Der Realismus des heiligen Augustinus (354-430) bezüglich der Kirche ist ernüchternd und gläubig-zuversichtlich zugleich. Seinem 78. Brief ist zu entnehmen, wie der Bischof von Hippo mit der Verfehlung eines Klerikers umging, die in seiner Diözese Ärgernis hervorgerufen hatte. Im Kontext aktueller Debatten um sexuellen Missbrauch in der Kirche verdient dieser Hirtenbrief Augustins Beachtung / Von Erzbischof Prof. Dr. Ludwig Schick
Im Jahre 403 schrieb der hl. Augustinus einen Brief an „Seine geliebtesten Brüder, den Klerus, die Ältesten, das ganze Volk der Kirche von Hippo, der ich (Augustinus) in der Liebe Christi diene.“ Anlass für den Brief war der Vorwurf „einer schändlichen Tat“, die sich im Kloster des hl. Augustinus ereignet haben sollte. Ein Priester namens Bonifatius hatte einen Bruder des Klosters beschuldigt, worauf der Bruder den Priester desselben Vergehens bezichtigte. Augustinus nennt die schändliche Tat nicht beim Namen. Deshalb können wir nicht genau wissen, was vorgefallen war. Das Faktum war in der Diözese Hippo bekannt geworden und hatte bei vielen Gläubigen Ärgernis erregt, bei anderen hatte es Verurteilungen und auch Pauschalurteile gegen die Kleriker hervorgerufen.
Die Zeiten heute sind anders als zur Zeit des hl. Augustinus, Anfang des 5. Jahrhunderts. Aber dennoch ist es interessant, sich anzuschauen und zu bedenken, wie Augustinus mit dem Vorwurf und dem Ärgernis umging.
1. Zunächst stellt er sehr nüchtern fest, dass es Schuld und Sünden und daraus folgende Ärgernisse in der Kirche immer gab und geben wird. Er verweist dabei auf Worte Jesu, die voraussagten, dass Ärgernisse kommen werden (vgl. Mt 18, 6-10). Zugleich spricht Augustinus (mit Jesus) die Hoffnung aus, dass die Christen dennoch bis zum Ende ausharren mögen, damit sie gerettet werden. Wörtlich schreibt Augustinus: „Offenbar ist es allerdings, dass, wenn solche Dinge in der Kirche vorkommen, die Betrübnis der Heiligen und der Gläubigen groß ist. Doch möge uns der trösten, der alles vorausgesagt und uns ermahnt hat, wir sollten bei dem Übermaß der Bosheit nicht erkalten, sondern bis ans Ende ausharren, damit wir gerettet werden können.“
2. Trotzdem müssen schändliche Taten in der Kirche mit allen Mitteln verhindert werden. Die Feststellung, dass Ärgernisse in der Kirche vorkommen, darf nicht zu einem Laisser faire oder Laxismus führen. Augustinus schreibt wörtlich: „Denn wer über so etwas keinen Schmerz empfindet, in dem ist die Liebe Christi nicht.“ Und fügt verschärfend hinzu: „Wer aber sich über so etwas freut, der fließt über von der Bosheit des Teufels.“
3. Augustinus setzt auch alles daran, dass die Tat aufgeklärt wird. Die Beschuldigten machten widersprüchliche Aussagen und jeder hatte Befürworter auf seiner Seite und Gegner auf der anderen. Mit den menschlichen Möglichkeiten konnte keine Klarheit gefunden werden. Augustinus, der selbst ein ausgezeichneter Richter war, schickte deshalb die beiden Beschuldigten an das Grab des hl. Felix von Nola in Italien, nahe Neapel. An diesem Märtyrergrab, so sagte man, könnten die Menschen nicht anders, als die Wahrheit zu sagen. Aber auch diese Wallfahrt von Nordafrika nach Süditalien brachte kein Ergebnis.
4. Augustinus bekennt in diesem Hirtenbrief auch, dass er die Sache vertuschen wollte, was er im Nachhinein als nicht richtig erachtet. Er schreibt an seine Diözesanen: „Diesen überaus schweren Kummer meines Herzens hatte ich nicht zu eurer Kenntnis bringen wollen, um euch heftige und nutzlose Aufregungen und Betrübnis zu ersparen.“
5. Augustinus hatte sofort alles getan, um das „abscheuliche Übel“ abzustellen. Zugleich hatte er versucht, die Sache aus vermeintlich guten pastoralen Gründen geheim zu halten. Damit verschlimmerte er die Situation in seiner Diözese. Misstrauen breitete sich aus und Gerüchte kursierten. Augustinus zog die Lehre daraus, dass Offenheit von Anfang an und das Vertrauen in die Gläubigen, dass diese auch einen Skandal in der Kirche mittragen, wenn wahrhaftig damit umgegangen wird, letztlich besser ist. Er schreibt wörtlich: „Nach Möglichkeit habe ich dahin gestrebt, dass dieses abscheuliche Übel weder vernachlässigt werde noch zu eurer Kenntnis gelange, damit nicht die Starken im Geiste unnötigerweise mit Schmerz erfüllt, die Schwachen aber in gefährliche Aufregung versetzt würden.“
Dann fährt er fort: „Doch Gott hat nicht gewollt, dass euch die Sache verborgen bliebe.“ Und warum? „Damit ihr mit uns dem Gebet oblieget. Vielleicht wird er uns dann offenbaren, was er hierüber weiß, wir aber nicht wissen können.“
6. Augustinus wendet sich in einem eigenen Punkt gegen Pauschalurteile, die wegen des Vergehens in Hippo erhoben wurden.
Er schreibt, dass Leute zusammensitzen und Folgendes tun: „Denn wozu sitzen sie zusammen, auf was ist ihr Streben gerichtet, als darauf, wenn ein Bischof, ein Geistlicher oder eine Nonne gefallen ist, zu behaupten: So seien alle, nur könne es nicht bei allen ans Licht gezogen werden,“ und fährt dann fort: „wird irgendeine Ehefrau als Ehebrecherin erfunden, dann fällt es ihnen nicht ein, ihre eigenen Frauen zu verstoßen und ihre Mütter anzuklagen. Wenn aber Personen geistlichen Standes entweder ein erdichtetes Verbrechen unterschoben oder ein wirklich begangener Fehler nachgewiesen wird, dann bestehen sie darauf, man müsse von allen solches glauben, und können nicht genug herumlaufen, um diese Meinung zu verbreiten.“
7. Er schließt den Brief ab mit dem Bekenntnis, dass auch in Klöstern Menschen Schuld und Sünde auf sich laden: „Wie ich, seit ich anfing Gott zu dienen, nicht leicht bessere Menschen gefunden habe, als jene, die in Klöstern sich vervollkommnet haben, so habe ich auch keine schlechteren Menschen kennengelernt, als jene, die in Klöstern gefallen sind“. Augustinus insistiert darauf, dass besonders die Priester und Ordenschristen in der Kirche Vollkommenheit und Heiligkeit anstreben müssen; die Menschen erwarten es und dürfen es erwarten. Und der Kirchenvater weiß auch, dass deshalb das Vergehen eines Klerikers besonders schlimm, enttäuschend und zu verurteilen ist.
8. Augustinus schließt diesen Hirtenbrief ab, indem er schreibt: „So sehr wir uns also über einigen Auskehricht betrüben, so trösten wir uns doch wegen der weit zahlreicheren Perlen“. Dann wünscht er seinen Gläubigen: „Die Barmherzigkeit des Herrn, unseres Gottes, bewahre euch vor allen Nachstellungen des Feindes in seinem Frieden, geliebte Brüder.“
Resümee für heute
Der Realismus des hl. Augustinus bezüglich der Kirche ist ernüchternd und gläubig-zuversichtlich zugleich. Sünde und Schuld müssen beim Namen genannt und auch geahndet werden. Wer eine Untat in der Kirche begangen hat, darf nicht gedeckt und schon gar nicht befördert werden, sondern muss entfernt werden; dazu muss Klarheit über die Fakten mit allen Mitteln gesucht werden. Ein Vergehen in der Kirche, aus Rücksicht auf die Gläubigen und um Ärgernis zu vermeiden, zu verschweigen, ist verständlich, aber falsch. Die Gläubigen sollen es wissen, durch ihr Gebet mittragen und so die Kirche reinigen. Aus Liebe zur Wahrheit darf es wegen der Vergehen Einzelner keine Pauschalurteile geben, die immer falsch sind. Trotz Schuld und Versagen von Kirchengliedern, besonders von Priestern und Ordenschristen, ist und bleibt die Kirche Heilsgemeinschaft Jesu Christi (Civitas Dei - Gottesstaat), der immer neu und in großer Zahl Heilige (Perlen) hervorbringt.
Von Opfern ist keine Rede in dem Schreiben von Augustinus. Ob es welche gab, ist dem Brief nicht zu entnehmen. Aber Augustinus hat sich immer mit aller Kraft als guter Hirte für alle Menschen, besonders Kinder und Jugendliche eingesetzt, wie aus anderen Schriften hervorgeht.
Erzbischof Prof. Dr. Ludwig Schick