Die Psalmen der Bibel als Quelle christlicher Spiritualität nach der Lehre des hl. Augustinus
(Ein Studientag im Mutterhaus der Ritaschwestern in Würzburg am 21.2.2004
Referent: Cornelius Petrus Mayer OSA)
Ziel des Studientages
Nicht die wissenschaftliche Theologie, sondern das betende Gottesvolk bezeugt und bestimmt den Glauben der Kirche. Zum Gebetsschatz der Kirche zählte von Anfang an der Psalter. Schon in den Evangelien, in der Verkündigung Jesu, der mit dem Psalmvers «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» auf den Lippen starb, spielen die Psalmen eine dominierende Rolle – so auch nahezu in der gesamten neutestamentlichen Briefliteratur einschließlich der Offenbarung des Johannes.
Diese Hochschätzung des Psalters, die in der frühen Kirche anhielt, erreichte in den Schriften des hl. Augustinus ihren Höhepunkt. Der fromme Bischof legte jeden der 150 Psalmen aus und er ließ diese Auslegungen unter dem Titel ‹Enarrationes in Psalmos – Erklärungen zu den Psalmen› veröffentlichen. Sie fassen seine Gedanken wie in einem Brennpunkt zusammen und gelten gleich den Confessiones als sein persönlichstes und spirituell reifstes Werk.
Der Interpretationskunst Augustins gelang es, die Psalmen im Lichte der neutestamentlichen Verkündigung für die christliche Gebetspraxis so zu erschließen, dass deren Auslegung gleich den Confessiones zu einer unverzichtbaren Quelle der augustinischen Spiritualität geworden sind.
Programm
Thema des ersten Vortrags: Die wichtigsten theologischen Voraussetzungen der Predigten Augustins über die Psalmen.
Der Bischof war der Überzeugung, dass die Bibel vorzüglich durch die Bibel auszulegen sei. Wie dies im Hinblick auf die Auslegung der Psalmen zu verstehen ist, ist Thema des ersten Vortrags.
Thema des zweiten Vortrags: Der Christ als Pilger in der Welt.
Die Psalmen artikulieren auf Schritt und Tritt das Unterwegssein des Menschen auf Erden. Auf Christus hin ausgelegt, verdeutlichen sie den Ausgang, den Weg und das Ziel dieser Lebensreise.
Thema des dritten Vortrags: Die Bedeutung von Glaube, Hoffnung und Liebe für den Vollzug der christlichen Pilgerschaft.
Die Psalmen bringen häufig in leidenschaftlicher Sprache eine Fülle von Emotionen, Erregungen, Affekten und Gemütszuständen zum Ausdruck, die, sobald sie auf die drei göttlichen Tugenden hin interpretiert werden, helfen, auf dem Weg der christlichen Pilgerschaft voranzukommen.
Erster Vortrag
Die wichtigeren theologischen Voraussetzungen der Predigten Augustins über die Psalmen
(Leitfaden durch den Vortrag)
Augustins ‹cathedra› (Kanzel); – Anzahl der noch erhaltenen Predigten; – der Psalm in der Liturgie des Gottesdienstes.
Die Verkündigung ein Werk des Heiligen Geistes; – die Abfassung eines Lehrbuches für die Prediger gleich nach der Übernahme des Bischofsamtes: Die christliche Wissenschaft; – Eigentümlichkeit der Texte der Heiligen Schrift; – die Rolle der Wissenschaften bei der Bibelauslegung; – die Bibel im Lichte der Weisung des Apostels Paulus aus 2 Cor 3,6: Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht; – These: Die Sache der Bibel ist Gott.
Gott der Dreieinige und das Heilshandeln Gottes in der Zeit als Kern der christlichen Verkündigung; – das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes; – Eckdaten des Credos der Kirche: Schöpfung, Erlösung und Vollendung; – das Erlösungswerk Jesu Christi ‹Mitte der Heilsgeschichte› und ‹Verstehensschlüssel› aller Heilsereignisse; – die auf das Erlösungswerk Christi hin zentrierte Bibelauslegung; – These: Die Texte der Bibel verfolgen ein doppeltes Ziel: sie informieren Menschen über Geschehnisse, die ihr Heil betreffen, und sie leiten diese zugleich zu einer dem christlichen Heilsverständnis entsprechenden Spiritualität an.
Die Bedeutung der Allegorese (= Textauslegung, die hinter dem Wortlaut einen verborgenen Sinn sucht) für die geistliche Schriftauslegung; – Beispiele: 1 Kor 10,1-4: Christus der Fels sowie Gal 4,25f.: ‹Hagar› und ‹Sara›; – das theologische Konzept von Christus als dem eigentlichen Verfasser beider Testamente der Bibel; – These: die Texte des Alten Testamentes sind vom Neuen her zu lesen, zu verstehen und auszulegen.
Augustins Verständnis von der Offenbarung und seine Auffassung von Christus als dem eigentlichen Verfasser der Bibel; – der aus Wörtern (Mehrzahl!) bestehende Text des Alten und Neuen Testamentes (= Bibel als Buch der Offenbarung) und ‹Gottes Wort› (Einzahl! = Offenbarer des Offenbarten); – These: Die biblischen Schriftsteller schrieben nieder, was ihnen Christus als das zeitlose, ewige ‹Wort Gottes› zu schreiben eingab (Lehre von der Inspiration).
Augustins Lehre vom ‹ganzen Christus› als Fundament seiner christlichen Spiritualität; – die neutestamentlichen Voraussetzungen dieser Lehre (z.B. 1 Kor 12); – die ‹sichtbare› und die ‹unsichtbare Kirche› und die das Heil sichernde Zugehörigkeit zu der ‹unsichtbaren Kirche›, zum ‹ganzen Christus›; – die Lehre vom ‹ganzen Christus› unter dem Aspekt der Mystik; – These: Christliche Mystik ist als Bindung an den Gottmenschen Jesus Christus zugleich Hin- und Ausrichtung der Person auf ein umfassenderes Ganzes, eben auf den ‹ganzen Christus›.
Die 1997 erschienene Studie Der Psalm – Stimme des ganzen Christus; – die an Affekten reiche Sprache der Psalmen; – Augustins Anweisung, beim Beten der Psalmen die Affekte nicht zu unterdrücken, sondern diese auf Gott hin zu lenken; – Psalmen als Worte an Christus oder an die Kirche, als Wort über Christus oder über die Kirche, gar als Worte Christi oder als Worte der Kirche; – Beispiele; – These: Weil Augustinus die Kirche bevorzugt unter dem Bild eines einzigen Menschen (Haupt und Glieder) beschrieb, konnte er das in den Psalmen sich artikulierende ‹Ich›, den Verfasser des betreffenden Psalmes, mit des ganzen Christus Stimme identifizieren. Aufgrund der im Neuen Testament verkündeten Mysterieneinheit zwischen Christus, dem Haupt, und der Kirche, dem Leib, können Beter der Psalmen sagen: «Seine Stimme ist auch unsere und unsere Stimme ist die seine» (Psalmenerklärungen 62,2).
Zusammenfassung und Ausblick.
Vortrag
Hippo, die Stadt am Mittelmeer, in der Augustinus Bischof war, besaß eine ansehnliche Basilika mit einer angebauten Taufkirche sowie einer Kapelle für die Reliquien des hl. Stephanus. In der Apsis, der die Basilika abschließenden Rundung, stand auf einigen Stufen erhöht die ‹cathedra›, auf welcher der Bischof Augustinus, nach dem ältesten Bild von ihm aus dem Lateran eine schmächtige Gestalt mit kahlgeschorenem Haupt, aber feingeschnittenem Profil, sitzend predigte.
Er predigte natürlich auch in Kirchen anderer Städte Afrikas, in Karthago z.B., wo er sich häufig für längere Zeit aufhielt. Wann immer er außerhalb seiner Diözese weilte, bedrängte man ihn, Gottes Wort auszulegen. Lediglich ein Zehntel der gehaltenen Predigten sind uns überliefert – immerhin etwa 600 von 6000. Das Johannesevangelium legte er zusätzlich in 124 Traktaten aus, das Meiste davon in Predigten, und die 150 Psalmen ebenfalls zumeist in Predigten.
Wie noch in der heutigen Liturgie, hatte der Psalm im Gottesdienst seinen Platz zwischen den Schriftlesungen. Er wurde teils vorgetragen, teils auch unter Beteiligung der Gemeinde gesungen. Da es eine Leseordnung nur für Festtage gab, wählte Augustinus den Psalm in der Regel frei aus. Dabei konnte es vorkommen, dass der Lektor einen anderen Psalm las als den, auf den Augustin sich für die Predigt vorbereitet hatte. Statt aber den Lektor zu korrigieren, erblickte der redegewandte Bischof bei solchen Fehlgriffen des Lektors einen Wink Gottes, nicht über den vorbereiteten, sondern über den vorgetragenen Text zu predigen. Er pflegte nämlich seine Predigten nicht schriftlich auszuarbeiten. Er begnügte sich mit einigen Notizen. Der Bibeltext lag auf seinem Schoß, davon ließ er sich inspirieren, anregen. Da er die Bibel so gut wie auswendig kannte, fiel es ihm nicht schwer, der Forderung nachzukommen, die er an jeden Prediger stellte: die Bibel vorzüglich durch die Bibel zu erklären und auszulegen.
Die Verkündigung des Glaubens – davon war Augustinus zutiefst überzeugt – ist nicht des Menschen, sondern des Hl. Geistes Werk. Ohne seine Hilfe ist ein rechtes Deuten der biblischen Texte nicht möglich. Ebenso wenig reicht es aus, dass nur der Prediger seine Hilfe empfängt. Der Hl. Geist muss auch in den Herzen der Hörer wirksam sein. «Herr, gib uns Mut zum Hören auf das, was du uns sagst. Wir danken dir, dass du es mit uns wagst», heißt es treffend in einem Lied. Gottes Wort verbindet die Gemeinde mit dem Prediger und den Prediger mit der Gemeinde.
Trotz der Überzeugung von der führenden Rolle des Hl. Geistes bei der Glaubensverkündigung nahm Augustinus das Predigeramt, das zu seiner Zeit dem Bischof allein zustand, sehr ernst. Als er um das Jahr 396 die Leitung der Diözese von Hippo übernahm, betrachtete er es als eine seiner ersten und wichtigsten Pflichten, ein Lehrbuch für Prediger zu schreiben. Das A und O der Predigt ist danach die Heilige Schrift – genauer: die Sache, die sie verkündet. Aufgabe des Predigers ist es, die Texte der Bibel unter Zuhilfenahme bestimmter Regeln zu erschließen.
Nun sind aber die Texte der Bibel nicht alle leicht zu verstehen. Gott hat es gewollt – so Augustinus –, dass darin auch dunkle, geheimnisvolle Stellen vorkommen. Er habe diese in pädagogischer Absicht gewissermaßen mit einem Schleier verhüllt. Ist es nicht so, fragt der ehemalige Pädagoge, dass Verschleiertes, von Geheimnis Umgebenes, uns reizt, unsere Wissbegierde erregt, dieses zu entschleiern? Und dient die Entschleierung solcher Texte nicht zugleich der Schärfung unseres Geistes?
Augustinus gab jenem Lehrbuch für Prediger den vielsagenden Titel: Die christliche Wissenschaft. Das Verstehen aller Texte der Bibel erfordert nämlich gediegene Kenntnisse in den einschlägigen Wissenschaften, Kenntnisse der Sprachen, der Geschichte, der Botanik und der Zoologie usw. usf.
Und überhaupt: Was ist die Bibel? Wie sollen Christen mit ihr umgehen? Die Antworten, die der gelehrte Bischof auf diese Fragen gibt, ist erhellend und für seine Auffassung von der Verkündigung des Christentums ungemein aufschlussreich.
Augustinus schätzte die Bibel sehr hoch ein. Er kannte sie, wie schon erwähnt, auswendig. Dennoch – besteht sie im Prinzip nicht aus Buchstaben? Prägte nicht schon der Apostel Paulus das später von Augustinus so oft zitierte Wort: «Der Buchstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht» (2 Kor 3,6)? Etwa 15 Jahre nach seiner Bischofsweihe verfasste er ein Buch, dem er den Titel gab: Der Geist und der Buchstabe.
Was ist die Bibel ohne den Geist? Buchstabe, nichts als Buchstabe, der tötet. Die Sache der Bibel – dies gilt es zu sehen! – ist Gott, Gott aber ist Geist. Deshalb handelt das erste der vier Bücher Über die christliche Wissenschaft davon. Darin wird in 44 Kapiteln erklärt und dargelegt, weshalb Gott und nichts als Gott die eigentliche Sache der Bibel ist: weil jede andere Sache, die wir in dieser Welt kennen, vergeht; er allein kann von sich sagen, dass er bleibt und darum auch er allein des Menschen Heil ist.
Die Kernfrage des christlichen Glaubens lautet deshalb: Wer bzw. was ist diese Gott genannte ‹Sache› der Bibel? ‹Vater, Sohn und Heiliger Geist›, lautet die Antwort. Als solcher gab Gott sich kund, als solcher offenbarte er sich im ‹Evangelium› seines Sohnes Jesu Christi. Unter ‹Evangelium› wieder ist primär nicht das in unseren vier Evangelien fixierte Wort zu verstehen, sondern Christi Person und Werk. Davon aber heißt es im Schlusssatz des Vierten Evangeliums: «Wenn man alles aufschreiben wollte, (was Jesus, Gottes Sohn, getan hat) so könnte es, wie ich glaube, die ganze Welt der Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste».
Offenbarung ist Gottes Heilshandeln in der Zeit mit der Schöpfung als Anfang, mit der im Erlösungswerk Jesu Christi, seines Sohnes gipfelnden Geschichte seines Volkes als Mitte und mit der Vollendung der Schöpfung im Heiligen Geist als Abschluss. Wer erkennt darin nicht die drei Eckdaten des Credos der Kirche: Schöpfung, Erlösung und Vollendung? In der Mitte steht Christi Erlösungswerk, steht ‹das Fleisch gewordene Wort›, das Anfang und Ende miteinander verbindet.
Gewiss gleicht die Heilsgeschichte mit der Schöpfung als Anfang und der Wiederkunft Christi als Ende einer Linie. Sie gleicht aber auch einem Kreis mit der Menschwerdung Christi, ‹des Wortes Gottes›, als Mitte. Wie in einem Kreis alles auf dessen Mittelpunkt hin ausgerichtet ist und alles über diesen Mittelpunkt miteinander in Beziehung steht, so verhält es sich auch mit der Heilsgeschichte. Christus, ‹das Fleisch gewordene Wort›, ist der Verstehensschlüssel aller Ereignisse in der Geschichte unseres Heils.
Aus diesem Verständnis der Offenbarung mit der Person und dem Werk Christi als Mitte folgt, dass alles, was sich im Heilsgeschehen des Alten Bundes ereignete, letztendlich auf Jesus Christus abzielte und deshalb auch nur von ihm her zu verstehen ist. In der Emmauserzählung des Lukasevangeliums erklärt Jesus den ihn begleitenden zwei Jüngern, die es nicht fassen konnten, was mit ihrem Rabbi geschehen ist, wie dies alles zu verstehen sei. Dort lesen wir: «Und Jesus legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der ganzen Schrift über ihn geschrieben steht» (24,27). Und im gleichen Kapitel, das von der Erscheinung des Auferstandenen in Jerusalem im Kreise aller Apostel berichtet, wiederholt Jesus: «Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose und in den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht» (24,44).
Die biblischen Texte des Alten Testamentes haben somit für Christen einen doppelten Sinn. Einmal den historischen: Gott hat durch die Patriarchen, durch das Gesetz des Mose, durch die Propheten und alle Gerechten gesprochen und an seinem Volk Israel gehandelt. Dann aber haben diese Texte noch einen über das Geschehene hinaus verweisenden tieferen geistlichen Sinn. Dieser im Alten Testament noch verborgene liegt im Neuen Testament offen. Wenn Augustinus einschärft, die Bibel müsse durch die Bibel erklärt werden, dann meint er häufig diese innere Beziehung bzw. Verflechtung der in den Schriften der beiden Testamente zugrundeliegenden Ereignisse.
Augustinus hat mit seiner Bibelauslegung lediglich die Tradition der alten Kirche weitergeführt. Er sah diese auf Christus bezogene Deutung der alttestamentlichen Ereignisse bereits in den Briefen des Apostels Paulus beispielhaft praktiziert. Etwa im Ersten Korintherbrief: «Ihr sollt wissen, Brüder», schreibt dort der Apostel, «dass unsere Väter alle unter der Wolke waren, alle durch das Meer zogen und alle auf Mose getauft wurden in der Wolke und im Meer. Alle aßen auch die gleiche Speise, die der Geist Gottes gab, und alle tranken den gleichen Trank, den der Geist schenkte; denn sie tranken aus dem Felsen, der mitzog und den Geist spendete. Und dieser Fels war Christus» (10,1-4).
Beim geistlichen Verstehen der Texte der Hl. Schrift spielt die sogenannte Allegorese, ein Fachbegriff der Literaturwissenschaften, eine wichtige Rolle. Darunter versteht man jene Auslegung von Texten, die hinter dem Wortlaut einen weiteren, verborgenen Sinn sucht. Der erwähnte ‹Wüstenfels› z.B., auf den Moses mit seinem Stab schlug, war gewiss ein realer Fels, aber in seiner durstlösenden Funktion im Rahmen des Berichtes von Num 20,7-11 versinnbildlichte er zugleich den lebensspendenden Christus, der den Felsen in der Wüste bei weitem übertrifft. Christus ist der ‹wahre› Fels, auf welchen der ‹Wüstenfels› wie ein Zeichen auf die bezeichnete Sache verweist.
In seinem Brief an die Galater stellt der Apostel die beiden Frauen Abrahams einander gegenüber. ‹Hagar›, die Sklavin, versinnbildlicht ‹Jerusalem›, die irdische Stadt in Israel, ‹Sara›, die angetraute Freie, hingegen das künftige, aber bleibende und darum ‹wahre, himmlische Jerusalem› (4,25f.). In den alttestamentlichen Schriften ist generell, auch wenn die Zukunft Jerusalems in faszinierenden Bildern geschildert wird, die konkrete irdische Stadt gemeint. Lesen wir hingegen, um ein Beispiel zu nennen, in den Laudes der 4. Woche im Stundengebet als ‹Canticum› Jes 66,10-13 – der Prophet preist darin das Jerusalem seiner Zeit, das Jahwe mit der Fülle des Segens überschütten wird –, so sollen wir Christen dabei im Sinne des geistlichen Schriftverständnisses nicht mehr jenes konkret irdische Jerusalem, sondern laut Gal 4,26 ‹das himmlische Jerusalem› im Blick unseres Geistes haben, das Jerusalem, ‹das frei und unsere Mutter ist›.
Der an einprägsamen Bildern reiche Text lautet: «Freut euch mit Jerusalem, der heiligen Stadt, jubelt alle, die ihr sie liebt! Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr über sie traurig wart! Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust, trinkt und labt euch an ihrem mütterlichen Reichtum. Denn so spricht der Herr: Seht her: Wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und den Reichtum der Völker wie einen rauschenden Bach. Ihre Kinder wird man auf den Armen tragen und auf den Knien schaukeln. Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost». Ähnliche Texte über Jerusalem finden wir in den Psalmen. Wir werden einen solchen näher betrachten.
Halten wir in Bezug auf das Verhältnis der beiden Testamente die Weisung Augustins, die eine Weisung der Kirche geworden ist, fest: Die Texte des Alten Testamentes sind vom Neuen her zu lesen, zu verstehen und auszulegen. Die liturgische Praxis der Kirche verdeutlicht dies durch die Zuordnung der Lesungen in den Wortgottesdiensten. Die ausgewählten alttestamentlichen Lesungen der Osternacht z.B. werden auf die Auferstehungsbotschaft hin verkündet und sollen auch im Lichte dieser Botschaft verstanden und erklärt werden.
Zum Verständnis der Bibelauslegung Augustins sind noch zwei weitere seiner theoretischen Konzepte von denkbar großer Bedeutung: das Konzept von Christus als dem eigentlichen Verfasser der Bibel sowie das von der Kirche, in der er, ihr Erlöser, fortlebt, die mit ihm gleichsam zu einer Personeneinheit verschmilzt.
Zum ersten Konzept: Selbstredend wusste Augustinus, dass die Bibel mehrere Verfasser hat, dass die vier Evangelien z.B. von vier verschiedenen Evangelisten geschrieben wurden, dass der Prophet Jesaja sich gerade als Schriftsteller, also in seinem Stil, von den anderen Propheten, von Jeremia, von Ezechiel und Daniel – um nur die vier größeren zu nennen – unterscheidet. Jeder der biblischen Schriftsteller gab durch seinen ihm eigenen Wortschatz in einer Vielzahl von Wörtern ‹Gottes Wort› (Einzahl) wieder.
Gibt es da einen Unterschied zwischen den Wörtern der biblischen Schriftsteller und ‹Gottes Wort›? Augustinus beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja, und darin gipfelt sein Verständnis von der Offenbarung. Offenbart wird Gott der Dreieinige und der Offenbarer ist nicht der biblische Schriftsteller, also Moses, Jesaja, aber auch nicht Johannes oder Paulus, sondern ‹Gottes eingeborener Sohn›, die zweite Person dieses Dreieinigen Gottes, Inbegriff der Weisheit, ‹des Lichtes› und ‹des Lebens›, ‹Gottes Wort› (Joh 1,1-18), das ‹in der Fülle der Zeit› (Gal 4,4) Mensch geworden ist.
Das Bibelwort, das von der Offenbarung Gottes berichtet, geht somit der ‹Menschwerdung des Wortes Gottes› sowohl zeitlich voraus (Altes Testament) wie auch zeitlich nach (Neues Testament). Obgleich also uns von Christus selbst keine schriftlichen Texte überliefert sind, so ist doch er, weil ‹Gottes Wort›, der eigentliche Verfasser der Bibel, deren Worte ihn als den Mensch gewordenen Gottessohn bezeugen.
Augustin verfasste ein Buch, dem er den Titel Die Übereinstimmung der Evangelien gab. Darin heißt es, man dürfe nicht sagen, Christus sei unmöglich der Verfasser der Bibel, weil er sie nicht geschrieben habe, denn es verhalte sich so, dass die biblischen Schriftsteller gleichsam als die Glieder des Leibes Christi das niederschrieben, was dieser als Haupt ihnen zu schreiben eingab. Was er uns wissen lassen wollte, das trug er ihnen zu schreiben auf (1,53).
Mit diesem auf Gottes zeitloses Wort hin konzentrierten Offenbarungskonzept hängt jenes vom ‹ganzen Christus› aufs Engste zusammen, was soeben in den Begriffen von ‹Gliedern› und ‹Haupt› anklang. Wäre Christus nicht Gottes ewiges Wort, also nicht ‹wahrer Gott und wahrer Mensch›, woran die Kirche festhält, so entbehrte Augustins Reden von einem ‹ganzen Christus› jeglicher Grundlage. So aber ist seine Lehre gerade darüber das Fundament, auf dem er seine christliche Spiritualität errichtet.
Dazu im Einzelnen Folgendes: Dem Neuen Testament ist der Gedanke von der Einheit der Kirche mit Christus nicht unbekannt. Die Paulusbriefe kommen wiederholt darauf zu sprechen, am ausführlichsten im Ersten Korintherbrief. Dort steht im 12. Kapitel der fundamentale Satz: «Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden, so ist es auch mit Christus» (12,12).
Das Wortpaar ‹ganzer Christus› kommt weder im Neuen Testament noch in der christlichen Literatur vor Augustinus vor. Es ist seine Schöpfung und im Hinblick sowohl auf seine Theologie wie auch auf seine Spiritualität geradezu eine geniale zu nennende. Mit ihm gelang es nämlich dem Kirchenvater, zwischen einer ‹sichtbaren› und einer ‹unsichtbaren Kirche› nicht nur zu unterscheiden, sondern auch zu scheiden und letztere mit dem ‹Gottesstaat› zu identifizieren. Zur ‹unsichtbaren Kirche› zählen nicht allein die verstorbenen Seligen, sondern alle, die bleibend zu den Gliedern des Leibes Christi gehören, und dazu zählen auch die Frommen aller Zeiten und Zonen. Dieses ‹Glied am Leib Christi sein› ist nicht physisch, sondern mystisch zu verstehen.
Was folgt daraus? Ich denke viel. Unter anderem dies: Wir müssen uns verabschieden von einer Vorstellung von Mystik, die mit Magie, Ekstase, Verzückung und dergleichen zu tun hat. Mystik ist die Bindung einer Person an ein höheres Wesen. Christliche Mystik ist dann Bindung an den Gottmenschen Jesus Christus. Bindung mit dem Ziel der Vereinigung, der ‹unio mystica› meint keineswegs das Aufgeben oder gar das Auslöschen der eigenen Identität, der Person, des Ich mit seinen intellektuellen und emotionalen Kräften, sondern deren Hin- und Ausrichtung auf ein das eigene Vermögen übersteigendes Größeres, auf ein umfassenderes Ganzes – das der ‹ganze Christus› ist.
1997 erschien eine ebenso umfassende wie ausgezeichnete Studie von Michael Fiedrowicz über die Psalmenerklärungen des hl. Augustinus mit dem bezeichnenden Titel: Psalmus vox totius Christi – Der Psalm Stimme des ganzen Christus. Zutreffender könnte man des Kirchenvaters Bemühungen, den Reichtum der Psalmen den Gläubigen zu erschließen, nicht wiedergeben, denn darin begegnet dem Leser das Thema ‹der ganze Christus› auf Schritt und Tritt.
Die Psalmen sind nach Augustinus nicht einfach Gebete Davids oder irgendwelcher Frommen aus der Zeit des Alten Testamentes, sondern Gebete der Kirche. Wo und wann immer deshalb Christen sie beten, sollen sie bedenken, dass sie dies als ‹Glieder am Leibe Christi› tun. Zugleich sollten sie bedenken, dass den Psalmen eine an Affekten, an Leidenschaften, an seelischen Erregungen aller Art ungemein reiche Sprache eigen ist. In ihnen dominiert ein emotionaler Wortschatz. Da begegnen einem häufig das ‹Seufzen› und das ‹Klagen›, das ‹Stöhnen› und das ‹Weinen› und das ‹Schreien›, freilich auch das ‹Jubeln› und das ‹Jauchzen› und das ‹Lachen›.
Begegnen einem solche Gemütsäußerungen nicht auch in den Evangelien? «Als er auf Erden lebte», heißt es von Jesus im Hebräerbrief, «hat er Gebete und Bittrufe mit lautem Schreien und mit Tränen vor den getragen, der ihn aus dem Tode retten konnte, und seiner Ängste wegen ist er erhört worden» (5,7). Sprechen deshalb Christen den Psalm 21, den Jesus am Kreuz hängend betete und der mit dem Vers beginnt «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», so sollen sie als ‹Glieder des Leibes Christi› nicht nur im Geiste, sondern möglichst auch im Gemüte jene Empfindungen wieder lebendig werden lassen, die er, der ‹Erlöser› und das ‹Haupt seines Leibes›, als der ‹Gekreuzigte› hatte. Auch das ist Mystik.
Eingedenk dieser emotionalen Sprache der Psalmen ermuntert der predigende Bischof seine Zuhörer wiederholt, ihre Affekte, Empfindungen und Gefühle beim Beten nicht zu unterdrücken, sondern sich ihrer verwandelnden Wirkung auszusetzen und die eigene Gemütsregungen mit dem Psalmisten auf Gott hin zu lenken. «Betet der Psalm», heißt es in einer Predigt, «so betet mit ihm, seufzt er, so seufzt mit ihm, bezeigt er Freude, so freut euch mit ihm, hofft er, so hofft mit ihm, äußert er Furcht, so fürchtet euch mit ihm» (en. Ps. 30,2,3,1).
Weil Psalmen, wie bereits gesagt, als Prophetien auf Christus grundsätzlich im Lichte des Neuen Testamentes zu verstehen sind, bemerkt Augustinus nicht selten gleich zum Beginn einer Predigt über einen Psalm, es sei darauf zu achten, ob dessen Verse als Worte an Christus oder über Christus oder gar als Christi Wort zu verstehen sind, ebenso freilich auch an die Kirche oder über die Kirche oder gar als Wort der Kirche.
Dazu einige Beispiele: Selbstredend redet der ganze Psalm 109 «So spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten ...» über Christus. Augustinus brauchte hierin nur der Auslegungstradition der Kirche zu folgen, zumal Jesus selbst nach den Evangelien diesen Vers zum Beweis für seine Messianität in Anspruch nahm, als er den Schriftgelehrten entgegenhielt: Wenn David ihn (Jesus) seinen Herrn nennt, «wie kann dann er (der als Gottes Wort vor David und vor Abraham war) Davids Sohn sein?» (Mk 12,35-37).
Wie ebenfalls schon erwähnt, identifizierte Augustinus die Kirche mit dem Gottesstaat, welchen Begriff er den Psalmen entnommen hatte. «Wir sprechen vom Gottesstaat», schreibt er in dem gleichnamigen Werk. «Ihn bezeugt die Heilige Schrift ... Denn in ihr lesen wir: ‹Herrliche Dinge werden von dir gesagt, du Stadt Gottes›, und in einem anderen Psalm: ‹Groß ist der Herr und hochberühmt in der Stadt des Herrn der Heerscharen, der Stadt unseres Gottes›». Auch die zahlreichen Bildbegriffe in den Psalmen wie die ‹Königstocher› und die ‹Braut›, den ‹Weinstock› und die ‹Kelter›, den ‹Sion›, ‹Jerusalem und den ‹Tempel› sowie sämtliche Aussagen über das alttestamentliche Gottesvolk übertrug er mit Vorliebe auf die Kirche.
In mehreren Psalmen vernimmt Augustinus die Stimme der Kirche. «Die Kirche betet in diesem Psalm», heißt es z.B. in der Erklärung zum Psalm 6 (en. Ps. 6,3) und aufgrund der Zugehörigkeit zum ‹Leib Christi› wird jeder Einzelne zum Subjekt des Psalmengebetes, vermag er die in einem Psalm zum Ausdruck gebrachte Erfahrung sich zu eigen zu machen. «Indem Augustinus die Kirche immer häufiger mit dem Bild des ‹einen Menschen› ... beschrieb, konnte er das in den Psalmen sich artikulierende ‹Ich› mit dessen Stimme identifizieren:‹in Christus aber sind alle ein einziger Mensch; weil dieses einen Menschen Haupt im Himmel ist› (en. Ps. 60,1)», heißt es im Artikel des Augustinus-Lexikons zu den Psalmenerklärungen Augustins von M. Fiedrowicz (AL 2, 853f.). Aufgrund dieser Mysterieneinheit zwischen Christus dem Haupt der unsichtbaren Kirche als Leib kann Augustinus sagen: «Seine (Christi) Stimme ist auch unsere und unsere Stimme ist die seine» (en. Ps. 62,2).
Ich komme zum Schluss dieses ersten Vortrages: Augustins Psalmenerklärungen gelten als sein persönlichstes, sein spirituell reifstes und im Hinblick auf seine Theologie auch als sein gedankentiefstes Werk. Alle Aspekte seiner Theologie und Spiritualität findet man darin brennpunktartig zusammengefasst. Man könnte daraus ein ganzes Bündel von Themen zu Referaten zusammenstellen: über die Trinität, über die Schöpfung, über den Sündenfall, über Christus und dessen Erlösungswerk und natürlich über die Kirche.
Eigentlich war in diesem ersten Vortrag vorzüglich von ihr, der Kirche, das will sagen, von uns, die wir zur ‹unsichtbaren Kirche› gehören wollen, die wir diese sein sollen, die Rede. Nun befindet sich gerade dieser Teil noch in jenem Zustand, den das Neue Testament in engem Anschluss an die Psalmen mit dem charakteristischen Begriff ‹Pilgerschaft› aufs Treffendste wiedergibt und beschreibt. Unser Leben als Pilgerschaft auf Erden im Lichte der Psalmen – dieses Thema soll uns im zweiten Vortrag beschäftigen.
Zweiter Vortrag
«Ich bin nur ein Gast bei dir, ein Pilger wie all meine Väter» (Psalm 38,13)
Der Christ als Pilger in der Welt
(Leitfaden durch den Vortrag)
Sprachliches zur Wortgruppe ‹Pilger, pilgern, Pilgerschaft›; – der Pilger als ‹Fremder› und als ‹Beisasse› in der Bibel; – die prinzipielle Heimatlosigkeit des Glaubenden in der Welt; – Phil 3,20: «Unsere Heimat ist im Himmel»; – These: ‹Pilger›, ‹Fremdling› und ‹Beisasse› als Bezeichnungen für Christen als Glieder am Leibe Christi bedeuten in der Verkündigung des Neuen Testamentes nichts Endgültiges, denn diese sind zugleich ‹Bürger des Himmels› und ‹Hausgenossen Gottes› (Eph 2,19).
Die Doppelbewertung der ‹Welt› bzw. des ‹Kosmos› im Neuen Testament; – die ‹Welt› als Schauplatz der Geschichte unseres Heils; – die Devise des Apostels Paulus: «Gleicht euch nicht der Welt an!» (Röm 12,2); – die Devise des Verfassers der johanneischen Schriften: «Liebt die Welt nicht und was in der Welt ist!» (1 Joh 2,15); – These: Eine Doppelbewertung der Welt ist für das Verständnis der christlichen Spiritualität überhaupt und für deren augustinische Prägung im Besonderen von denkbar großer Bedeutung.
Die ‹Pilgerschaft› in den Psalmenerklärungen; – Auslegung des Psalms 119 im Lichte der neutestamentlichen Verkündigung; – die das Thema ‹Pilgerschaft› artikulierenden Verse 5-7: «Weh mir, dass ich als Fremder in Meschech bin und bei den Zelten Kedar wohnen muss!» (Vers 5). «Ich muss schon allzu lange wohnen bei Leuten, die den Frieden hassen» (Vers 6). «Ich verhalte mich friedlich; doch ich brauche nur zu reden, dann suchen sie Hader und Streit» (Vers 7); – was unter ‹leben müssen in der Fremde› zu verstehen ist; – was unter Heimat, Vaterland und Jerusalem zu verstehen ist; – der Notschrei der noch auf Erden pilgernden Kirche; – die Kirche als Alleinerbin Christi, weil Leib Christi, weil mit ihm zusammen der eine Mensch Christus; – der mit seiner Kirche immer noch auf Erden pilgernde Christus; – der Ruf ‹weh mir› ein Ruf im Unheil, aber auch ein Ruf der Hoffnung; – die positiven Aspekte des ‹Stöhnens› und des ‹Seufzens›; – der Aufstieg durch den Stufengesang des Psalms 119; – die theologisch hochinteressante Auslegung «bei den Zelten von Kedar muss ich wohnen» im Lichte der Genesiserzählung von Abrahams zwei Söhnen und Gal 4,29; – das irdische und das himmlische Jerusalem; – die Dauer des ‹weh mir!› bis zum Ende der Zeiten; – das Pilgern im Leib und das Pilgern der Seele; – die Rolle der Affekte während der Pilgerschaft der Seele; – These: Der Pilgerschaft des Leibes steht bei Augustinus die Pilgerschaft der Seele gegenüber. Sie, die mit dem Herzen betende Seele, weiß um das Ziel der Pilgerschaft und verwandelt auf diese Weise die Pilgerschaft in einen Aufstieg zu Gott.
Einige wichtigere Aspekte der Pilgerschaftsidee für unsere christliche Spiritualität; – das unverzichtbare Wissen über das Ziel unserer christlichen Pilgerschaft; – das Ziel der Pilgerschaft im Lichte des Credos der Kirche; – der unaufgebbare Glaube der Kirche an ein ewiges Leben; – das von jedweder Pilgerschaft befreite heilige Jerusalem und das Jerusalem, das noch auf Erden pilgert; – bevorzugte Begriffspaare, die das Unterwegssein zum Ziel verdeutlichen: ‹hier und dort›, ‹noch nicht und schon›; – die Pilgerschaftsidee im Lichte neutestamentlicher Texte: z.B. 2 Kor 5,6; – die notwendigen Drangsale der christlichen Pilgerschaft; – der christliche Pilger als Bürger des Himmels; – die doppelte Pilgerschaft Christi: die während seines irdischen Daseins und die immer noch andauernde seines Leibes, der Kirche; – der heilsgeschichtliche Rahmen der christlichen Pilgerschaft; – These: Augustins Lehre von der christlichen Pilgerschaft steht und fällt mit seiner Lehre von der sogenannten Eschatologie (= Lehre von den letzten Dingen, vom Jenseits, vom Himmel, vom Leben bei Gott und mit Gott).
Vortrag
Wirft man einen Blick in eine Bibelkonkordanz, so ist man erstaunt, dass darin die Wortgruppe ‹Pilger›, ‹pilgern› und ‹Pilgerschaft› insgesamt nur etwa zehnmal vorkommt. Spielt also der mit dem Wort ‹Pilgerschaft› bezeichnete Sachverhalt in der Bibel keine Rolle? Mitnichten! Das eingedeutschte Wort ‹Pilger› hat einen lateinischen Ursprung. Es kommt vom ‹peregrinus› und bedeutet ‹ausländisch›, ‹fremd›. Ein ‹Pilger› ist also zunächst ein Fremder. Im Mittelalter erhielt das Wort ‹Pilger›, weil vorzüglich in der Kirchensprache in einem engeren Sinn verwendet, die Bedeutung Wallfahrer.
Der Begriff ‹Fremder› begegnet einem häufig auch in der Bibel. Im Alten Testament ist der ‹Fremde› einmal der ‹Beisasse›, der als Nichtisraelit im Volke Israel lebt, wo er gewisse eingeschränkte Rechte genießt. Selbstredend waren die Israeliten in fremden Ländern, in Ägypten etwa oder in Babylon, ebenfalls ‹Beisassen›. Darüber hinaus erhält das Wort ‹fremd› eine typisch religiöse Bedeutung. Ja, der Gläubige wird ermahnt zu bedenken, dass vor Gott eigentlich jedermann nicht Besitzer, sondern ‹Beisasse› ist. Ein Muster solcher Beisassenschaft ist Abraham, der in Ur in Chaldea lebte, aber aufgefordert wurde, auszuwandern und so ein Zeichen des Glaubens und des Gehorsams Gott gegenüber zu setzen.
Im Neuen Testament wird dieser Gedanke der prinzipiellen Heimatlosigkeit der Glaubenden erweitert und vertieft. Vom ‹Wort›, das Mensch geworden ist, sagt das Johannesevangelium: «Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf» (1,11). Und im Matthäusevangelium sagt Jesus von sich: «Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihr Nest; der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann» (8,20).
Christen sind Fremde unter und gegenüber allen Nationalitäten, Rassen und Ständen. Ihr Fremdsein wird religiös fundiert und zugleich überhöht. «Da gilt nicht mehr Jude und Hellene, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr eins in Christus Jesus», verkündet der Apostel Paulus in seinem Galaterbrief und er fährt fort: «Seid ihr aber Christi, so seid ihr Abrahams Nachkommen und der Verheißung gemäß Erben» (3,28f.). Was unter ‹Erben der Verheißung› zu verstehen ist, verdeutlicht der Apostel in beinahe jedem seiner Briefe. Kurz und bündig formuliert der Philipperbrief 3,20: «Unsere Heimat ist im Himmel». Dem entsprechend mahnt auch der Verfasser des Ersten Petrusbriefes: «So lange ihr in der Fremde seid, führt ein Leben in der Gottesfurcht, während der Zeit eurer Pilgerschaft» (1,17) und einige Sätze weiter heißt es lapidar: «Ihr seid Pilger und Fremdlinge» (2,11).
Das Pilger- und Fremdlingsein gilt für Christen allerdings nur in Bezug auf ihr Dasein auf Erden. Sofern sie Erlöste sind, haben sie ihren Erdenstand grundsätzlich überwunden. So kann der Verfasser des Epheserbriefes sagen: «Ihr seid jetzt nicht mehr Fremde oder Beisassen, vielmehr seid ihr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes» (2,17). Es ist also dieser Doppelaspekt in der neutestamentlichen Pilgerschaft zu sehen: Weil Christen ‹die zukünftige Stadt suchen›, haben sie ‹hier keine bleibende› (Hebr 13,14).
Eine weitere Voraussetzung für ein besseres Verständnis der Rolle der Pilgerschaft in der Spiritualität des hl. Augustinus bietet uns das Wissen um die Bewertung der ‹Welt› im Neuen Testament. Der Begriff ‹Welt› bzw. ‹Kosmos› ist ebenfalls alles andere als eindeutig. ‹Welt› ist zunächst das ‹Weltall› mit allen Kreaturen, die Gott zum Schöpfer haben. Diese ‹Welt› ist von begrenzter Dauer; ‹ihre Gestalt vergeht› (1 Kor 7,31). Um den Kosmos von Gott und der kommenden neuen Schöpfung Gottes abzuheben, spricht das Neue Testament häufig von ‹diesem Kosmos› (vgl. 1 Kor 3,19; 5,10; Joh 12,31; 16,11 u.a.).
Eingeschränkt auf die ‹Erde› ist die ‹Welt› Schauplatz der Geschichte. Jeder Mensch wird auf ihr geboren (vgl. Joh 16,21); auf ihr befinden sich ‹alle Reiche der Welt› (vgl. Mt 8,4); auf ihr wirkte Christus als ‹Licht der Welt› (vgl. Joh 9,5) und aus ihr kehrt er zum Vater zurück (vgl. ebd. 13,1). Gerade im Hinblick auf das Erlösungswerk Christi auf Erden erhält der Weltbegriff des Neuen Testamentes seine eigentümliche Färbung.
Ist die Welt erlösungsbedürftig, so steht sie in Gegensatz zu dem, der sie zu erlösen vermag, zu Gott. Diesen Gegensatz, dessen Grund in der Sünde liegt, hat der Apostel Paulus in aller Schärfe artikuliert. Die ‹Welt› wird in seinen Briefen zum Inbegriff einer zerrütteten Schöpfung. Gerade im Hinblick auf Christi Erlösungswerk kommt es zwischen den Christen und der Welt zu einer eigentümlichen Entfremdung. Zwar leben Christen in der Welt, aber sie treten in eine Distanz zu ihr. Sie sollen ‹die Welt sich so zunutze machen, als nutzten sie diese nicht› (1 Kor 7,31). «Gleicht euch nicht der Welt an», lautet die paulinische Devise, «sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist» (Röm 12,2).
Eine noch deutlichere Sprache in Bezug auf eine Distanz zur Welt begegnet uns in den johanneischen Schriften. Zwar heißt es da, ‹Gott habe die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn für sie hingab» (Joh 3,16), zugleich aber erscheint die ‹Welt› als die große Gegenspielerin Gottes, die nach wie vor ‹vom Bösen beherrscht› wird (vgl. 1 Joh 5,19). Wie bei Paulus gehören auch bei Johannes die Gläubigen nicht mehr der ‹Welt› an, obwohl sie ‹aus der Welt› erwählt sind (Joh 15, 19). In der ‹Welt› lebend, werden sie die ‹Welt› besiegen, denn der Sieg ist durch den Erlöser bereits grundsätzlich erkämpft (vgl. 1 Joh 5,4). Gleich dem Christus in seinen Erdentagen befinden sich die Christen zwar immer noch ‹in der Welt› (vgl. Joh 9,5), sie gehören aber der Welt nicht mehr an. Daher die Weisung in 1 Joh 2,15: «Liebt die Welt nicht und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht in sich».
Diese Doppelbewertung der ‹Welt› ist für das Verständnis der christlichen Spiritualität überhaupt und für deren augustinische Prägung im Besonderen von denkbar großer Bedeutung: Sofern die ‹Welt› von Gott herkommt, ist an ihrer kreatürlichen Güte festzuhalten, sofern sie durch die Sünde der Ort der Abkehr von Gott und der Gottferne geworden ist, haben Christen sich von ihr zu distanzieren. Eine radikale und totale Ablehnung der Welt kennt das Neue Testament wegen der Verheißung einer neuen Schöpfung am Ende der Zeiten nicht.
Wenden wir uns nunmehr dem Thema der Pilgerschaft in der Psalmenerklärung Augustins zu, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Begriff ‹Pilger›, also das entsprechende lateinische Wort ‹peregrinus›, beim Kirchenvater noch nicht wie in späteren Jahrhunderten ‹den Wallfahrer› meint, sondern, wie in der Bibel üblich, den ‹Fremdling›.
Die Wortgruppe ‹Pilger›, ‹pilgern› und ‹Pilgerschaft› kommt in allen Schriften Augustins 841mal und in den Psalmenerklärungen 299mal vor. Einen besonders aufschlussreichen Text liefert der kurze Psalm 119, den die Kirche in ihrem Stundenbuch als dritten der Psalmen in den kleinen Horen jeweils am Montag in der vierten Woche betet. In dem aus sieben Versen bestehenden Psalm beklagt der Beter seine Not inmitten ihm feindlich gesonnener Stämme, dass er also in der Fremde wohnen bzw. leben müsse.
Die Verse 5-7 artikulieren diese Not; in der Übersetzung des Stundenbuches lauten sie: «Weh mir, dass ich als Fremder in Meschech bin und bei den Zelten von Kedar wohnen muß!» (5) «Ich muss schon allzu lange wohnen bei Leuten, die den Frieden hassen» (6). «Ich verhalte mich friedlich; doch ich brauche nur zu reden, dann suchen sie Hader und Streit» (7). «Meschech› und ‹Kedar› waren für Israel feindliche Stämme.
Was macht Augustinus, der Bischof und Theologe der Kirche und zugleich glänzende Redner aus diesen Versen? Wie legt er sie im Lichte der neutestamentlichen Verkündigung aus? Was versteht er unter einem ‹leben müssen in der Fremde›? Wer überhaupt ist der Fremde? Der Christ, sagt Augustinus, der Christ inmitten der Welt. «Weit habe ich mich von dir entfernt, meine Pilgerschaft ist eine lange währende. Ich befinde mich noch nicht in jenem Vaterland, wo ich mit keinem Bösen mehr leben werde; noch befinde ich mich nicht in der Gesellschaft von Engeln, in der keine Skandale mehr zu befürchten sind.
Warum bin ich noch nicht dort? Weil mein Dasein als Beisasse noch andauert. Beisasse sein bedeutet Pilgerschaft. Beisasse ist, der in einem fremden Land wohnt, nicht in seiner Gemeinde. ... Gelegentlich kommt es vor, Brüder, dass ein Mensch in der Fremde besser lebt, als er vielleicht in seiner Heimat leben würde. Dies aber ist nicht der Fall, wenn wir fern von jenem Jerusalem leben, das im Himmel ist. Der Mensch wechselt seine Heimat und bisweilen ergeht es ihm in der Fremde gut: Er trifft dort auf treue Freunde, die er in der Heimat nicht antraf. (Nehmen wir an,) Er hatte Feinde, so dass er die Heimat verlassen musste; und als er in der Fremde lebte, fand er, was er in der Heimat vermisste.
So verhält es sich mit jenem Jerusalem, wo alle gut sind, nicht. Wer immer sich außerhalb Jerusalems aufhält, lebt unter Bösen; ja, er vermag sich von diesen nicht zu entfernen, es sei denn, er kehrt zur Gesellschaft der Engel zurück, um dort zu sein, von wo aus gesehen er sich in der Fremde aufhält. Dort befinden sich alle Gerechten und Heiligen, die sich Gottes Wort, ohne es auf Buchstaben lesen zu müssen, zu eigen machen. Was uns auf Blättern geschrieben wurde, dies schauen sie in Gottes Angesicht. Welch ein Vaterland! Fürwahr, ein großes Vaterland, und wie elend sind jene, die sich fern davon auf aufhalten.
Aber die Klage ‹Allzu lange schon muss ich in der Fremde wohnen› ist der Notschrei jener Kirche, die hier auf Erden pilgernd leidet. Es ist die Stimme jener (Kirche), die von den Enden der Erde laut ruft, wie es in einem anderen Psalm heißt: ‹Von den Enden der Erde rufe ich zu dir› (Ps 60,3). Wer von uns ruft von den Enden der Erde? Nicht ich, nicht du, nicht er; von Enden der Erde ruft vielmehr die Kirche selbst, die Alleinerbin Christi, denn sie ist seine Erbin, von ihr, der Kirche, wird gesagt: ‹Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe und zum Besitz die Grenzen der Erde› (Ps 2,8).
Wenn demnach der Besitz Christi sich bis zu den Grenzen der Erde erstreckt und dieser Besitz Christi alle Heiligen umfasst und alle Heiligen einen einzigen Menschen in Christus bilden, weil doch eine heilige Einheit in Christus ist, dann ist er selbst dieser Eine, der so spricht: ‹Von den Enden der Erde rufe ich zu dir, weil mein Herz sich ängstigt› (Ps 60,3).
Von dieses einzigen Menschen langem Aufenthalt unter Bösen in der Fremde handelt (unser Psalm). Und als ob er gefragt würde: Bei welchen Menschen weilst du, dass du so klagst? Antwortet jener: ‹Mein Aufenthalt in der Fremde dauert schon allzu lange›. Was aber, wenn er bei Guten wohnte? Wohnte er bei Guten, so klagte er nicht ‹Wehe mir!› ‹Weh mir› ist ein Ruf im Elend, ein Ruf im Unheil und im Unglück; dennoch auch ein Ruf der Hoffnung – der Hoffnung, weil er bereits zu seufzen und zu stöhnen gelernt hat.
Viele gibt es nämlich, die sich im Elend befinden und nicht seufzen, sie leben in der Fremde und weigern sich zurückzukehren. Der Beter der Psalmen hingegen erkennt (bereits) das Ungemach seiner Pilgerschaft und weil er (diese seine Lage) erkannt hat, kehrt er um; er beginnt aufzusteigen, indem er den Stufengesang zu singen anhebt.
Wo seufzt er? Und inmitten welcher Menschen wohnt er?‹Bei den Zelten von Kedar muss ich wohnen›». Was meint ‹Kedar›, fragt der Prediger und er antwortet: «Kedar, soweit ich mich an die Bedeutung hebräischer Name erinnere, heißt Finsternis».
Der Bischof holt dann zu einer ausführlichen Interpretation der Genesiserzählung von den zwei Söhnen Abrahams aus: von Isaak und von Ismael, der, wie bereits im ersten Vortrag dargelegt, nach dem Galaterbrief des Apostels Paulus das irdische Jerusalem versinnbildlicht, das lediglich als eine Abschattung jenes lichtdurchfluteten himmlischen Jerusalems gilt, das dem Isaak und seinen Erben verheißen ist. Augustinus zitiert Gal 4,29, wonach der auf natürlichem Weg des Fleisches Geborene jenen verfolgte, der aufgrund geistlicher Verheißung zur Welt kam, und fährt dann fort: «Die Geistlichen erleiden durch die Fleischlichen Verfolgung. Was aber sagt die Schrift? ‹Vertreibe die Magd und ihren Sohn, denn der Sohn der Magd darf nicht mit meinem Sohn Isaak Erbe sein› (Gen 21,10)».
«Wann wird dieses ‹Vertreibe!› erfolgen?», fragt der Prediger, und er beantwortet die Frage indirekt mit dem Hinweis auf das Gleichnis Jesu vom Unkraut im Weizen: bis ‹die Zeit der Ernte› gekommen sein wird (vgl. Mt 13,30), so lange dauert das ‹Weh mir›, das Wohnen müssen in der Fremde unter Fremden.
«Meine Seele muss lange schon in der Fremde weilen», lautet der Vers 6 des Psalms 119 bei Augustinus und die Erklärung, die er dazu gibt, ist wieder höchst aufschlussreich: «Der Psalmist spricht von der Seele», hebt der Prediger hervor, «damit du nicht an eine leibliche Pilgerschaft (an ein leibliches Verweilen in der Fremde) denkst. Der Leib pilgert in Räumen, die Seele in der Kraft ihrer Affekte. Liebst du die Erde, so weilst du fern von Gott; liebst du Gott, so steigst du zu ihm auf. In der Gottes- und in der Nächstenliebe wollen wir uns üben, um zur Liebe zurückkehren zu können». Der Psalmist, der seinen Zustand in der Fremde beklagt, demonstriert sozusagen durch diese seine Klage, dass er kraft seiner Affekte selbst in der Fremde bei Gott zu verweilen versteht.
Der Pilgerschaft im Leib steht die Pilgerschaft im Geist gegenüber. Letztere hat den Aufstieg, den von Augustinus so viel gepriesenen Stufengesang im Sinn. Die pilgernde Seele überwindet das Jammertal, sie erleidet den Unfrieden und erstrebt den Frieden. «Friedfertig war ich zu denen, die den Frieden hassen», heißt es im Schlussvers des Psalms und der diesen Vers auslegende Bischof ermahnt den betenden Christen zu tun, was er da betet. «Ihr vermögt die Wahrheit dessen, was ihr da singt, nicht anders zu bezeugen, als indem ihr zu tun beginnt, wovon ihr singt».
Mit dem Herzen wollen die Psalmen gebetet und gesungen werden, lehrt Augustinus und er stellt die Frage in den Raum: «Wie viele beten nur mit der Stimme, bleiben aber im Herzen stumm? Wie viele hingegen beten schweigend, verleihen jedoch den Affekten laut ihre Stimme? Zu Recht», sagt er, «denn es ist das Herz, auf das Gottes Ohren sich richten. ... Es ist also das Herz, das betend so spricht: ‹Meine Seele muss lange schon in der Fremde weilen: friedfertig war ich zu denen, die den Frieden hassen›».
In der Erklärung Augustins zu diesem Psalm 119 stößt man auf nahezu sämtliche Aspekte seiner Lehre über die Spiritualität der christlichen Pilgerschaft. Ich möchte lediglich einige der wichtigeren nochmals aufgreifen und zu vertiefen versuchen.
Da ist zunächst das Ziel der Pilgerschaft, ohne dessen Kenntnis von einer christlichen Spiritualität überhaupt nicht gesprochen werden kann. Dieses Ziel ist praktisch mit dem Kern der christlichen Verkündigung identisch. Schließt doch das Credo der Kirche bekanntlich mit dem Satz: «Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt». Alles, was zuvor im Credo zur Sprache kommt, die Schöpfung, die Menschwerdung Christi, die Sendung des Geistes und dessen Wirken in der Kirche, zielt bereits auf diesen Schlusssatz ab.
Zu beherzigen ist deshalb trotz allen Redens von einem modernen, aufgeklärten Christentum, das ein Festhalten an einem Leben nach dem Tod für lächerlich und für absurd hält, immer noch der Satz des Apostels Paulus: «Wenn wir nur in diesem Leben auf Christus gehofft haben, ist unser Elend größer als das aller anderen Menschen» (1 Kor 15,19). Dieser Satz erst verleiht der Lehre Augustins über die christliche Pilgerschaft ihren Sinn, denn wer pilgert – dies besagt bereits der im Begriff ‹Pilgern› – kennt ein Ziel und er beginnt sein Pilgern mit festem Blick auf das erfasste Ziel. Augustinus nennt das Ziel mit Vorliebe ‹Vaterland› bzw. ‹Heimat›, ‹Gottesstaat› und allem voran das ‹himmlische Jerusalem›.
Dazu einige luzide Texte: Das Land, das die Sanftmütigen besitzen werden, ist «das heilige Jerusalem, das von jedweder Pilgerschaft befreit mit Gott und von Gott in Ewigkeit lebt» (en. Ps. 36,1,12). In aller Deutlichkeit unterscheidet sich jenes Jerusalem von dem, ‹das noch hier auf Erden pilgert›, wo Christen als Pilger noch allen Verlockungen der Welt ausgesetzt sind (ebd. 103,4,3). Bürger jenes Jerusalem sind die Engel, die uns gewissermaßen als von der Pilgerschaft Heimkehrende erwarten (ebd. 126,3). Zu jenem himmlischen Jerusalem zählen ferner die dort bereits Angekommenen, «die schon die Stadt (Gottes) schauen und uns ermuntern, im Lauf dorthin nicht zu erlahmen» (ebd. 121,2).
Gerne verwendet Augustinus Begriffspaare, die das Unterwegssein zum Ziel, sei es örtlich, sei es zeitlich, besonders einprägsam veranschaulichen wie ‹hier› und ‹dort› oder ‹schon› und ‹noch nicht› oder ‹jetzt› und ‹dann›. In diesem Leben, also hier und jetzt gilt es der Pilgerschaft eingedenk zu sein (ebd. 87,13; 89,15; 93,7), was freilich nur gelingt und was umso mehr gelingt, je intensiver der gegenwärtige Zustand von dem am Ende der Pilgerschaft verheißenen Zustand her bzw. auf diesen hin reflektiert wird.
Zu solch intensiver Reflexion laden über die Psalmen hinaus auch zahlreiche andere Texte der Heiligen Schrift ein, auf die Augustinus bei seinen Erklärungen gerne zurückgreift. Der wohl am meist zitierte ist der Vers 6 aus dem 5. Kapitel des 2. Korintherbriefes: «Wir sind also immer zuversichtlich, auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, so lange wir in diesem Leib zu Hause sind». Im Kontext dieser Stelle ist die Rede vom ‹irdischen Zelt, das abgebrochen wird›, weil wir «dann eine Wohnung von Gott haben werden, ein nicht von Händen errichtetes ewiges Haus im Himmel», ferner vom «seufzen, so lange wir in diesem Zelt leben» (5,1-4). In diesem Abschnitt begegnet uns ein guter Teil jener Begriffe für die Zustandsschilderungen der christlichen Pilgerschaft, die Augustins Psalmenerklärungen inhaltlich wie auch sprachlich prägen.
Natürlich verstand sich der ehemalige Lehrer der Redekunst auf ein lebhaftes Schildern der Nöte und Lasten, der Leiden und Bedrängnisse der Gläubigen während ihrer Pilgerschaft. Der Kernbegriff bei solchen Schilderungen ist das Wort ‹tribulatio-Drangsal›. «Ich frage euch, weshalb soll dieses Leben (hier und jetzt) keine Drangsal sein, wo doch die Pilgerschaft auf Erden selbst nichts als Drangsal ist?», heißt es in der Erklärung zu Psalm 76,3. Und zum Vers 5 des Psalms 85 «Am Tag der Drangsal habe ich zu dir gerufen, weil du mich erhörst» lautet der Kommentar: «Kurz vorher sagte er (der Psalmist), ‹den ganzen Tag rief ich› (Vers 3), den ganzen Tag war ich in Bedrängnis. Kein Christ soll also sagen, es gäbe einen Tag ohne Drangsal. ... Wie vermag eine Drangsal überhaupt gepriesen werden? Drangsal ist doch Drangsal! ... Wohl deshalb: So lange wir uns im Leib befinden, pilgern wir fern vom Herrn. Was immer hier überhand nimmt, ändert nichts am Zustand, dass wir noch nicht in jenem Vaterland sind, wohin zurückzukehren wir uns beeilen. Wen der Aufenthalt in der Fremde anzieht, liebt sein Vaterland nicht».
Die Liebe zum Vaterland und die Liebe zum Aufenthalt in der Fremde sind also nach Augustinus dialektisch einander zugeordnet und schließen sich gegenseitig aus. Deshalb fährt er fort: «Ist das Vaterland anziehend, so ist der Aufenthalt in der Fremde widerlich. Ist aber der Aufenthalt in der Fremde widerlich, so währt die Drangsal den ganzen Tag (so lange die Pilgerschaft dauert). Wann wird es die Drangsal nicht mehr geben? Wenn wir im Vaterland sein werden, wo die Wonne herrscht».
Wenn schon das Fernsein von geliebten Personen uns Kummer bereitet, soll dann die Ferne von Gott nicht umso mehr als Drangsal empfunden werden? Deshalb gehören zur christlichen Pilgerschaft ‹Beklemmung›, ‹Aufreibung›, ‹Bedrückung›, kurz Drangsale aller Art (ebd. 83,8). Sie, die Drangsale, sind das Stigma der Pilgerschaft (ebd. 85,11 und 137,12).
Freilich hat die Auslegung des Daseins als Pilgerschaft das Selbstverständnis des Christen als eines Bürgers des Himmels zur Voraussetzung. «An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten», so beginnt bekanntlich der Psalm 136 und Augustinus erinnert gleich in der Einleitung seiner Predigt zu diesem Psalm die Zuhörer daran, dass eigentlich jeder Gebildete in der Kirche wissen müsse, 1.) wessen Vaterlandes Bürger er ist, 2.) dass der Grund seiner Pilgerschaft hier auf Erden in der Sünde zu suchen ist und 3.) dass seine Rückkehr ins Vaterland allein kraft der ihm zuteil gewordenen Rechtfertigungsgnade ermöglicht wird.
Erinnern wir uns an das im ersten Vortrag über die Identität zwischen dem Gottesstaat und der unsichtbaren Kirche Gesagte. Bürger des Gottesstaates sind die Glieder am Leibe Christi, die zur unsichtbaren Kirche gehören, von der ein Teil immer noch auf Erden pilgert (vgl. ebd. 41,9). Es pilgerte aber auch das Haupt der Kirche, Christus, hier auf Erden. Als er bei seiner Menschwerdung Fleisch annahm, teilte er mit uns die Pilgerschaft, er vermittelt uns aber nach seiner Verherrlichung auch die Gnade der Rechtfertigung, so dass er in Bezug auf die Kirche der noch zu Rechtfertigenden sagen kann, in ihnen pilgere er immer noch auch auf Erden. Es können aber auch jene, die zu ihm gehören, sagen: Wir pilgern zwar noch hier auf Erden, aber wir sind bereits Bürger des Reiches, in dem er, unser Haupt und Erlöser, König ist (vgl. ebd. 138,2.5).
Ebenfalls im ersten Vortrag erwähnte ich bereits den Begriff der Heilsgeschichte. Eigentlich ist sie nichts anderes als die Geschichte unserer Pilgerschaft. Darauf kommt Augustinus in der Erklärung zum Psalm 146 ausführlich zu sprechen. Der Psalm beginnt mit den Versen: «Gut ist es, unserem Gott zu singen; schön ist es, ihn zu loben. Der Herr baut Jerusalem wieder auf, er sammelt die Versprengten Israels». «Der Herr baut Jerusalem wieder auf». Jerusalem ist, wir wissen es schon, ‹die Stadt Gottes›, Ort der Gottschau: Davon ist der Prediger fasziniert.
Hören wir ihn: «Alle Bürger jenes Staates sind voller Freude bei der Schau Gottes in jener großen und weiten Stadt. Als Schau-Spiel (Augustinus spricht vom ‹spectaculum›) bietet sich ihnen Gott selbst dar. Was allerdings uns (die Menschenkinder) betrifft, so hat die Sünde bewirkt, nicht dort bleiben zu können, sondern uns in die Fremde zu begeben; durch die Sterblichkeit belastet sind wir auch nicht mehr in der Lage, dorthin zurückzukehren. Gott hat jedoch huldvoll auf unsere Pilgerschaft geschaut und jener, der Jerusalem aufbaut (Christus, der Erlöser) hilft dem gefallenen Teil (jener Gottesstadt) wieder auf. Wie hilft er dem gefallen Teil wieder auf? Indem er ‹die Versprengten Israels sammelt› (Vers 2). Es fiel nämlich ein Teil Israels und ward entfremdet. Auf diesen entfremdeten Teil blickte Gott gnädig und er ging denen nach, die ihn nicht suchten. Wie ging er ihnen nach? Wen sandte er in unsere Gefangenschaft? Er sandte den Erlöser, ... der Jerusalem wieder aufbaut» (146,4).
Bei der Lektüre der Psalmenerklärungen Augustins, die von unserer Pilgerschaft hier auf Erden handeln, begegnet man immer wieder Anspielungen auf die Parabel vom verlorenen Sohn. Wie sinnvoll! Dieses sogenannte ‹Evangelium in den Evangelien› aus Lk 15,11-32, illustriert es nicht aufs Schönste, worum es beim Thema ‹der Christ als Pilger in der Welt› eigentlich geht?
Ich denke, wenn wir uns beim Psalmengebet geistig in die Rolle dieser Figur aus der Parabel vom verlorenen Sohn versetzen, dann dürften wir daraus für unsere christliche Spiritualität einen denkbar großen Nutzen ziehen.
Dritter Vortrag
«Also bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe; diese drei;
am grössten unter ihn ist die liebe» (1 Kor 13,13)
Die Bedeutung von Glaube, Hoffnung und Liebe für den Vollzug der christlichen Pilgerschaft
(Leitfaden durch den Vortrag)
Die zentrale Stellung von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› in den Briefen des Apostels Paulus, speziell im Römerbrief; – Röm 5,1-5; – Augustins Schrift Über Glaube, Hoffnung und Liebe; – die Dichte der Vorkommen von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› im Psalmenkommentar Augustins; – These: Wer immer vom Christentum spricht, muss nach Augustins Überzeugung von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› sprechen, und zwar, wie er dieses im Neuen Testament beschrieben vorfindet.
Einschränkung des Stoffes und Bemerkung zur Methode der Psalmenexegese Augustins; – die wichtige Unterscheidung, die Augustinus zwischen einer ‹Glaubenswahrheit› und einem ‹Glaubensakt› machte; – der Vorrang des ‹Glaubensaktes› vor der ‹Glaubenswahrheit›; – zur Illustration: Auslegung von Psalm 31,1-2a: «Wohl dem, dessen Frevel vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zur Last legt» im Lichte von Röm 4,2: «Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet»; – das Thema der Auslegung: die Rechtfertigung des Sünders; – der Einwand der Heiden: Vorrang der guten Werke gegenüber dem Glauben; – Darlegung des Glaubens der Kirche am Beispiel Abrahams aus der Sicht sowohl des Römer- wie des Jakobusbriefes; – These: Nach dem Beispiel Abrahams, der seinen Sohn Isaak Gott zu opfern bereit war, rechtfertigt Augustinus zufolge nicht der Glaube, der die guten Werke ausschließt, sondern jener, der sie einschließt.
Die christliche Hoffnung: ein Wesensmerkmal der Pilgerschaft; – der Hoffnungsbegriff des Alten Testamentes, speziell der Psalmen; – nahezu keine, nur selten und geringfügig zur Sprache gebrachte Jenseitshoffnung im Alten Testament und in den Psalmen; – die aufschlussreichen Überschriften zu den einzelnen Psalmen im ‹Stundengebet› und der Wunsch der Kirche, sie im Lichte der neutestamentlichen Jenseitshoffnung zu beten; – der für das Verständnis der Hoffnung in der neutestamentlichen Verkündigung zentrale Text aus Röm 8,20-26 mit dem Kernsatz: «Denn an die Hoffnung ist unsere Rettung gebunden»; – Auslegung des Psalms 125 «Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende ...»; – der alttestamentlich historische Hintergrund des Psalms und seine neutestamentliche Auslegung bei Augustinus; – das unumgängliche Seufzen der Glieder des Leibes Christi als Glaubende und als Hoffende; – die Hoffnung als Anker des christlichen Glaubens; – These: Neben dem neuen, in der Taufe durch die Rechtfertigungsgnade erworbenen Status – dieser ist unter den ‹Erstlingsgaben des Geistes› zu verstehen – tragen wir noch die Überreste des Alten. Das volle und eigentliche Heil ist uns erst der Hoffnung nach gegeben.
Die ‹caritas› – ihre Bedeutung in den paulinischen und johanneischen Schriften des Neuen Testamentes; – Begriffliches zum Wort ‹Liebe› im Schrifttum Augustins; – der augustinische Imperativ: «Liebe, und tu (!) dann, was du willst»; – die Deutung der ‹caritas› als Wollen des Guten; – die Rolle des Willens dargestellt bei der Bekehrung Augustins; – die durch Gnade bewirkte Umwandlung des ‹fleischlichen Willens› in einen ‹geistigen›; – Augustins Deutung seiner Bekehrung als eine Art Liebeszene: «Spät hab’ ich dich geliebt ...»; – «Gib, was du forderst, und dann fordere, was du willst»; – zur Kritik am Gnaden- und Liebesbegriff Augustins; – ‹die Ordnung der Dinge› und das ‹Gewicht der Liebe›; – die ‹caritas› im Glaubensgehorsam Abrahams; – die Begierde als verkehrte Liebe; – These: Immer ist der eigentliche Gegenstand der ‹caritas› das Gute. Streng genommen haben alle drei göttlichen Tugenden nichts anderes zum Gegenstand. Die Psalmen als Gebete der Bibel laden uns ein, Gott, den Inbegriff des Guten, zu loben, zu preisen und ihm zu danken.
Vortrag
Augustinus war zweifelsohne einer der größten Schüler des Apostels Paulus – vielleicht wurde er von Martin Luther übertroffen. Es gibt keinen Brief des Apostels, in dem der Glaube, die Hoffnung und die Liebe – in der kirchlichen Tradition heißen sie die theologischen Tugenden – nicht eine dominierende Rolle spielten. Allein in dem von Augustinus so überaus bevorzugten Römerbrief nehmen die Ausführungen über den Glauben, der Gerechtigkeit und neues Leben schenkt, einen außergewöhnlich breiten Raum ein. Die Hoffnung und die Liebe sind gleichsam Früchte des Glaubens. Ebenso präzise wie sprachlich vollendet legt der Römerbrief den Zusammenhang von Glaube, Hoffnung und Liebe in den Versen 1-5 des 5. Kapitels dar.
«Gerecht gemacht aus Glauben haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung, mit der wir der Herrlichkeit Gottes entgegengehen. Mehr noch: wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist».
In dem zitierten Abschnitt geht es im Prinzip um die christliche Pilgerschaft, denn darin ist vom ‹Entgegengehen der Herrlichkeit Gottes› die Rede und, wie im zweiten Vortrag schon dargelegt, von der ‹Bedrängnis›, von der ‹Geduld› und von der ‹Bewährung› während des ‹Entgegengehens›.
Für ein christliches Verständnis von Glaube, Hoffnung und Liebe ist es wichtig zu sehen, dass es sich bei deren Vollzug primär nicht um Ethik, nicht um Sittlichkeit, sondern um die Beziehung des Menschen zu Gott, um das Stehen vor Gott handelt – daher auch der Sammelname ‹theologische Tugenden›. Als Augustinus im letzten Jahrzehnt seines Lebens ein Handbuch über das Christentum für Gebildete schrieb, gab er diesem Spätwerk den charakteristischen Titel: De fide, spe et caritate – Über Glaube, Hoffnung und Liebe. Er legte darin, dem apostolischen Glaubensbekenntnis folgend, die Grundwahrheiten des katholischen Glaubens dar, und zwar in der Tiefensicht, die er aus der Zusammenschau von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› im Neuen Testament schöpfte. Wer immer vom Christentum spricht, das war seine tiefste Überzeugung, muss vom ‹Glauben›, von der ‹Hoffnung› und von der ‹Liebe›, und zwar, wie er diese im Neuen Testament beschrieben vorfindet, reden.
Die Gewichtigkeit von ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› in der Verkündigung des Apostels Paulus beherrscht unübersehbar das gesamte schriftstellerische Schaffen des Kirchenvaters und darum selbstredend auch seinen Psalmenkommentar. Das in der Fachwelt vielbegehrte Corpus Augustinianum Gissense, der EDV-Text aller Werke Augustins, meldet allein für den Teil dieses Kommentars 939 Treffer für ‹fides-Glaube›, 783 für ‹spes-Hoffnung› und 1185 für ‹amor/dilectio/caritas-Liebe›. Man wird im Hinblick auf diese ihre dichte Präsenz sagen können, ‹Glaube›, ‹Hoffnung› und ‹Liebe› durchziehen die Erklärungen zu den Psalmen gleich einem roten Faden. Eine christliche Spiritualität augustinischer Prägung ist ohne sie unvorstellbar.
Ehe wir uns den einzelnen der drei göttlichen Tugenden zuwenden, sei darauf hingewiesen, dass dabei nur wenige Aspekte aus der Fülle der Gedanken Augustins zur Sprache gebracht werden können. Der Prediger geht methodisch in der Regel so vor, dass er jeweils ein Stichwort aus einem Psalm bzw. Psalmvers aufgreift, um an ihm eine Glaubensfrage mehr oder weniger umfassend zu erklären.
Was Augustins Lehre vom Glauben betrifft, so ist auf eine wichtige Unterscheidung hinzuweisen, die in der späteren Theologie vernachlässigt, wenn nicht gar vergessen wurde. Hören wir das Wort ‹Glauben› im Kontext christlicher Verkündigung, so denken wir zunächst und zumeist an bestimmte, im Credo der Kirche oder im Katechismus formulierte Glaubenssätze. Diese kannte Augustinus selbstverständlich auch, sie spielen aber in seinem Denken eine untergeordnete Rolle. Warum? Weil dies auch in der Bibel, speziell in den Psalmen und im Neuen Testament, weithin der Fall ist. Dort begegnen uns nur gelegentlich formelhafte Glaubenswahrheiten, sogenannte Kurzformeln des Glaubens wie «Herr ist Jesus» oder die Taufformel oder die Einsetzungsworte beim Abendmahl.
Nach den biblischen Schriften ist jedoch der ‹Glaube› eher eine Haltung, ein Vertrauen, eine Hingabe. Diesen Unterschied nahm Augustinus nicht nur deutlich wahr, er brachte ihn auch klar zur Sprache, indem er die formelhaften Wahrheiten, ‹das zu Glaubende› (‹fides quae creditur›), von den Akten des Vertrauens Gott gegenüber, ‹dem Glaubensakt› (‹fides qua creditur›), abhob. Zwar sind die Ersteren für die christliche Spiritualität nicht unwichtig, die Letzteren haben jedoch absoluten Vorrang.
Es versteht sich deshalb auch, dass, wie bereits erwähnt, Augustinus seinem Handbuch über den christlichen Glauben den Titel Über Glaube, Hoffnung und Liebe gab – geht es doch darin jeweils um Haltungen, um Vertrauen, um Hingabe. Und es braucht deshalb ebenso wenig wundernehmen, dass die ‹Glaubenswahrheiten› in den Psalmenerklärungen kaum eine Rolle spielen, umso mehr hingegen die ‹Glaubensakte›.
Zur Illustration möge ein aufschlussreicher Text genügen. Im Römerbrief argumentiert der Apostel bei der Darlegung seiner Rechtfertigungslehre mit dem Glauben Abrahams. «Abraham glaubte Gott und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet», heißt es dort (4,2 = Gen 16,6). Die Auslegung zum Psalm 31, der mit den Sätzen beginnt «Wohl dem, dessen Frevel vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zur Last legt», bietet dem Prediger Gelegenheit, die Bedeutung des Glaubens für das Heil umfassend darzulegen.
Augustin sagt, bereits die einleitenden Verse dieses Psalms über ‹die vergebenen Frevel›, über ‹die bedeckte Sünde›, über ‹die beseitigte Last der Schuld› lüden den Beter ein, über den Glaubensakt als Bedingung des Heils nachzudenken, genauer über die Gnade der Rechtfertigung des Sünders, und zwar ohne vorausgegangene Verdienste. Allerdings sei dies keine Freibrief, über ein bewusstes Verbleiben in der Sünde (etwa im Sinne des Lutherwortes ‹sündige tapfer, aber glaube noch tapferer!›), denn im Vers 5 betet der Fromme: «Ich sagte: Ich will dem Herrn meine Frevel bekennen. Und du hast mir die Schuld vergeben» (ebd. 1)
Die Predigt zum Psalm 31 wurde in einem Gottesdienst gehalten, denn der Prediger erwähnt, er habe eigens im Blick auf dieses Thema der Rechtfertigungsgnade als Lesung das einschlägige Kapitel aus dem Römerbrief über den Glauben Abrahams vorlesen lassen, um gegen jene, die sich ihrer eigenen Gerechtigkeit rühmten, mit der Autorität des Apostels Paulus argumentieren zu können.
«Viele rühmen sich ihrer (guten) Werke», sagt er. Zahlreiche Heiden wollen im Hinblick auf ihre eigene Ethik vom christlichen Glauben nichts wissen. «Was kann Christus mir zu tun schon vorschreiben?», mag da einer einwenden. «Dass ich sittlich gut lebe? Das tu ich bereits: Wozu benötige ich Christus? Ich töte niemanden, begehe keinen Diebstahl, keinen Raub» usw. usf. Solch ein Mensch, bemerkt der Prediger, «hat zwar seinen Ruhm, aber nicht bei Gott» (ebd. 2).
«Nicht so unser Vater Abraham», fährt der Ausleger fort, denn er wurde, wie die Schrift sagt, aufgrund seines Glaubens gerechtfertigt. Eingedenk der Möglichkeit einer exzessiven Auslegung dieses ‹allein aufgrund des Glaubens› im Sinne einer sittlichen Libertinage erinnert Augustinus seine Zuhörer sogleich auch an den Jakobusbrief, in dem das Neue Testament seiner Auffassung nach mit aller Schärfe gegen solche Christen Front macht, die in ihrer Dreistigkeit die guten Werke als Bedingung des Heils verneinten.
«Jakobus nämlich», sagt Augustinus, «... empfahl die Werke Abrahams, dessen Glauben Paulus empfahl: und beide widersprechen sich nicht. Er (Jakobus) bezieht sich nämlich auf ein allen bestens bekanntes Werk Abrahams, das seiner Bereitschaft, seinen Sohn Gott zu opfern (Jak 2,21). Fürwahr», fügt er hinzu, «ein großes Werk, aber aufgrund des Glaubens. Ich lobe den Überbau des (guten) Werkes, aber ich sehe ebenso das Fundament des Glaubens. Ich lobe die Frucht des guten Werkes, aber im Glauben erkenne ich seine Wurzel. Hätte Abraham dies, ohne den rechten Glauben zu haben, getan, es hätte ihm nichts genützt, was immer jenes Werk gewesen sein mochte. Umgekehrt, hätte Abraham im Glauben den Gehorsam, seinen Sohn zu opfern, verweigert und dabei gesagt, ich tu es zwar nicht, glaube aber dennoch, Gott werde mich, den Befehl Verweigernden dennoch retten, so wäre sein Glaube ohne gute Werke tot gewesen, steril gleich einer ausgetrockneten Wurzel ohne Frucht» (ebd. 3).
Das Dargelegte mag genügen, um zu sehen, wie der Theologe und Seelsorger Augustinus jede Chance wahrnahm, um den Christen zu vermitteln, worauf es im ‹Glauben› der Kirche, der von ihm über alles geschätzten ‹catholica›, die im Besitz aller Heilswahrheiten ist und keine vernachlässigen darf, ankommt.
Kommen wir zur christlichen ‹Hoffnung›. Sie ist geradezu ein Wesensmerkmal der Pilgerschaft, denn auf ein Ziel hin ist jedwede Hoffnung ausgerichtet. Sehr oft ergänzen sich beide Begriffe, denn keine christliche Pilgerschaft ohne Hoffnung auf das gesteckte Ziel wie auch jede Pilgerreise von der Hoffnung auf dieses Ziel unternommen wird.
Es sei nochmals daran erinnert, dass die neutestamentliche Hoffnung als theologische Tugend mit irdischen Gütern bzw. Zielen so gut wie nichts zu tun hat. In den Psalmen des Alten Testamentes wird zwar Gott selbst in der Regel als Gegenstand der Hoffnung genannt, aber diese Hoffnung bezieht sich konkret nicht selten auf seinen Beistand in den mannigfachen Bedrängnissen des Daseins. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Im Psalm 60 mit der Überschrift im Brevier ‹Gebet eines Verbannten› fleht der Beter «Gott höre mein Flehen, achte auf mein Beten! ... Du bist meine Zuflucht (= Hoffnung), ein fester Turm gegen die Feinde» (1.4.). Also, der Beter sucht angesichts des Feindes Schutz und Zuflucht bei Gott, um aus der konkreten Not entrinnen zu können. «Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott setzt», heißt es in Psalm 145,5. Der Text fährt aber dann fort, indem er wieder nur Nöte und Bedrängnisse des Daseins aufzählt, aus denen er Hilfe erhofft: «Der Herr öffnet den Blinden die Augen ... Der Herr beschützt die Fremden und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht» und Ähnliches mehr.
In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass die Schriften des Alten Testamentes inklusive der Psalmen ein Leben nach dem Tod kaum kennen. Erst in den Jahrhunderten unmittelbar vor der neutestamentlichen Zeit schafft sich der Gedanke an ein Fortleben in einem ‹Himmel› genannten Jenseits allmählich Bahn. Mit der Verkündigung der Auferstehungsbotschaft wird die Hoffnung zu jener typisch christlich-theologischen Tugend, die alle anderen Hoffnungen auf irdische Güter in den Schatten stellt.
Wirft man einen Blick auf die Überschriften der einzelnen Psalmen im Brevier, so artikulieren diese z.B. gleich in der ersten Vesper des Sonntags der ersten Woche Themen wie ‹Bitte um Bewahrung› zum Psalm 140 oder ‹Hilferuf in schwerer Bedrängnis› zum Psalm 141. Die Kirche wünscht aber, dass wir diese Psalmen möglichst in der Optik des Neuen Testamentes beten. Aus diesem Grunde fügt sie jeweils im Brevier unmittelbar unter der Überschrift einen charakteristischen Satz entweder aus dem Neuen Testament oder aus den Werken eines frühchristlichen Schriftstellers hinzu, der als eine Art Leitgedanke die Aufmerksamkeit des Beters auf die neutestamentliche Verkündigung hin auszurichten helfen soll. Dieses Verfahren entspricht ganz und gar der von Augustinus praktizierten Weisung, die Psalmen zu verstehen und zu beten.
Wir haben bereits zwei zentrale Texte der Hoffnung aus den Briefen des Apostels Paulus kennen gelernt – Röm 5,1-5 sowie 2 Kor 5,1-8 –, ein dritter darf nicht unerwähnt bleiben.
Im 8. Kapitel seines Römerbriefes kommt der Apostel auf die umfassende, auch den Kosmos miteinbeziehende Hoffnung auf eine neue Schöpfung zu sprechen. «Die Schöpfung», so lesen wir dort, «ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; zugleich gab er ihr Hoffnung: auch die Schöpfung soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Mehr noch: Obwohl wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen auch wir in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn an die Hoffnung ist unsere Rettung gebunden. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung; wie kann man auf etwas hoffen, was man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus und warten in Geduld» (20-26).
Es nimmt nicht wunder, wenn man in den Auslegungen von Psalmentexten, in denen von der Hoffnung die Rede ist, einigen dieser Sätze auf Schritt und Tritt begegnet. Begnügen wir uns mit einem Blick in die Auslegung des Psalms 125 mit dem Titel im Brevier ‹Heimkehr aus der Gefangenschaft›, dessen erste drei Verse lauten: «Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. Da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel. Da sagte man unter den anderen Völkern: ‹Der Herr hat Großes an ihnen getan›».
Der historische Hintergrund des Psalms ist klar: freudige Rückerinnerung an die Heimkehr aus dem Exil. Augustinus hingegen erblickt in den Gefangenen die noch hier auf Erden pilgernden Glieder des Leibes Christi, die dessen Haupt Christus durch seine Menschwerdung und sein Erlöserleiden befreite (en. Ps. 125,1). Wie aber geriet der Mensch überhaupt in die Gefangenschaft, fragt er und er findet die gesuchte Antwort in Röm 8,20-25. Paulus bezieht die Knechtschaft auch auf die Gläubigen, also ebenso auf sich selbst wie auf alle Gerechtfertigten, ‹die bereits die Erstlingsgaben des Geistes empfangen haben›.
«Demnach», so fährt der Prediger fort, «‹seufzen wir selbst in unserem Inneren, während wir auf die Annahme an Kindesstatt und auf die Erlösung unseres Leibes warten›. Es seufzte also auch er (Paulus) und es seufzen (mit ihm) alle Glaubenden ... Wo seufzen sie? In ihrem noch sterblichen Zustand. (Und) welche Erlösung erwarten sie noch? Die ihres Leibes, jene Erlösung, (so präzisiert er) die sich am Leib des von den Toten erstandenen und in den Himmel aufgestiegenen Herrn bereits ereignet hat. Ehe dies (alles auch) uns zuteil wird, ist es unumgänglich, dass wir (wie die Schöpfung und mit der Schöpfung) seufzen – auch als Gläubige, als Hoffende».
Im Folgenden wehrt der Prediger den Einwand ab, wenn Erlöste immer noch seufzten, was nützte einem dann das Evangelium von einer Erlösung? Ist, wer seufzt, schon heil?, fragt er. Ist ein solcher nicht vielmehr schwach und krank? Richtig, antwortet Augustinus, denn es heißt ja an der zitierten Stelle des Römerbriefes: «Unsere Rettung ist an die Hoffnung gebunden. Eine Hoffnung aber, die schon erfüllt ist, ist keine Hoffnung. Wie kann man etwas erhoffen, das man bereits sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus und warten in Geduld» (en. Ps. 125,2).
Das Gesagte mag genügen, um zu sehen, was die theologische Tugend der Hoffnung für unser Selbstverständnis als Christen bedeutet. Neben dem neuen, in der Taufe durch die Rechtfertigungsgnade erworbenen Status – dieser ist unter den ‹Erstlingsgaben des Geistes› zu verstehen – tragen wir noch die Überreste des Alten. Das volle und eigentliche Heil ist uns erst der Hoffnung nach gegeben. «In spe, nondum in re – der Hoffnung, noch nicht der Sache nach» heißt es wiederholt beim hl. Augustinus.
Auch was die dritte der theologischen Tugenden, die christliche ‹caritas›, betrifft, war Augustinus ebenfalls ein treuer Schüler des Apostels Paulus, aber auch des Verfassers bzw. der Verfasser der sogenannten johanneischen Schriften, des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe. Im Römerbrief konnte er den für die Auslegung des Alten Testamentes wegweisenden Satz lesen: «Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes» (13,10). Und sowohl seine Theologie wie auch seine Spiritualität waren geprägt von der Summe der johanneischen Verkündigung: «Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm» (1 Joh 4,16).
Ehe wir uns der Rolle der ‹caritas› in den Erklärungen zu den Psalmen zuwenden, ist zu klären, was der Kirchenvater Augustinus darunter überhaupt verstand. Im Latein stehen für das Wort ‹Liebe› drei Wörter zur Verfügung: ‹amor› (1328 Belege im CAG) steht eher für die begehrende, sinnliche, ‹amouröse› Liebe; ‹dilectio› (1602 Belege) und ‹caritas› (4835 Belege) stehen für das neutestamentliche Liebesgebot. Die Anzahl der Belege (im Psalmenkommentar: 180 für ‹amor›, 203 für ‹dilectio› und 802 für ‹caritas›) spricht bereits eine deutliche Sprache.
Unter den vielzitierten, zu geflügelten Worten gewordenen Sätzen Augustins über die Liebe dürfte der Imperativ «Dilige, et quod uis fac! – Liebe, und tu (!) dann, was du willst!» zu den bekanntesten, aber auch zu den missverstandensten zählen. Dabei deutet die Verbindung der Liebe mit dem Wollen und umgekehrt die Verbindung des Wollens mit der Liebe im zitierten Satz bereits an, worum es da letztendlich geht. Zielt der ‹Glaube› auf das Erkennen und Verstehen ab, so die ‹Liebe› auf das Wollen. Sittlichkeit hat es mit der Gesinnung zu tun und die Gesinnung ist eine Sache des Willens. Die ‹caritas› ist nicht Neigung, Sympathie, Gewogenheit, Begehren, Lust und dergleichen mehr, sondern schlicht und einfach Wollen – Wollen des Guten bzw. Wille zum Guten.
Diese Deutung der ‹caritas› außerhalb der Sphäre der puren Emotionalität und der Affekte, also der seelischen Angespanntheit, mag aufs Erste überraschen, gar befremden. Aber ein Blick in das Neue Testamente mit der charakteristischen Einbeziehung auch der Feinde in das Liebesgebot – «Liebt eure Feinde, tut denen Gutes, die euch hassen!» (Lk 6,27) – zeigt bereits die Richtigkeit der Zuordnung und Bindung der ‹caritas› an den Willen. Übrigens, wie soll man Feinde emotional lieben?
In seinen Confessiones schildert Augustinus ausführlich die Rolle des Willens bei seiner Bekehrung in Mailand. Er hörte dort die Predigten des Ambrosius und auch der Umgang mit einem christlichen Freundeskreis trug viel dazu bei, dass er sich von der Wahrheit der christlichen Verkündigung überzeugen ließ. Was ihm aber ein schier unüberwindliches Hindernis zu sein schien, war die Schwäche seines Willens. Es mangelten ihm die nötigen Willensimpulse.
Christ sein, dies legt er an Hand der Ereignisse von damals dar, ist mehr als Einsicht in die Wahrheit des Glaubens, mehr auch als natürliche Sittlichkeit. Christ sein ist Gnade, und diese wird durch die ‹caritas› vermittelt, die ‹durch den Heiligen Geist in die Herzen der Gläubigen gegossen wird›, wie er im Römerbrief (Röm 5,5) lesen konnte. Erst die mit der Gnade identische ‹caritas› war es, die seinen durch die Sünde geschwächten und geknechteten Willen sozusagen besiegte.
Aus diesem Grunde stellte er den Vorgang der Bekehrung selbst in zwei Stufen dar: Während auf der kognitiven, der die Glaubenserkenntnis betreffenden Stufe die Hindernisse bereits beseitigt waren, musste auf der Stufe des Willensvermögens einiges erst noch in Gang gesetzt werden.
Der noch mit sich ringende Augustinus vernahm um diese Zeit die Bekehrungsgeschichte seines Landsmannes Viktorinus und die des Mönchsvaters Antonius und dies schon deuten die Confessiones als Gnade, denn während des Zuhörens entbrannte der Hörer vor Eifer, es den beiden nachzutun. Die Gnade, so schreibt er, verwandelte seinen ‹alten fleischlichen Willen› zu einem ‹neuen geistigen›. Sie ist es, welche die Ketten des niedergehaltenen Willens allmählich, gelegentlich wie bei der Bekehrung des Apostels Paulus auch plötzlich, lockert.
Diese Umwandlung leistet nach Augustinus nicht der Mensch, sondern Gott. Wie aber Gott dies leistet, das ist das erregende Thema der Confessiones. Denn Augustinus, so lesen wir dort, begab sich in den Garten, wo er die Schwäche seines Willens beklagte: «Wie lange noch, wie lange morgen und morgen? Warum nicht jetzt? Warum soll nicht diese Stunde das Ende meiner Schmach sein?» Und dann vernahm er die Stimme: «Nimm und lies!» Licht erfüllte sein Herz und alle Finsternis war wie zerstoben (conf. 8, 28-30).
Viele Jahre später, als Augustinus seine Bekehrung aufzeichnete, beschrieb er diese als eine Art Liebeszene mit den lyrischen Sätzen: «Spät hab ich dich geliebt, du Schönheit, so alt und doch so neu, spät hab’ ich dich geliebt. ... Du hast gerufen und meine Taubheit zerrissen; du hast geblitzt ... und meine Blindheit in die Flucht geschlagen; du hast geduftet, und ich habe deinen Hauch eingeatmet; ... du hast mich angerührt und da bin ich entbrannt nach deinem Frieden» (ebd. 10,38).
Bereits ein Kapitel nach diesem ergreifenden Text formuliert Augustinus jenen Satz, der seine Gnadenlehre auf den Punkt brachte: «Gib, was du forderst, und dann fordere, was du willst». Was soll er geben? Die Liebe, lautet die Antwort, denn sie ist stets mit der Gnade gemeint, die Liebe, welche die Einheit zwischen Gott und den Menschen herstellt. Durch sie «werden wir zur Einheit zurückgeführt, von der wir in die Vielheit uns verströmten», heißt es da weiter. «Denn weniger liebt dich, wer mit dir noch ein anderes liebt, das er nicht deinetwegen liebt. O Liebe, die du immer glühst und nie erlischst, o Liebe, du mein Gott, entzünde mich!» (ebd. 10,40).
Der soeben zitierte Satz wirft ein helles Licht auf die Kritik an der Lehre Augustins über die mit der Gnade identische Liebe. Nicht selten kann man hören, sie vergewaltige die Natur des Menschen. Dem ist nicht so, denn die Gnade als Liebe bzw. die Liebe als Gnade beeinträchtigt andere humane Akte der Liebe mitnichten! Im Gegenteil, sie veredelt jede Art humaner Liebe bis in die Erotik und Sexualität hinein, vorausgesetzt, dass deren Vollzüge ‹die Ordnung der Dinge› selbst (den von Augustin viel gepriesenen ‹ordo rerum›) nicht verletzen. ‹Die Ordnung der Dinge› hat ihren Ursprung in Gott und beruht auf seinem Schöpferwillen.
Im letzten Buch der Confessiones erörtert Augustinus diesen geordneten Aufbau des Erschaffenen: «Unsere Ruhe ist unser Ort (innerhalb dieser Ordnung). Die Liebe erhebt uns dorthin ...». Es folgt dann der viel zitierte Text: «Ein Körper strebt durch sein Gewicht nach seinem Ort. Es strebt das Schwergewicht (jedwedes Erschaffenen) nicht nur nach unten, sondern auch nach seinem Ruhepunkt. Das Feuer strebt nach oben, der Stein nach unten. Sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen nach ihrem Ruhepunkt. Öl, auf Wasser gegossen, schwimmt auf dem Wasser, Wasser, auf Öl gegossen, sinkt unters Öl: Sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen ihren Ruhepunkt. Was nicht in seiner Ordnung ist, ist ruhelos: Es kommt in seine Ordnung und ruht. Mein Gewicht ist meine Liebe; von ihr bin ich gezogen, wo immer ich hingezogen werde. Durch deine Gabe werden wir entzündet und wir werden nach oben gehoben; wir entbrennen und setzen uns in Bewegung. ‹Wir steigen die Stufen in unserem Herzen hinan und wir singen den Stufengesang› (Ps 83,6). Von deinem Feuer, von deinem guten Feuer werden wir entzündet und wir setzen uns in Bewegung hinauf ‹zum Frieden Jerusalems› (ebd. 119,1); denn ‹ich habe mich gefreut an denen, die zu mir sprechen: Ins Haus des Herrn wollen wir ziehen› (ebd. 119,6). Dort wird der gute Wille uns einen Platz anweisen, dass wir nichts anderes wollen, als dort verharren in Ewigkeit› (Ps 60,8)».
In aller Kürze sei an dem bei der Darstellung des Glaubens schon herangezogenen Psalm 31 die Bedeutung auch der christlichen Liebe in der Auslegung Augustins aufgezeigt. Immer noch steht Abrahams Bereitschaft, Isaak hinzuopfern, im Mittelpunkt dieser Auslegung. Aber nun präzisiert Augustin die dominierende Rolle der Liebe in den Handlungen, die unser Heil betreffen. Abrahams Gesinnung war geprägt von der ‹caritas›. Sie ist die Norm allen sittlichen Handelns. Der Prediger zitiert Röm 13,8-10: «Bleibt niemand etwas schuldig außer der Liebe. Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: ‹Du sollst nicht ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, nicht begehren› (Ex 20,13f.) und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefasst: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst› (Lev 19,18). Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes» .
Das Christ sein steht und fällt mit dem christlichen Liebesgebot, das sowohl die Glaubenden wie auch die Hoffenden in die Pflicht nimmt. Der Prediger schildert, um dies zu illustrieren, einen Menschen, den nicht die ‹caritas›, sondern die ‹Begierde›, die verkehrte Liebe, zum Handeln anleitet. «Vergehen, Ehebrüche, Verbrechen, Morde, Ausschweifungen aller Art, wirkt dies nicht auch eine Art Liebe?», fragt er. Und er antwortet: «Läutere also deine Liebe; Wasser, das sonst in die Kloake fließt, leite in den Garten (der Frucht bringt) ... Heißt man euch etwa, nichts zu lieben? Das sei ferne! Träge würdet ihr werden, tot, verachtenswert und elend, wenn ihr nichts liebtet. Liebt, aber achtet darauf, was ihr liebt» (en. Ps. 31,5).
Immer ist somit der eigentliche Gegenstand der ‹caritas›, wie eingangs zu diesem Abschnitt bereits dargelegt, das Gute. Ja, streng genommen haben alle drei göttlichen Tugenden nichts anderes zum Gegenstand als das Gute. Die Psalmen als Gebete der Bibel laden uns ein, Gott, den Inbegriff des Guten, zu loben, zu preisen und ihm zu danken.
Augustinus erweitert und vertieft diesen Lobpreis in seinen Auslegungen, indem er die Psalmen nicht nur auf die neutestamentliche Verkündigung hin zu lesen, zu verstehen lehrt, sondern den christlichen Beter zugleich anhält, die Psalmen bewusst als der ganze, aus Haupt und Gliedern bestehende Christus, der hier auf Erden pilgert, zu beten.
Der Psalter endet bekanntlich mit einem hymnischen Text, der gleich rauschenden Akkorden aus den verschiedenen Instrumenten eines Orchesters Himmel und Erde zum Lobpreis Gottes aufruft. Augustinus erblickt auch in diesem Orchester die Kirche und er beschließt seinen Kommentar mit dem in jeder Hinsicht vollendeten Satz: «Ihr seid die Posaune, die Harfe, die Zither, die Pauke, das Saitenspiel, der Chor, die Flöte und die Zimbel, die alle gar herrlich klingen, weil sie zusammenklingen» (ebd. 150,8).