Ein Beitrag für die überregionale katholische Zeitung Die Tagespost vom 15. Januar 2008. Von Christof Müller
Augustinus von Hippo (354–430) erfreut sich innerhalb der Kulturgeschichte des Abendlandes in gewissen Abständen immer wieder verstärkter Beachtung. Dieses Phänomen, das ebenso in der Tiefe wie in der Breite des augustinischen Denkens seinen Grund hat, ist auch gegenwärtig zu konstatieren – nicht nur im päpstlichen oder binnentheologischen Umfeld und nicht nur in fachwissenschaftlichen Disziplinen, sondern gerade im Bereich des „Orientierungswissens“ auch im nichtakademischen Sinn. Worin jedoch sollten der spätantike Genius Augustins und der aktuelle „postmoderne“ Zeitgeist wenn nicht konvergieren, so doch immerhin korrespondieren und kommunizieren? Ein wesentliches Feld der Begegnung scheint mir die „Sinnsuche“ zu sein. Deren Präsenz im gegenwärtigen Zeitgeist bedarf keines gesonderten Aufweises, wohl aber die kolossale Kompetenz des Kirchenvaters auf diesem Felde.
Augustinus erblickt in Umbruchzeiten das Licht der Welt; alle Sicherheiten des römischen Reiches sind ins Wanken geraten. Die Menschen suchen Antworten auf ihre Ängste und Fragen nicht nur im staatlich favorisierten Christentum, sondern auch im Götterkult der Alten, in exotischen Mysterien, in einer der zahlreichen Philosophenschulen – oder trösten sich mit Brot und Spielen. In dieser Gemengelage von Sinnangeboten – durchaus vergleichbar mit unserer weltanschaulich pluralen Gegenwart – sucht auch Augustinus nach Orientierung. Seine „Confessiones – Bekenntnisse“ erzählen mitreißend von seinen existenziellen und weltanschaulichen Irrungen und Wirrungen, zu denen Sex, Glamour und Karriere ebenso gehören wie Erfahrungen mit einer esoterischen Sekte. Das Suchen nach Sinn und Wahrheit wird nachgerade zu einem Signum seines Lebens, das er später unnachahmlich auf den religiösen Begriff bringt: „Du (Gott) hast uns zu Dir hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es zur Ruhe kommt in Dir“ (Confessiones). Gerade die postmodern notorisch Zweifelnden und Suchenden dürfte es ansprechen, wenn Augustin auch nach seinem Bekehrungserlebnis weiterhin ständig „auf dem Weg“ bleibt: „Man soll Dich (Gott) lieber nichtfindend finden, als etwas findend Dich nicht finden“ (Confessiones). Augustins bleibende Suchbewegung schlägt sich auch in seinen Schriften nieder, zum Beispiel in deren situativ-konkreter Ausrichtung und dialogisch-interdisziplinärer Anlage.
Besonders anregend indes kann Augustin für die Postmoderne darin sein, dass er Sinnsuche nicht auf individuelles Glücksstreben reduziert, sondern für die Frage nach umfassender „Wahrheit“ offenhält, ja mit dieser letztlich konvergieren lässt. Nur im Ausgreifen nach Wahrheit – für Augustinus: im Ergriffen-Werden durch Gott – ergreifen und begreifen der endliche Geist und das suchende Herz sich selbst. Die existenzielle und religiöse Suchbewegung bedeutet für ihn nicht Unverbindlichkeit, sondern zustimmende Bindung an das als wahr Erahnte – mitsamt allen praktischen Konsequenzen. Der engagierte Einsatz des zum Glauben gekommenen Kirchenvaters für sein soziales Umfeld, für sein Amt, für seine Kirche und für seinen Gott mag dem postmodernen Zeitgeist zwar als anstößig erscheinen, doch dürfte es sich hierbei allemal um einen überaus produktiven Anstoß handeln!
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Augustinusforschung in Würzburg.
© Die Tagespost - Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur vom 15.01.2008, Seite 5
Wir danken dem Verlag J.W. Naumann für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in unserem Internetportal.