Der heilige Irenäus von Lyon (130/40-ca. 200) setzte sich für die Einheit der Christen ein und bekämpfte Irrlehren. Ein fiktives Interview im Rahmen einer Kirchenväter-Serie der überregionalen katholischen Wochenzeitung Die Tagespost. VON KARDINAL PHILIPPE BARBARIN
Irenäus, erzähle uns bitte von deiner Kindheit, deinem Leben in Smyrna und dem Tag, als du zur großen Reise aufgebrochen bist.
Natürlich müssen wir von Polycarp sprechen, aber ich möchte lieber mit Smyrna anfangen. Ein unglaublicher Ort: die Bucht, der herrliche Golf – so einen Ort vergisst man nicht. Offen gesagt, fiel es mir nicht leicht, von dort wegzugehen.
Nun gut, aber die prägende Gestalt Smyrnas ist ganz klar Polycarp. Er war ein Schüler des heiligen Johannes und hat mit jenen gelebt, die den Herrn selbst gekannt und ihm zugehört hatten. Wir Jungen hörten ihm wie einem direkten Zeugen der Apostel zu, weil sie es waren, die ihn zum Bischof für die Kirche von Smyrna ausgewählt hatten. Er sagte uns immer, dass es eine einzige Wahrheit gebe: jene, die er von den Aposteln empfangen habe. Daran Abstriche zu machen kam für ihn nicht in Frage. Am Ende seines Lebens hat er ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt. Man wollte ihn bei lebendigem Leib verbrennen, aber er bekam deswegen keine Angst. Keinen Augenblick hat er gezögert: Niemals werde ich Christus verleugnen, sagte er. Ihr könnt mich umbringen, er wird mich leben lassen!
Dann kamst du nach Lugdunum und hast Kontakte mit Rom geknüpft. Wie kam es dazu?
Als wir ankamen, war Pothinus unser Bischof. Ein guter Hirte, nicht mehr ganz jung! Lyon war damals eine der größten Städte des römischen Reiches, Kaiser war damals Marc Aurel. Er war ein Philosoph, allerdings hatte er merkwürdige Vorstellungen von Weisheit. 177 verfügte er, dass alle Christen umgebracht werden sollten. Soll das eine weiser Entschluss gewesen sein?
Ich war nicht in Lyon als die Verfolgung gegen uns losbrach. Pothinus starb an Erschöpfung, was nicht weiter verwundert, denn er war 91 Jahre alt. Doch die anderen wurden den wilden Tieren vorgeworfen: Alles in allem starben 48 Märtyrer, darunter so wunderbare Menschen wie Ponticus, Alexander... und vor allem Blandina. Als man mir nach meiner Rückkehr von alldem erzählte war ich bestürzt. Es wurde beschlossen, einen «Brief der Christen von Vienne und Lyon an ihre Brüder in Asien und Phrygien» zu schreiben, damit die anderen erfahren, was bei uns passiert war. Wer der Schlächterei entgangen war, war am Boden zerstört. Ich musste in die Fußstapfen von Pothinus treten, um der Kirche zu dienen.
"Ich sehe die Kirche allerdings lieber als Mutter, die über uns wacht oder als ein Haus mit einem «reich gefüllten Vorratskeller», in dem wunderbare Dinge aufbewahrt werden, die allen zur Verfügung stehen"
Stichwort Kirche, wie siehst du die Kirche von Lyon, die Kirche von Rom und die Weltkirche?
Was soll ich über die Kirche sagen? Sie bedeutet uns alles. Vor allem ist sie die Kirche Jesu. Als er Simon erwählt, gibt er ihm einen neuen Namen und sagt: «Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen». Also muss man die Kirche glühend lieben! Sie unterweist dich, sie vermittelt dir die Wahrheit, «die Tradition», an die es sich sehr genau zu halten gilt. Jeder liefert sein Steinchen für den Bau ab. Manchmal wird die Kirche mit einem großen Bauwerk verglichen, das von glorreichen Aposteln wie Petrus und Paulus errichtet wurde. Ich sehe die Kirche allerdings lieber als Mutter, die über uns wacht oder als ein Haus mit einem «reich gefüllten Vorratskeller», in dem wunderbare Dinge aufbewahrt werden, die allen zur Verfügung stehen. Es genügt, zuzugreifen und das «Wasser des Lebens» zu schöpfen. Ein wahres Wunder!
Wie sollen wir denn nun die Bibel lesen?
Zunächst einmal so, wie wir wollen. Doch wenn du die Logik des Ganzen verstehen willst, sage ich dir, wie ich es angepackt habe. Vor allem habe ich erst einmal das Leben Jesu angeschaut: warum er auf die Welt gekommen ist, wie er geboren wurde und wie sein Leben verlaufen ist, die Wunder, seine Lehre und vor allem dieses unglaubliche Ende des schmachvollen Todes am Kreuz. Doch der Gipfel des Ganzen ist die Auferstehung. Unvorstellbar und schwer zu glauben, selbst für die Zeugen. «Einige aber zweifelten», heißt es im Evangelium.
Meine Methode ist einfach zu verstehen: Du brauchst nur mein Büchlein «Erweis der apostolischen Verkündigung» zu lesen. Zunächst habe ich die Linien des historischen Jesus ausgezogen. Im zweiten Teil suche ich dann im Alten Testament alle Texte, die die Ereignisse ankündigen. Alles war schon vorausgesagt ... es genügt, die Texte richtig zu lesen.
Was ist eigentlich Theologie?
Eine wirklich gute Frage. Sie ist die logische Folge dessen, was ich gerade erklärt habe. Im ursprünglichen Sinn des Wortes ist Theologie (Gott-Wort) natürlich die Bibel, denn von ihr strahlt alles Licht aus. Zunächst muss man zeigen, dass diese Liebe mit außergewöhnlicher Kraft hervorbricht, um die ganze Welt und die gesamte Menschheit zu überströmen. Sodann erklärt die Theologie wie all das ineinandergreift; wie das Wort Gottes harmonisch zu allem passt, was Gott für uns getan hat: die Propheten, die den Boden bereitet haben, die Ankunft Jesu, des Erlösers, die Aussendung des Heiligen Geistes und die daraus hervorgehende Kirche. In diesem Haus – «unserem Haus» finden wir heute alles Notwendige vor, um voranzukommen, uns zu stärken, unsere Herzen zu läutern... Die Kirche stattet uns mit der erforderlichen Ausrüstung aus, um den Weg bis zur Begegnung mit dem Herrn weiterzugehen. Das wird sich an dem Tag ereignen, an dem Jesus in Herrlichkeit wiederkommt «um die Lebenden und die Toten zu richten». Das Wichtigste ist, zu sehen, dass alle Theologie aus der Heiligen Schrift hervorgeht.
Wer waren eigentlich die Häretiker?
Weißt du, den Imperfekt solltest du hier besser nicht verwenden. Häretiker und Gnostiker gibt es auch heute und wird es immer geben. An sie gibt es keine Zugeständnisse! Wenn Du Mut hast, kannst Du sie ein- oder zweimal warnen, aber dann lass es. Ihr wahres Problem mit ihrer «Gnosis», ihrem Sonderwissen, ist eigentlich, dass sie immer um eine Erklärung voraus sind. Dahinter verbirgt sich Stolz: Sie wissen und verstehen mehr als andere. Nein und nochmals nein. Ich habe Zeit darauf verwandt, alle ihre Theorien zu entlarven, anzuprangern und zurückzuweisen. Das Problem ist, dass diese Krankheit in allen Epochen wieder aufbricht.
Letzte Frage: Ich finde, es gibt in der Kirche viele Probleme, Dummheiten, Spaltungen. Wie bist du mit diesen Plagen umgegangen, Irenäus?
Offen gesagt hast du Recht. Das ist bald losgegangen. Schon die Apostel haben sich gezankt. Sie wollte wissen, wer der Größte im Himmelreich ist. Da haben wir den Ehrgeiz, der ehrlich gesagt, nicht spirituell ist. In der Apostelgeschichte fliegen auch die Fetzen – und zwar oft! Und danach hat man den Eindruck, dass es nur noch schlimmer wird.
Clemens, der dritte Nachfolger Petri in Rom, ist in einen schrecklichen Konflikt mit den Korinthern geraten, weil sie den von ihm gesandten Bischof nicht akzeptierten. Schau mal, wie er ihnen die Flausen austreibt!
Vor einigen Jahren war Papst Eleutherus im Amt, jetzt haben wir Viktor, einen Berber. Und siehe da, er liegt mit einem Gutteil der Kirche überkreuz wegen eines Streits um das Osterdatum.
Gerade ich wünsche mir so sehr, dass die Kirche den Weg zum Frieden und zur Einheit findet
Und wie denkst du darüber?
Da müssen wir dennoch durch. Sich wegen einer Kalenderfrage zu spalten! Also bin ich zu ihm gegangen. Die anderen wollten wie die Juden Ostern am 14. des Monats Nisan feiern und Viktor antwortete ihnen: Nein. Ostern muss an einem Sonntag gefeiert werden, nicht an einem Wochentag! Er hatte sicher recht, doch ich habe ihm gesagt, er soll sich beruhigen: Wegen so etwas wirst Du doch nicht die ganze Kirche spalten! Mit ein bisschen Geduld wird sich das einrenken!»
Erinnere dich an die siebte Seligpreisung: Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden! Und gerade ich wünsche mir so sehr, dass die Kirche den Weg zum Frieden und zur Einheit findet. Offen gesagt müsste man blind sein, um nicht zu sehen, dass das einer der größten Wünsche des Herrn ist. Am Abend vor seinem Tod hat er seinen Jüngern gesagt: Frieden hinterlasse ich euch, um ihn in der Welt zu schaffen. Eine unmöglich erscheinende Mission, aber fassen wir Mut: «Meinen Frieden gebe ich euch!» Ich habe sicher nicht umsonst den Namen Irenäus erhalten, der «Friede» bedeutet.
In der Tat habe ich kein anderes Ziel als die Ehre Gottes, die Einheit und der Friede in der Welt. Fangen wir mit der Einheit der Kirche an, damit sie wirklich dem Frieden dient. Die Zeit drängt!
Der Autor ist der 131. Nachfolger des heiligen Irenäus und emeritierter Erzbischof von Lyon
Übersetzung aus dem Französischen von Regina Einig.
BIOGRAPHIE UND LESETIPPDer heilige Kirchenvater Irenäus von Lyon wurde zwischen 130-40 in Smyrna (heute: Izmir) geboren. Um 198 verliert sich seine Spur. Der Überlieferung nach erlitt er 202 das Martyrium, aber erwiesen ist das nicht. Er war ein Schüler Polykarps von Smyrna und kam ins gallische Lugdunum. LesetippBenedikt XVI.: Der Hl. Irenäus von Lyon. Mittwochskatechese vom 28. März 2007 Bibliothek der Kirchenväter (BKV-online)
Fontes Christiani
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© Die Tagespost vom 09.07.2020, Seite 12 (siehe Online-Fassung unter www.die-tagespost.de)
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