulchritudo mundi huius›, wird bei dem in die Bibel sich vertiefenden Künstler Augustin zum unverzichtbaren Vehikel der Gotteserkenntnis, der Gotteserfahrung und auch des Gottgenießens. Sprachlich unerreicht beschreiben dies seine Confessiones. Sie selbst sind ein Kunstwerk von höchstem literarischen Rang und stellen indirekt zugleich mustergültig dar, wie ihr Verfasser sie einschätzte und wie er sie pastoral einsetzte. In seinen ebenfalls schon erwähnten Retractationes bemerkt er zu diesem einmaligen Werk der Weltliteratur[64], er habe mit seinen Bekenntnissen Intellekt und Affekt des Menschen auf Gott hin lenken wollen. Bei ihm selbst hätten diese, schon als er sie schrieb, dies bewirkt, und sie bewirkten es immer noch, so oft er sie lese. Was andere dabei empfänden, überlasse er dem Leser. Er wisse jedoch, so fügt er hinzu, dass sie vielen gefallen hätten und immer noch gefielen[65].

Im zehnten Buch dieser Confessiones schildert er ausführlich die Schönheit der Kreaturen zunächst draußen, Stufe um Stufe, sodann auch drinnen, in den weiten Hallen seines Gedächtnisses, seiner ‹memoria›. Er befragt sie alle, ob sie Gott seien, bei dem sein suchender Geist Frieden finde, sie antworten: «Nein, wir sind nicht dein Gott; suche über uns».

Der Künstler Augustin gestaltet dieses ästhetische Abtasten des ‹ordo rerum› zu einer ‹peregrinatio›, zu einer Reise seiner Seele, und er zeigt schließlich, wie diese Gott, den Inbegriff aller Schönheit nicht draußen, sondern in den Tiefen ihrer Innerlichkeit als den Transzendenten finden kann – und wie er, Augustin, diesen Gott gefunden hat. Er besingt dann Gottes alte und ewig neue Schönheit: «Spät habe ich dich geliebt, du Schönheit, so alt und so neu, spät habe ich dich geliebt. Und siehe, du warst drinnen, und ich war draußen, und dort suchte ich dich. Und mißgestaltet warf ich mich der Wohlgestalt in die Arme, die du geschaffen hast. Du warst mit mir, und ich war nicht bei dir. Weit hielten mich von dir die Dinge, die nicht wären, wenn sie nicht in dir wären. Doch du hast laut gerufen und meine Taubheit zerrissen; du hat geblitzt und gestrahlt und meine Blindheit in die Flucht geschlagen; du hast geduftet, und ich atmete ein und lechze jetzt nach dir; ich habe gekostet, nun hungere und dürste ich; du hast mich berührt, und so bin ich entbrannt nach deinem Frieden»[66].

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[1] Augustin differenziert zwar zwischen ‹artes› und ‹disciplinae›, er hält diese Unterscheidung aber nicht durch und gebraucht die Begriffe promiscue. Zu den ‹artes› in der Antike I. Hadot, Arts liberaux et philosophie dans la pensée antique, Paris 1984.

[2] Zur Siebenzahl der Disziplinen und deren Ordnung im Gesamtwerk Augustins W. Hübner, Die artes liberales im zweiten Buch von De ordine: Augustinus (FS Oroz Reta) 39 (1994) 317-344.

[3] Retractationes 1,5,6. Zum varronischen oder neuplatonischen Einfluss W. Hübner 322, Anm. 29.

[4] Seine Absicht, einen zweiten Teil über die Melodie zu schreiben, bezeugt die Epistula 101,3 an Bischof Memorius: « ... quando conscripsi de solo rhythmo sex libros et de melo scribere alios forsitan sex, fateor, disponebam». De facto handelt De musica vom Metrum, vom Rhythmus und vom Vers.

[5] Neben manichäischen dürften wohl auch platonische, ciceronianische, stoische und neupythagoräische Gedanken zu nennen sein; vgl. C. Harrison, Beauty and revelation in the thought of Saint Augustine, Oxford 1992, 4 mit Literatur.

[6] Confessiones 4,20.

[7] Ib. 4,24. Siehe dazu die Interpretation bei K. Svoboda, L’esthétique de saint Augustin et ses sources, Brno 1933, 10-16.

[8] Confessiones 7,13; siehe C.P. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus, Würzburg 1969, 127-140.

[9] De Isaac 8,78. Zur Vermittlung der neuplatonischen Philosophie über Ambrosius und über den Kreis um den Bischof von Mailand siehe Confessiones 7,13 und P. Courcelle, Recherches sur les Confessions de saint Augustin, Paris 21968, 106-138.

[10] Von den schönen Dingen sagt Plotin 1,6,2: μετοχῇ εἴδους φαμὲν ταῦτα.

[11] Ib. 1,6,3: εἴδωλα καὶ σκιαὶ ἐκδραμοῦσαι.

[12] Ib.1.6,9: ἄναγε ἐπὶ σαuτὸν καὶ ἴδε.

[13] Ib. 1,6,4: ἄτε ἀληθινῶν.

[14] Ib. 1.6,6: ὅτι τότε ἐστὶν ὄντως μόνον ψυχή.

[15] Ib. 1,6,8: ὥς εἰσιν εἰκόνες καὶ ἴχνη καὶ σκιαί.

[16] Ib. 1,6,9: πλὴν ἐκεῖ τὸ καλόν, lautet das plotinische Resümee.

[17] J. Barion, Plotin und Augustin. Untersuchungen zum Gottesproblem, Berlin 1935, 55 f.

[18] De ordine 2,49.

[19] Er definiert sie in De uera religione 54: «ita reperitur nihil esse aliud artem uulgarem, nisi rerum expertarum placitarumque memoriam usu quodam corporis atque operationis adiuncto, quo si careas iudicare de operibus possis, quod multo excellentius, quamuis operari artificiosa non possis». Ähnlich schon Platon in Gorgias 463b und Ion 541e-542b sowie Cicero in De oratore 1,108 f.; 2,216 nach K.-H. Lütcke, Ars: Augustinus-Lexikon 1 (1986-94) Sp. 459-465 Anm. 4.

[20] Umfassende Darstellung bei A. Keller, Aurelius Augustinus und die Musik. Untersuchungen zu «De musica» im Kontext seines Schrifttums, Würzburg 1993.

[21] De musica 1,2: «musica est scientia bene modulandi». Zur varronischen Herkunft dieser Definition siehe K. Svoboda 67 und H.-I. Marrou, Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris 41958, 199.

[22] Ib. 1,3: «ergo scientiam modulandi iam probabile est esse scientiam bene mouendi».

[23] Vgl. A. Keller 77.

[24] De musica 1,22. Siehe den aufschlussreichen Aufsatz von A. Schmitt, Zahl und Schönheit in Augustins De musica, VI: Würzburger Jahrbücher für Altertumswissenschaft, N.F. 16 (1990) 221-237; zum varronisch-neupythagoreischen Charakter dieser Zahlenspekulation W. Hübner 319; zum ontologischen Grund der Zahl für alles Seiende bei Augustin W Beierwaltes, «Aequalitas numerosa». Zu Augustins Begriff des Schönen: Wissenschaft und Weisheit 38 (1975) 140-157.

[25] Besonders im 6. Buch von De musica analysiert Augustin die unterschiedlichen Zahlen und deren prinzipielle Zweiteilung in ‹numeri temporum› und in ‹numeri rationis›. In De musica 6,2-22 werden die ‹numeri sonantes›, die ‹occursores›, die ‹recordabiles› und die ‹progressores› als ‹sensuales› zu den ‹numeri temporum› gezählt; von ihnen scharf abgehoben sind die ‹numeri iudiciales› als die ‹numeri rationis›.

[26] Enarrationes in Psalmos 41,7: « ... quid agam, ut inueniam deum meum? considerabo terram: facta est terra. est magna pulchritudo terrarum; sed habet artificem». Siehe C. Mayer, Creatio, creator, creatura: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) Sp. 56-116, sowie die dort zitierte ungedruckte Dissertation von A.F. Müller, Ars divina. Eine Interpretation der Artifex-Deus-Lehre des heiligen Augustinus, München 1955.

[27] De libero arbitrio 2,42: «formas habent quia numeros habent; adime illis haec, nihil erunt».

[28] Ib.: «inspice iam pulchritudinem formati corporis: numeri tenentur in loco; inspice pulchritudinem mobilitatis in corpore: numeri uersantur in tempore; intra in artem unde isti procedunt, quaere in ea tempus et locum: numquam erit, nusquam erit, uiuit in ea tamen numerus nec eius regio spatiorum est nec aetas temporum».

[29] In De Genesi aduersus Manicheos 1,13 vergleicht Augustin das Schaffen des Schöpfers mit einem Holz modellierenden ‹homo artifex›: «miseri homines, quibus displicet, quod deo placuerunt opera sua, cum uideant etiam hominem artificem, uerbi gratia, lignarium fabrum, quamuis in comparatione sapientiae et potentiae dei pene nullus sit, tamen tam diu lignum caedere atque tractare dolando, asciando, planando, uel tornando atque poliendo quousque ad artis regulas perducatur, quantum potest, et placeat artifici suo. numquid ergo quia placet ei quod fecit, ideo non nouerat bonum? prorsus nouerat intus in animo, ubi ars ipsa pulchrior est, quam illa quae arte fabricantur. sed quod uidet artifex intus in arte, hoc foris probat in opere, et hoc est perfectum quod artifici suo placet».

[30] In lohannis euangelium tractatus 1,17: «faber fecit arcam. primo in arte habet arcam: si enim arcam non haberet, unde illam fabricando proferret? sed arca sic est in arte, ut non ipsa arca sit, quae uidetur oculis. in arte inuisibiliter est, in opere uisibiliter erit. ecce facta est in opere; numquid destitit esse in arte? et illa in opere facta est, et illa manet quae in arte est: nam potest illa arca putrescere, et iterum ex illa quae in arte est alia fabricari. adtendite ergo arcam in arte, et arcam in opere. arca in opere non est uita, arca in arte uita est; quia uiuit anima artificis, ubi sunt ista omnia antequam proferantur».

[31] In Iohannis euangelium tractatus 37,8: «et si domus ruat, ars manet».

[32] Augustin befasst sich mit erkenntnistheoretischen Fragen vorzüglich in De musica 6; De uera religione 33-36; De Genesi ad litteram 12; De trinitate 9. Ihre beste Darstellung bietet immer noch B. Kälin, Die Erkenntnislehre des hl. Augustinus, Sarnen 1920; empfehlenswert ist auch E. Gilson, Introduction a l’étude de saint Augustin, Paris 21943, 71-137 = Der heilige Augustin. Eine Einführung in seine Lehre, Hellerau 1930, 105-190. Über die Ethik Augustins informiert umfassend J. Mausbach, Die Ethik des heiligen Augustinus 1-2, Freiburg 21929.

[33] Zur Terminologie ‹anima›, ‹animus›, ‚‹anima rationalis›, ,‹anima irrationalis› bei Augustinus G.J.P. O’Daly, Anima, animus: Augustinus-Lexikon 1 (1986-1994) Sp. 315-340, speziell Sp. 313 f.

[34] Zum Leib und dessen Verhältnis zur Seele M.R. Miles, Augustine on the Body, Missoula, Montana 1979; dieselbe, Corpus: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) 6-20.

[35] De quantitate animae 77: «quemadmodum fatendum est, animam humanam non esse, quod deus est, ita praesumendum nihil inter omnia, quae creauit, deo esse propinquius».

[36] De musica 6,8: «numquam enim anima est corpore deterior», und ib. 6,12: «corpus semper minus quam ipsa (sc. anima)» sowie ib. 6,9: «ego enim ab anima hoc corpus animari non puto, nisi intentione facientis».

[37] In De musica 6,9 deutet Augustin das Empfinden (‹sentire›) als ein Geschehen, das der Seele nicht verborgen bleibt: «cum eam non latet, sentire dicitur».

[38] In der Frühschrift Contra Academicos 3,26 widerlegt Augustin die These der Skeptiker von der Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung mit dem Argument, Wahrnehmung sei nicht Sache der Sinne, sondern der Seele; cf. auch De uera religione 61-67.

[39] Veränderliche Dinge bestehen aus der gestalteten, die Veränderung verursachenden reinen Materie. Von ihr sagt Augustin in den Confessiones 12,6, sie ist gleichsam die «mutabilitas ... rerum mutabilium» und als solche ist sie «ipsa capax ... formarum omnium, in quas mutantur res mutabiles». Ihre Aufgabe ist es, «ut species caperet istas uisibiles et compositas».

[40] Augustin entfaltet diese platonische Lehre von der Idee und der Teilhabe der Dinge an den Ideen in der Quaestio 46 seiner Schriftensammlung De diuersis quaestionibus octoginta tribus, in der er Platons Lehre sogleich christlich interpretiert. Siehe dazu die Monographie von J. Ritter, Mundus intelligibilis. Eine Untersuchung zur Aufnahme und Umwandlung der neuplatonischen Ontologie bei Augustinus, Frankfurt a.M. 1937.

[41] Siehe G. Koch, Augustins Lehre von der Teilhabe. Untersuchungen zur Bedeutung des participatio-Begriffes im Werke des hl. Augustinus, Dissertation Freiburg 1958 (maschinenschriftl.).

[42] Körper weisen neben der Ähnlichkeit (‹similitudo›) zu ihrem Urbild immer auch ein gehöriges Maß an Unähnlichkeit (‹dissimilitudo›) auf. Sie streben zwar nach Identität mit dem, was sie abbilden und ohne das sie nicht im Sein zu bleiben vermögen, aber sie können ihre transzendente Vorlage nie einholen. Siehe C. Mayer, Die Zeichen 271-284.

[43] De libero arbitrio 2,41: «si ergo, quidquid mutabile aspexeris, uel sensu corporis uel animi consideratione capere non potes, nisi aliqua numerorum forma teneatur, qua detracta in nihil recidat, noli dubitare, ut ista mutabilia non intercipiantur, sed dimensis motibus et distincta uarietate formarum quasi quosdam uersus temporum peragant, esse aliquam formam aeternam et incommutabilem, quae neque contineatur et quasi diffundatur locis neque protendatur atque uarietur temporibus, per quam cuncta ista formari ualeant et pro suo genere implere atque agere locorum ac temporum numeros».

[44] Enarratio in Psalmos 32,2,1,7: «sapientia dei quam pulchritudinem habet? per illam pulchra sunt omnia, quae oculis placent». Augustin interpretiert diese ‹pulchritudo› oft trinitätstheologisch als «pulchritudo quae est in forma dei», so ib. 103,1,6.

[45] Siehe die Darstellung von J. Rief, Der Ordobegriff des jungen Augustinus, Paderborn 1962.

[46] Enarrationes in Psalmos 144,7; «qui enim fecit omnia, ipse nos fecit inter omnia».

[47] In Contra Faustum 22,27 definiert Augustin: «lex uero aeterna est ratio diuina uel uoluntas dei ordinem naturalem conseruari iubens, perturbari uetans».

[48] Augustin verbindet die beiden Begriffe zu einem Schema (‹uti-frui›). Wichtige Texte dazu: De diuersis quaestionibus octoginta tribus 30; De doctrina christiana 1,3 f.; De trinitate 10,17. Zum Begriffspaar siehe die beiden Aufsätze von R. Lorenz, Fruitio dei bei Augustin: Zeitschrift für Kirchengeschichte 63 (1950/51) 75-132; Die Herkunft des augustinischen Frui Deo: ib. 64 (1952/53) 34-60.

[49] Siehe H. Chadwick, Frui-uti: Augustinus-Lexikon 3 (2004) 70-75.

[50] Siehe C. Mayer, Delectatio: Augustinus-Lexikon 2 (1996-2002) 267-285.

[51] De ciuitate dei 22,30.

[52] Im Anschluss an Ciceros De officiis 1,4,11 definiert er in De ordine 2,30: «ratio est mentis notio ad ea, quae discuntur, distinguendi connectendi potens».

[53] Ein süßes Getränk, das dem Menschen Genuss (‹delectatio›) bereitet, schmeckt nicht vernunftgemäß, heißt es in De ordine 2,32.

[54] Vgl. De musica 6,23.

[55] Augustin spricht von einem inneren Organ und besingt die ‹pulchritudo intrinsecus› wiederholt in seinen Predigten, wie z.B. in den Enarrationes in Psalmos 44,29: «intus amat, intus ametur qui interiorem facit et ipsam pulchritudinem». Ib. 96,19: «est enim oculus unde illa pulchritudo uideatur. nam quomodo oculus carnis, unde lux ista uideatur, sic est oculus cordis». Siehe F. Körner, Das Prinzip der Innerlichkeit in Augustins Erkenntnislehre, Dissertation Würzburg 1952 (maschinenschriftl.).

[56] De libero arbitrio 2,41: «quoquo enim te uerteris, uestigiis quibusdam quae operibus suis inpressit loquitur tibi (sc. sapientia) et te in exteriora relabentem ipsis exteriorum formis intro reuocat, ut, quidquid te delectet in corpore et per corporeos inlicit sensus, uideas esse numerosum et quaeras unde sit et in te ipsum redeas atque intellegas te id quod adtingis sensibus corporis probare aut inprobare non posse, nisi apud te habeas quasdam pulchritudinis leges ad quas referas quaeque pulchra sentis exterius».

[57] De musica 6,29: «ita deo et domino nostro opitulante ordinemus, ut inferioribus non offendamur, solis autem superioribus delectemur. delectatio quippe quasi pondus est animae. delectatio ergo ordinat animam».

[58] W. Hübner 332.

[59] Possidius, Vita Augustini 31 (Ausgabe: M. Pellegrino, Possidio, Vita di s. Agostino, Alba 1955).

[60] Neben der Arbeit von K. Svoboda, deren Analysen sich auch auf die späteren Schriften erstrecken, siehe die schon erwähnte jüngere von C. Harrison, der die Aufmerksamkeit des Lesers bewusst auf den späteren Augustin lenkt, ferner K.-H. Lütckes Artikel im Augustinus-Lexikon.

[61] Augustin entfaltet die Prinzipien seiner Hermeneutik in der Schrift De doctrina christiana 1. Dazu C. Mayer, Prinzipien der Hermeneutik Augustins und daraus sich ergebende Probleme: Forum Katholische Theologie 1 (1985) 197-211.

[62] Siehe vor allem De doctrina christiana 1,4 sowie Confessiones 10,10; dazu G. Madec, Connaissance de Dieu et action de grâces. Essai sur les citations de l’Ép. aux Romains I,18-25 dans l’œuvre de saint Augustin: Recherches Augustiniennes 2 (1963) 273-309.

[63] So im Anschluss an Ps 145,10 «confiteantur tibi, domine, omnia opera tua» in Enarrationes in Psalmos 144,13: «quia cum eam (sc. ordinatissimam pulchritudinem) consideras et pulchram uides, tu in illa laudas deum. uox quaedam est mutae terrae, species terrae, adtendis et uides eius speciem, uides eius fecunditatem, uides eius uires; ... uides, et consideratione tua tamquam interrogas eam; et ipsa inquisitio interrogatio est. cum autem inquisieris admirans, et perscrutatus fueris, et magnam uim, magnam pulchritudinem praeclaramque uirtutem inueneris, quoniam apud se et a se habere hanc uirtutem non posset; continuo tibi uenit in mentem, quia non potuit a se esse, nisi ab illo creatore. et hoc quod in ea inuenisti, uox confessionis ipsius est, ut laudes creatorem, nonne considerata uniuersa pulchritudine mundi huius, tamqam una uoce tibi species ipsa respondet: non me ego feci, sed deus?».

[64] Siehe den Artikel Confessiones von E. Feldmann, Augustinus-Lexikon 1 (1986-94) Sp. 1134-1193.

[65] Retractationes 2,6: «Confessionum mearum libri tredecim et de malis et de bonis meis deum laudant iustum et bonum, atque in eum excitant humanum intellectum et affectum. interim quod ad me attinet, hoc in me egerunt cum scriberentur et agunt cum leguntur. quid de illis alii sentiant, ipsi uiderint; multis tamen fratribus eos multum placuisse et placere scio».

[66] Confessiones 10,38: «sero te amaui, pulchritudo tam antiqua et tam noua, sero te amaui! et ecce intus eras et ego foris et ibi te quaerebam et in ista formosa, quae fecisti, deformis inruebam. mecum eras, et tecum non eram. ea me tenebant longe a te, quae si in te non essent, non essent. uocasti et clamasti et rupisti surditatem meam, coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, flagrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi, gustaui et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam».