CHRISTUS MEDICUS
Eine Meditation für Mediziner
Cornelius Petrus Mayer OSA
Jesus als Arzt, das messianische Heil in der Perspektive der Krankenheilung, ist ein Thema, über das Mediziner als Christen gelegentlich nachdenken sollten. Werden sie nicht schon durch ihren Beruf motiviert, Christ zu sein?
Um das messianische Wirken Jesu von Nazaret treffend zu kennzeichnen, verwendet die deutsche Sprache nicht wie das Neue Testament den Begriff ‚Retter’, sondern den des ‚Heilands’. In der Tat war nach den Evangelien die auffallendste Tätigkeit Jesu das Heilen. Wer diese Schriften durchblättert, dem begegnen Seite für Seite Wunderheilungen. Immer wieder stößt man dort auf Sammelberichte wie auf diese: „Jesus wanderte durch alle Städte und Dörfer. Er trat in den Synagogen auf und verkündigte die Frohbotschaft von der Gottesherrschaft und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen. Er schickte die zwölf Jünger aus und gab ihnen diesen Auftrag: Geht hin und verkündigt: ,Die Gottesherrschaft ist hereingebrochen. Heilt die Kranken, weckt die Toten auf, macht die Aussätzigen rein und treibt die Dämonen aus’ “.
Gewiß wissen wir heute, daß die Evangelien, weil sie uns Jesus bereits als den auferstandenen und verherrlichten Herrn über Leben und Tod zu sehen geben wollen, gerade in den sogenannten Wunderberichten vieles überzeichnen. Worauf es jedoch in diesen ‚Berichten’ ankommt, das ist die Verflechtung der von Jesus gepredigten Gottesherrschaft mit der Heilung von Krankheiten.
Es ist hier nicht der Ort, über das gesellschaftspolitische Ausmaß des Begriffes Gottesherrschaft zu reflektieren. Daß die Gottesherrschaft jedoch nicht ausschließlich eine Sache des Jenseits und der Innerlichkeit ist, sondern daß sie nicht zuletzt auch das ganz konkrete menschliche Heil meint, daran erinnern uns in den Evangelien allen anderen Erzählungen voran die von den Heilungen. Nach der Theologie des Neuen Testamentes besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Erlösung und Heilung. Denn wo sollen Menschen die Unerlöstheit ihres Zustandes mehr spüren, wenn nicht in den körperlichen, häufig genug seelisch verursachten Gebrechen des Lebens.
Es ist nicht von ungefähr, daß bereits die alttestamentlichen Propheten die messianische Zeit mit Vorliebe als eine Epoche der Menschheit schildern, in der das endgültige Heil sich hauptsächlich in der Beseitigung von Krankheiten manifestiert. So erzählt uns das Lukasevangelium, daß Johannes der Täufer, als er vom Wirken Jesu gehört habe, Männer mit der Frage zu Jesus sandte, ob er denn der Messias sei. Dort lesen wir (7,21-23): „In jener Stunde heilte Jesus gerade viele von Krankheiten, Gebrechen und bösen Geistern und schenkte vielen Blinden das Augenlicht. So gab er ihnen zur Antwort (indem er ein Wort des Propheten Malachia 3,l aufgriff): Geht hin und kündet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: ‚Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören, Tote stehen auf. Armen wird die Frohbotschaft verkündet’. Wohl dem, der an mir keinen Anstoß nimmt“.
Was also Jesus gegenüber den alttestamentlichen Propheten auszeichnet, und was sein Evangelium zugleich kennzeichnet, ist die Radikalisierung und Aktualisierung des biblischen Programms von der Gottesherrschaft. Seine Predigt gipfelt in der Verkündigung, daß die Gottesherrschaft zwar noch nicht vollendet, wohl aber angebrochen ist. Wir sollen sie suchen, so wird uns ein kühnes Wort bei Lukas überliefert, und sobald wir sie wirklich suchen, wird uns alles übrige hinzugegeben werden (12,31).
Was unter solchem Suchen der Gottesherrschaft inhaltlich zu verstehen ist, das zeigt der Krankheiten aller Art heilende Jesus. Denn, wer die Gottesherrschaft sucht, der stößt unweigerlich auf Strukturen, auf Mächte und Gewalten in dieser unserer Welt, die jener gegenüberstehen. Im Zusammenhang mit den jesuanischen Heilungen sprechen die Evangelien in der Sprache des Mythos des öfteren von Dämonen, von bösen Geistern, von Besessenheit. Sie bringen damit zum Ausdruck, daß es in uns und um uns Kräfte gibt, in denen der eigentliche Grund dafür zu suchen ist, daß es mit der Gottesherrschaft nicht vorangeht. Unmythologisch ausgedrückt heißt das: Der Mensch und mit ihm auch die Welt ist noch nicht im Heil. Es sei nur nebenbei bemerkt, daß unser Wort Heil ursprünglich soviel bedeutet wie das Ganze. Das englische ‚whole’ verweist noch deutlich auf diese Bedeutung. Heilen heißt somit: etwas ganz machen. Im Heilen geht es also zunächst um die Herstellung einer gewollten Unversehrtheit – sei es im Bereich des Körpers, sei es im Bereich der Seele, sei es in beiden zusammen.
Wie schon angedeutet, hat die Botschaft Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft zwei Aspekte: einen endzeitlichen und einen gegenwärtigen. Der Glaubende darf beide nicht gegeneinander ausspielen. Denn er weiß sehr wohl, daß die Menschen, die Jesus geheilt hatte, in dieser Welt nicht für immer geheilt blieben. Heil meint darum im Neuen Testament letztendlich einen Zustand, der auf ein umfassendes und andauerndes Glück zielt. Jesus führte diesen nicht herbei. Er wird jedoch wiederkommen – so sagt es das Neue Testament, und dies bekennt auch die Kirche –, um das messianische Heil zu vollenden. Worauf allerdings Jesus, so lange er predigend und heilend durch Palästina zog, insistierte, das war das Ergreifen, das In-Angriff-Nehmen der Gottesherrschaft – so weit diese nur in den Griff zu bekommen ist. Er selbst konzentrierte sich dabei so sehr auf die Heilung menschlicher Gebrechen, daß wir darin sein messianisches Wirken schlechthin erblicken, wenn wir bekennen: Jesus Heiland.
In den frühchristlichen Jahrhunderten sah man den Zusammenhang zwischen Heil und Heiland noch klar. Die Kirchenväter kommen wiederholt auf den ,Christus medicus', auf Christus den Arzt zu sprechen. Der größte unter ihnen, Augustinus, entwickelt seine Erlösungs- und Gnadenlehre geradezu als eine ‚theologia medicinalis’. Am Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Lk 10,25-37, verdeutlicht er die ganze Heilsgeschichte: In dem zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber gefallenen und halbtot liegengelassenen Mann sieht Augustin Adam und in Adam die von Gott entfremdete Menschheit. Der Mitleid mit ihr hatte, ist niemand anders als Christus der Arzt. Indem er Adam ärztlich versorgt, vollzieht er an ihm zugleich paradigmatisch das Hauptgebot der christlichen Ethik: die Liebe.
Freilich neigten schon die Väter und mit ihnen auch Augustinus dazu, die Akzente bei der Deutung des ärztlichen Wirkens Jesu mehr und mehr auf das Spirituelle zu setzen. Christus ist für sie vor allem der Arzt der Demut, der, indem er als Gott Mensch wurde, den Menschen von Hochmut und Stolz, dem Inbegriff der Sünde, heilt. Der wirklich heilende, der sich den konkreten Kranken zuwendende Jesus geriet so gelegentlich aus dem Blickfeld der ‚hohen Theologie’, der ‚domina scientiarum’. Die Evangelien lassen eine solche radikale Spiritualisierung der jesuanischen Botschaft von der Gottesherrschaft nicht zu. Gewiß zielt auch nach ihnen die Heilung, und zwar primär, auf Beseitigung der Sünde, aber nicht nur darauf – es ist da immer noch auch die Rede vom Geheiltwerden; „Nimm dein Bett und geh nach Hause!“ (Mk 2,11).
Dieser Beitrag wurde verfasst für die Dr. med. Wolfgang Baldrich zu seinem 60. Geburtstag gewidmete Sammlung: ... und kein bißchen weise..., Würzburg 1990 (Privatdruck).