Der Kirchenvater und Bibelübersetzer Hieronymus lässt sein Leben Revue passieren. Ein fiktives Interview im Rahmen einer Kirchenväter-Serie der überregionalen katholischen Wochenzeitung Die Tagespost. VON GIUSEPPE CARUSO OSA
Guten Tag, ehrwürdiger Vater! Wie geht es Ihnen?
Wie soll es mir schon gehen? Wie es einem armen alten Mann eben geht!
Alt? Sagen Sie das nicht. Verraten Sie mir und unseren Lesern Ihre biographischen Eckdaten?
Sie sind vielleicht neugierig! Also: Ich bin um 347 – andere behaupten, sogar noch früher! – in Stridonium geboren, einem winzigen Dorf unweit von Aquileia – fragen Sie mich nicht, in welcher Nation es heute liegt – ich weiß es nicht! –, und habe Ihre Welt am 30. September 419 oder 420 verlassen. Nicht einmal daran erinnere ich mich genau!
Ich spüre bei Ihnen keine besondere Begeisterung für Ihr Dorf. Gibt es irgendeinen Ort, an dem Sie sich mehr «zu Hause» gefühlt haben?
Gute Frage. Mehr als einen, würde ich sagen…
Erzählen Sie uns etwas darüber…
Also ehrlich gesagt: Die Stadt, die ich am meisten geliebt habe, war Rom, caput mundi. Ich bin als Jugendlicher dorthin gegangen, um meine Schulausbildung abzuschließen. Zu meinen Lehrern gehörte Aelius Donatus, ein sehr berühmter Grammatiker. Von ihm habe ich die Liebe zur klassischen Kultur gelernt, zu jenem idealen Rom, das uns von den großen Autoren der lateinischen Literatur übermittelt wird. In Rom, einer Stadt, die vom Blut vieler Märtyrer geadelt ist, habe ich jedoch auch die Entscheidung getroffen, Christ zu werden und die Taufe zu empfangen.
Ich höre Ergriffenheit in Ihrer Stimme. Sie haben also beschlossen, dort zu bleiben, in Rom…
«Ich habe die Stadt zwar geliebt, aber ehrlich gesagt bot sie nicht viele Möglichkeiten für einen jungen Mann aus der Provinz, auch wenn er sehr begabt war»
Hieronymus über Rom
Ganz und gar nicht! Ich habe die Stadt zwar geliebt, aber ehrlich gesagt bot sie nicht viele Möglichkeiten für einen jungen Mann aus der Provinz, auch wenn er sehr begabt war – aber vielleicht sollte ich das nicht über mich selbst sagen. Ich beschloss daher, nach Trier überzusiedeln – in die zweite Hauptstadt des Reiches. Sie war weniger stark bevölkert als Rom, daher gab es dort mehr Möglichkeiten, einen guten Posten zu finden. Gleich nach meiner Ankunft nahm ich jedoch Kontakt mit der dortigen christlichen Gemeinde auf, in der die Mönche eine große Rolle spielten. Athanasius von Alexandrien hatte das Modell des ägyptischen Mönchtums dorthin verpflanzt, mit großem Erfolg. So beschloss ich, selbst Mönch zu werden…
…und traten in die Mönchsgemeinschaft in Trier ein…
Ganz und gar nicht! Junger Mann, hören Sie auf, mir ins Wort zu fallen, sonst können wir unser Interview an dieser Stelle beenden!
Verzeihen Sie, sprechen Sie bitte weiter…
Ich bin nach Italien zurückgekehrt und habe in Aquileia begonnen, als Mönch zu leben, zusammen mit einigen Freunden. Wir waren eine tolle Gruppe: wie ein Chor der Glückseligen!
Wenn ich mich nicht irre, gehörte auch Rufinus von Concordia dazu…
Reden Sie nicht von dem! Ich möchte nicht einmal seinen Namen hören!!!
Verzeihen Sie, beruhigen Sie sich… und setzen Sie Ihren Bericht fort!
Nein, ich bitte Sie um Verzeihung. Ich verliere manchmal die Geduld. Ich habe ein etwas zu hitziges Temperament! Also: Irgendwann – wir schrieben mittlerweile das Jahr 374, löste sich die Gruppe auf, es gab zu viele Spannungen! – beschloss ich, in den Osten zu gehen, nach Antiochia, um in strenger Askese in der Wüste zu leben.
In der Wüste! Wirklich eine radikale Entscheidung!
Ja, auch wenn die Wüste nicht genau so war, wie ich sie in meinen Briefen beschrieben habe, wo ich vor allem die Erwartungen meiner Leser erfüllen wollte. Es war ein schwieriger Ort, aber keine «Wildnis» wie man sie sich vorstellt. Aber auch dort stieß ich auf Probleme: Erstens war die Verständigung schwer – keiner sprach dort Latein! –, und dann begegneten die Mönche mir mit Argwohn, da ich für sie ein Ausländer war und sie mich verdächtigten, ein Häretiker zu sein. Ausgerechnet ich, für den die Bewahrung des rechten Glaubens immer an erster Stelle stand! Am Ende entschied ich mich, in die Stadt zurückzukehren und ging nach Antiochia, wo ich mich nützlich machen konnte bei Paulinus, dem Bischof einer kleinen Gemeinde, die dem westlichen Glauben sehr nahestand. Er hat mich zum Priester geweiht, und ich durfte ihn im Jahr 381 zum Konzil von Konstantinopel begleiten – bei dieser Gelegenheit lernte ich Gregor von Nazianz kennen – und ein Jahr später nach Rom: So kehrte ich in die Hauptstadt zurück.
Was können Sie uns über diesen zweiten Aufenthalt in Rom sagen?
Es war eine intensive und sehr schöne Zeit. Einerseits hatte ich Gelegenheit, mit Damasus zusammenarbeiten, der damals Bischof der Stadt war. Der Papst vertraute mir die Aufgabe an, den Text der Evangelien und der Psalmen zu überarbeiten, der damals in Rom verwendet wurde, und oft konsultierte er mich auch zu Fragen, die die Auslegung der Bibel betrafen. Auch Marcella, Paula und Eustochium, Frauen mit gefestigtem Glauben und aus vornehmen Familien, wählten mich als ihren Lehrmeister der Heiligen Schrift und der monastischen Askese. Schöne Erinnerungen, aber…
Aber?
«Man warf mir alle möglichen Schandtaten vor, und im Jahr 385 war ich gezwungen, Rom zu verlassen»
Aber dann nahm es ein böses Ende. Als Damasus gestorben war, wurde eine Art Verschwörung gegen mich angezettelt. Man warf mir alle möglichen Schandtaten vor, und im Jahr 385 war ich gezwungen, Rom zu verlassen. So beschloss ich, in Betlehem zu leben und gründete zusammen mit einigen Freunden ein Kloster ganz nah bei dem Ort, an dem Jesus geboren ist.
Nach der Zeit in Rom haben Sie sich in einem kleinen Kloster sicher gelangweilt…
Gelangweilt? Ganz und gar nicht! Ich habe sehr viel gearbeitet, das Erste Testament aus dem Hebräischen übersetzt und die Bücher der Propheten kommentiert.
Erzählen Sie uns von dieser Übersetzung.
Was soll ich sagen? Die griechischsprachigen Christen hatten mehrere Übersetzungen des Ersten Testaments zur Verfügung, die direkt aus dem Hebräischen gemacht worden waren, während die lateinischsprachigen sich mit Übersetzungen aus dem Griechischen begnügen mussten und sich so vom Originaltext entfernten. Ich habe gedacht, dass es eine sehr gute Idee sei, eine direkte Übersetzung vom Hebräischen ins Lateinische zu machen.
Sicher haben sich alle über diese Initiative gefreut.
Nein, im Gegenteil! Einerseits hatten sie sich an die bereits bestehenden Versionen gewöhnt, und andererseits fürchteten viele, die kein Hebräisch konnten, meine Version nicht «kontrollieren» zu können. Auch ein junger afrikanischer Bischof, Augustinus von Hippo, hatte diese Befürchtungen!
Da Sie ihn selbst gerade erwähnen, erzählen Sie uns doch etwas über Ihre Beziehungen zu Augustinus…
Warum? Kennen Sie ihn? Natürlich, jeder kennt ihn… Was soll ich sagen? Anfangs dachte ich, er sei ein überheblicher Jüngling, der mit mir, der ich Sekretär von Papst Damasus gewesen war, Streit suchte, um selbst berühmt zu werden. Später habe ich verstanden, dass er aufrichtig an meinen Werken interessiert war, und habe meine Meinung geändert. Am Ende haben wir uns gemeinsam in der Polemik gegen die Pelagianer eingesetzt.
Gut! Sprechen wir also zum Schluss über die Polemiken…
Die Polemik gegen die Pelagianer – die die ständige Notwendigkeit des Wirkens der Gnade im Leben des Menschen abstritten – war die letzte. Da ich schon alt und gebrechlich war, habe ich Augustinus die Aufgabe überlassen, sie voranzutragen, auch wenn ich zugeben muss, dass unsere Ansichten nicht identisch waren. Zuerst hatte ich mich mit Jovinian gestritten: Für ihn war die Heiligkeit mit der Taufe – und zwar nur mit der Taufe – verbunden. Alle asketischen Anstrengungen und sogar das monastische Leben hielt er daher für wertlos – dabei war er selbst ein Mönch!. Er stellte also die Bedeutung des Mönchtums, für das ich mich schon als junger Mann entschieden hatte, in Frage. Ich habe ihm mit großem Eifer geantwortet, vielleicht aber etwas übertrieben… Dann kam die Polemik mit den Anhängern des Origenes, der allerdings schon lange tot war. Origenes war ein großer Exeget, ein wahrer Meister. Als Theologe hat er jedoch Positionen vertreten, die man als etwas «originell» bezeichnen könnte. Als junger Mann hatte ich ihn sehr gern gelesen und viel davon profitiert. Als sich jedoch zwei Gruppierungen bildeten, eine für, die andere gegen ihn – beide haben übertrieben! –, entschied ich mich gegen ihn, auch wenn daran die Freundschaft mit Rufinus zerbrochen ist, von dem wir vorhin gesprochen haben.
Und wie geht es Ihnen heute?
Heute geht es mir gut. Ich habe mit allen Frieden geschlossen und verliere nicht mehr die Geduld, außer mit denen, die mich interviewen…
Aus dem Italienischen übersetzt von Claudia Kock
Der Autor ist Präsident des Patristischen Instituts Augustinianum in Rom und lehrt Patrologie des 4. Jhdts.
LESETIPPSFürst, A., Hieronymus, in: Mayer, C. (Hrsg.), Augustinus-Lexikon, Vol. III, Schwabe-Verlag, Basel, 2010, ISBN 978-3-7965-2777-7, www.schwabeonline.ch Fürst, A.: Hieronymus. Askese und Wissenschaft in der Spätantike. Herder, 2016, ISBN-13: 978-3451311444. Altaner, B./Stuiber A.: Patrologie. Herder, 1966, S. 394–404.
Quellen Fontes Christiani: Augustinus-Hieronymus, Epistulae mutuae II, hrsg. von A. Fürst, Briefwechsel Lateinisch-Deutsch; Band 41, I und II, Brepols BKV-online: https://www.unifr.ch/bkv/awerk.htm#Hieronymus
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© Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik Gesellschaft und Kultur vom 5. März 2020, Seite 12 (siehe Online-Fassung unter: www.die-tagespost.de)