Warum es für den heiligen Mönchsvater Benedikt so wichtig war, dass dem Gottesdienst nichts vorgezogen wird. Ein fiktives Interview im Rahmen einer Kirchenväter-Serie der überregionalen katholischen Wochenzeitung Die Tagespost. VON BRUNO RIEDER OSB
Abt Benedikt, zu Beginn Ihres Lebens hatten Sie einen anderen Weg eingeschlagen, als sich in ein Kloster zurückzuziehen.
Ich stamme aus einer angesehenen Familie im umbrischen Städtchen Nursia. Dadurch war vorbestimmt, dass ich mich durch eine gute Ausbildung in Rom auf eine weltliche Karriere vorbereite. Doch seit meiner Kindheit war mir klar, dass rein weltliche Güter mein Suchen nach Sinn und Glück nicht befriedigen können. In Rom sah ich viele in die Abgründe des Lasters fallen. Ich hatte Angst, wie sie in bodenlose Tiefe abzustürzen.
Wo fanden Sie ein tragfähiges Fundament für Ihren Lebensentwurf?
Wissen und Besitz schienen mir zu wenig, um darauf mein Leben zu gründen. Gott suchte ich. Ihm allein wollte ich gefallen, deshalb begehrte ich das Gewand gottgeweihten Lebens.
Sie sind Mönch geworden. Worauf sollen Menschen ihr Leben bauen, die nicht zur monastischen Lebensweise berufen sind?
Die spirituellen Kapitel meiner Mönchsregel entsprechen weitgehend der kirchlichen Taufunterweisung. Meine Regel sollte eine Anweisung zum christlichen Leben sein. Dafür suchte ich eine prägnante Kurzformel. Ich fand sie beim Märtyrerbischof Cyprian von Karthago: Der Liebe Christi nichts vorziehen. Mich fasziniert diese Wendung, weil sie das Dialoggeschehen zwischen Christus und dem Gläubigen auf den Punkt bringt.
Der Christ ist zuerst ganz Empfangender.
Er lebt aus der Liebe, die Christus ihm schenkt
Inwiefern?
Der Christ ist zuerst ganz Empfangender. Er lebt aus der Liebe, die Christus ihm schenkt: in den Sakramenten, in der betrachtenden Lesung der Heiligen Schrift, im Gebet. Deshalb habe ich meinen Mitbrüdern das analoge Wort ans Herz gelegt: Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden. Wer von der Liebe Christi ganz erfüllt ist, der ist dadurch befähigt, selber Christus mit ganzem Herzen zu lieben.
Am Beginn christlicher Existenz steht also die Gottesliebe beziehungsweise das Sich-lieben-Lassen durch Christus. Welchen Platz nimmt die Nächstenliebe ein?
Mir ist wichtig, dass die Liebe zu Christus nicht etwas rein Innerliches bleibt. Der Herr sagt: «Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.» Deshalb habe ich mir erlaubt, das vierte Gebot des Dekalogs auszuweiten: «Alle Menschen ehren.» Dies bedeutet, in allen Mitmenschen Christus sehen und deshalb alles tun, um die Würde jedes Menschen zu schützen. Vor allem zeigt sich die Christusliebe in der Zuwendung zu den Schwächsten. Ich bestimmte: Die Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen. Man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus. Mit diesen «Schwachen» meine ich nicht bloß die körperlich Kranken, sondern auch Menschen mit mühsamen Eigenheiten. Jede Form von Gemeinschaft tut gut daran zu beherzigen: Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen; ihre körperlichen und charakterlichen Schwächen sollen sie mit unerschöpflicher Geduld ertragen.
Kommen wir zurück auf den geistlichen Weg. In Ihrer Biografie, die Papst Gregor der Große verfasste, las ich: «Schon von früher Jugend an hatte er das Herz eines reifen Mannes.»
Ich weiß, was Sie an dieser Aussage irritiert. Das klingt so, als ob mir geistliche Kämpfe fremd gewesen wären. Das ist keineswegs der Fall. Nachdem ich bereits Jahre als Einsiedler gelebt hatte, erfasste mich eine so heftige Versuchung sexueller Art, dass sich das brennende Verlangen in meiner Brust kaum bändigen ließ. Fast hätte mich die Leidenschaft überwältigt und ich war nahe daran, die Einsamkeit und damit meine Berufung zu verlassen.
Fast hätte mich die Leidenschaft überwältigt und ich war nahe daran,
die Einsamkeit und damit meine Berufung zu verlassen
Was bewahrte Sie vor diesem Schritt?
In diesem Moment der Anfechtung traf mich plötzlich der Blick der göttlichen Gnade. Wie der Apostel Petrus nach seiner Verleugnung Jesu erfuhr ich mich von Christi liebenden Augen angeschaut und kehrte so wieder zu mir zurück. Dieses Wohnen bei mir selbst unter den Augen Gottes entdeckte ich als zentral für den geistlichen Weg. Es half mir, auch nach sehr belastenden Erfahrungen mich nicht zu verlieren und wieder den inneren Frieden zu finden – zum Beispiel nachdem die Mönche von Vicovaro versucht hatten, mich als Abt zu vergiften, weil ich ihrem Laissez-faire entgegentrat und Verbindlichkeit einforderte.
Sie selbst traf also keine Schuld an diesem erschütternden Vorfall?
Jahre später öffnete mir meine Schwester Scholastika die Augen dafür, dass ich vermutlich doch ein wenig Mitschuld hatte. Als wir eines Abends zum geistlichen Austausch zusammensaßen, wollte ich das Gespräch abbrechen und gemäß der Regel in mein Kloster zurückkehren. Meine Schwester bat mich jedoch zu bleiben. Gott gab ihr recht, indem aus heiterem Himmel ein gewaltiges Gewitter losbrach, das mich hinderte, nach Hause zu gehen. Ich lernte, dass es trotz der Wichtigkeit von Regeln einen allerhöchsten Grundsatz gibt, an dem sich meine Schwester orientierte. Sie vermochte mehr als ich, weil sie mehr liebte. Denn Gott ist die Liebe.
Auch Sie lernten also ein Leben lang?
Wie jeder Christ, den der Hochmut nicht lernunfähig gemacht hat. Deshalb wählte ich ein entsprechendes Bild für meine Klöster: Ich wollte eine Schule einrichten, wo man lernt, wie Christus zu dienen. Jesus hat ja von sich gesagt: «Ich bin unter euch wie der, der bedient.» Nach diesem Vorbild wollte ich zusammen mit meinen Mitbrüdern lernen, immer besser Gott und den Menschen zu dienen.
In einer Schule braucht es auch eine gewisse Disziplin und Korrekturen.
Ja, beides ist wichtig für den eigenen Weg und für das Gemeinschaftsleben. Aber es darf nicht im Vordergrund stehen und vor allem nicht übertrieben werden. Bei meiner Klostergründung hoffte ich, nichts Hartes und Schweres festzulegen. Schwierigkeiten ergeben sich von allein durch die eigenen Schwächen und das alltägliche Zusammenleben. Es ist mir wichtig, Zurechtweisungen oder Anordnungen immer gut begründet vorzutragen. Beides darf nie Selbstzweck werden, sondern dient dazu, Fehler zu bessern und die Liebe zu bewahren.
Wer im christlichen Leben und im Glauben voranschreitet, dem wird das Herz weit und
er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Weisungen Gottes
Was folgt daraus?
Ich möchte vor allem die jungen Christen ermutigen: Sollte es aus irgendeinem Grund etwas strenger zugehen, solltest du dich überfordert fühlen, dann lass dich nicht sofort von der Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am Anfang nicht anders sein als eng. Wage diesen engen Weg; das heißt: Wage Entscheidung und Bindung, bleibe treu auf dem eingeschlagenen Weg. Wer im christlichen Leben und im Glauben voranschreitet, dem wird das Herz weit und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Weisungen Gottes.
Wie kann die Kirche möglichst vielen Menschen Anteil geben an diesem Weg?
Mir war immer besonders wichtig die Gastfreundschaft. Menschen sollen sich willkommen und zugehörig fühlen, ganz unabhängig davon, wer sie sind oder wo sie gerade stehen. Erster Grundsatz für den Umgang mit Außenstehenden ist für mich: Jeder einzelne Fremde, der unerwartet kommt, soll aufgenommen werden wie Christus. Neuankömmlinge sind deshalb weder Last noch Bedrohung, sondern Grund zur Freude. Wenn wir im Kloster einem Gast die Füße gewaschen haben, beten wir den Psalmvers: «Wir haben, o Gott, deine Barmherzigkeit aufgenommen inmitten deines Tempels.» Zugleich betone ich stets: Die Offenheit gegenüber Fremden darf nicht dazu führen, dass die eigene Identität, besonders der Raum der Gottesbeziehung, gefährdet wird.
Möchten Sie noch ein zusammenfassendes Wort mitgeben?
Die ersten und letzten Worte meiner Regel lauten: «Höre … und du wirst hinkommen.» Um das Lebensziel zu erreichen, ist also das Hören unabdingbar. Ein bewusstes Hinhorchen, mit dem Ohr des Herzens. In erster Linie auf Christus, der uns täglich aufruft: «Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.» Die Weiterführung des Hörens ist der Gehorsam, der uns aus Selbsttäuschung befreit und uns bewahrt vor Borniertheit und Eigensinn. Mir ist ein Anliegen, dass die Brüder nicht nur mir als Abt gehorchen, sondern dass ich in allen wichtigen Dingen ihren Rat einhole, gerade auch den Rat der Jüngeren. Besonders den Ehepaaren und Familien ans Herz legen möchte ich den gegenseitigen Gehorsam. Auf diesem Weg des Gehorsams werden sie zu Gott gelangen.
Der Autor ist Dekan des Klosters Disentis in der Schweiz.
LESETIPPSSalzburger Äbtekonferenz (Hrsg.): Die Benediktusregel lateinisch-deutsch. Gregor der Große: Der heilige Benedikt, Buch II der Dialoge, lateinisch-deutsch, Dom Paul Delatte: Kommentar zur Regel des heiligen Benedikt, Michaela Puzicha OSB: Kommentar zur Benediktusregel, BKV-online: https://www.unifr.ch/bkv/awerk.htm#Benedikt |
© Die Tagespost vom 19.03.2020, Seite 12 (siehe Online-Fassung unter www.die-tagespost.de)
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