Internationaler und interdisziplinärer Workshop
Was ist eine ‹Augustini epistula›? Untersuchungen zur Konstituierung des augustinischen Briefkorpus
Tagungsbericht von Professor DDr. Christof Müller
Was ist eine ‹Augustini epistula›? Untersuchungen zur Konstituierung des augustinischen Briefkorpus, so lautete das Thema eines internationalen wissenschaftlichen Workshops, zu dem das Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg (ZAF) in Zusammenarbeit mit einer interdisziplinären ‹Epistulae›-Equipe am 27. und 28. September 2018 nach Himmelspforten eingeladen hatte. Die mit knapp 20 Expertinnen und Experten besetzte Veranstaltung im ebenso gediegenen wie funktionalen Tagungs- und Exerzitienhaus der Diözese Würzburg stellte eine weitere Etappe auf dem Weg hin zu einem umfassenderen Projekt der Erschließung des augustinischen Briefkorpus dar. Dieses für Philologie, Philosophie, Theologie und Alte Geschichte, aber auch für Soziologie und Kommunikationswissenschaften ungemein bedeutende Korpus von rund 310 überlieferten Schreiben von und an Augustinus umfasst sehr unterschiedliche ‹Sub-Gattungen›: Dazu gehören eher private Freundschaftsbriefe, pastoral ausgerichtete Mahn- und Drohbriefe bzw. Trost- und Dankbriefe, aber auch ‹amtliche Schreiben› oder ‹Commonitorien› mit einer gewissen rechtlichen oder kirchenrechtlichen Validität sowie Synodalschreiben mit kirchendisziplinarischem Charakter, schließlich sogar einige buchartige ‹epistulae›, die sich bis auf ihr ‹Etikett› oder eine Adressatenanrede bisweilen kaum von ‹normalen› Schriften und Traktaten unterscheiden. Mit dem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Workshop wurde innerhalb der Augustinus-Forschung erstmals ein kohärenter Versuch unternommen, diese Heterogenität des Briefkorpus grundlegender zu erfassen und für die Textinterpretation auszuwerten.
Der Beantwortung der Frage nach der ‹Konstituierung des augustinischen Briefkorpus› arbeitete das Tableau der fünf Vorträge des Workshops zu, innerhalb dessen ausgewiesene Spezialistinnen und Spezialisten verschiedene Perspektiven der Leitthemenstellung herausarbeiteten und präsentierten. Nach Begrüßung und Einführung durch den Leiter des ZAF, Prof. Dr. C. Müller, widmeten sich zwei Referierende der Briefgattungsfrage im Blick auf die ‹Polemiken› Augustins, d.h. auf seine Auseinandersetzung mit konkurrierenden kirchlichen bzw. theologischen Gruppierungen der Spätantike: Der polnische Latinist Prof. Dr. R. Toczko stellte die Frage How could we (also) read the polemical letters? The use of forensic rhetoric in Augustine’s anti-Donatist correspondence, während die US-amerikanische Altphilologin Prof. Dr. J. Ebbler über Augustine, the Pelagianists, and the failure of epistolography referierte. Anschließend untersuchte der französische Wissenschaftler Prof. Dr. P. Descotes in seinem Beitrag Les ‹lettres-traités› de l’épistolaire augustinien diejenigen Schriften Augustins, die einerseits Briefcharakter haben, andererseits aber von Umfang, Thematik und Verbreitungsgrad her auch als Monographien begriffen werden können. Der Heidelberger Nachwuchs-Patristiker C. Nunn richtete daraufhin den Fokus der Tagung auf Augustins ureigene Verwendung, teilweise sogar explizite Definition des Begriffs ‹epistula› unter dem Titel Der Brief bei Augustinus – Terminologische und sprachtheoretische Anmerkungen. Schließlich versuchte die junge Latinistin G. Derhard aus Münster, Augustins Briefe durch einen komparatistischen Blick auf einen zeitgleichen Kirchenschriftsteller zu erhellen, und skizzierte mit diesem Skopus das ‹Generic enrichment› im Briefkorpus des Hieronymus.
Den anspruchsvollen und z.T. ausgesprochen innovativen Referaten wurden jeweils maximal 45 Minuten zugestanden, um je im Anschluss eine ebenfalls ca. 45 Minuten umfassende Fachdiskussion zu ermöglichen; gerade aus diesen Diskurs-Modulen resultierten wertvolle Impulse für die ‹scientific community› und für die weitere Forschungsarbeit am Thema. Selbst für Spezialistinnen und Spezialisten in dieser Radikalität überraschender Tenor der Referate: Weder von Augustinus selbst noch von der Überlieferungsgeschichte her sind einigermaßen fixe und systematisch eindeutige Kriterien rekonstruierbar, ‹was eine Augustini epistula ist› bzw. was sie nicht ist. Die Erfüllung dieses oder jenes Kriteriums (z.B. Kommunikationszusammenhang; Adressatenorientierung; Textumfang; Einbindung in einschlägige Überlieferungskontexte ...) birgt, zumal bei Häufung, zwar die Möglichkeit, keinesfalls aber die Notwendigkeit, von einem ‹Brief› im Gegensatz zu anderen ‹Gattungen› zu sprechen. Unter Berücksichtigung neuerer sprachwissenschaftlicher Theorien empfahlen einige Referierende sogar, im Blick auf den ‹Brief bei Augustinus› nicht mehr von einer ‹Gattung›, sondern von einer weit pragmatischer anzusetzenden ‹Textsorte› ‹epistula› zu sprechen. Abgerundet wurden die fünf thematischen Blöcke durch eine umfassende Abschlussreflexion auf den Ertrag der Veranstaltung für die weitere Forschung, nicht zuletzt auch für das zukünftige Forschungsprojekt einer Kommentierung möglichst des gesamten augustinischen Briefkorpus.
Programm der Referate und Diskussionen
Christof Müller: Begrüßung und Einführung
Rafał Toczko: How could we (also) read the polemical letters? The use of forensic rhetoric in Augustine’s anti-Donatist correspondence
Jennifer Ebbeler: Augustine, the Pelagianists, and the failure of epistolography
Pierre Descotes: The „Letter-Works“ of the Augustinian Epistulae Corpus
Gina Derhard: „Generic enrichment“ im Briefkorpus des Hieronymus
Christopher Nunn: Der Brief bei Augustinus – terminologische Anmerkungen
Plenumsgespräch/Abschlussreflexion