Ein Wechselspiel von Nähe und Distanz
Der 15. Augustinus-Studientag in Würzburg widmet sich der Frage, inwieweit Augustinus Martin Luthers Denken prägte. Von CLEMENS SCHLIP
Würzburg (DT) Der heilige Augustinus hat als Zentralgestalt der westlichen Zivilisation zahlreiche Denker beeinflusst oder zur Auseinandersetzung gereizt. Zu ihnen gehörte in besonderer Weise auch Martin Luther. Schließlich begann der Reformator seine geistliche Laufbahn als Mitglied des Ordens der Augustinereremiten, dessen Habit er erst 1524 ablegte – also einige Jahre nach dem „Thesenanschlag“, dessen 500. Jubiläum heuer landauf, landab begangen wird. Grund genug, sich gerade in diesem Jahr zu fragen, welche Auswirkungen die Beschäftigung mit Augustinus in Luthers eigenem Werk zeigte. Diesem Thema widmete sich der diesjährige 15. Augustinus-Studientag des Würzburger „Zentrums für Augustinus-Forschung“ unter dem Motto „Augustinus und Luther. Zur Verwandtschaft zweier „Kirchenväter“. Die durchgängig hervorragend besuchte Veranstaltung fand im Würzburger Burkardushaus statt.
Der evangelische Kirchenhistoriker Markus Wriedt (Frankfurt a.M.) beleuchtete zu Beginn mit einem Vortrag über „Augustinus und seine Bedeutung für die spätmittelalterliche Theologie“ den geistesgeschichtlichen Hintergrund, vor dem man sich Luthers Augustinus-Rezeption zu denken hat. In der spätmittelalterlichen Theologie wurde Augustinus als „Siegel der Orthodoxie“ bezeichnet und galt auch als Lehrer und Bischof für vorbildhaft. Eindringlich stellte Wriedt heraus, dass man zur Rekonstruktion dieser Rezeptionsprozesse nicht unbesehen von den modernen Werkeditionen des Kirchenvaters oder modernem Methodenbewusstsein ausgehen darf. Augustinisches Gedankengut, das mittelalterliche Theologen aufgriffen, konnte ihnen nicht nur durch Lektüre des Originals, sondern auch auf anderen Wegen (Zitatensammlungen et cetera) zukommen. Zudem tendierten sie dazu, die inneren Entwicklungen des augustinischen Denkens zu ignorieren, und sich jeweils nur die Aspekte herauszugreifen, die zu ihrer eigenen Argumentation passten. Wriedt arbeitete heraus, was die spezifischen Merkmale der Augustinus-Rezeption im Orden der Augustinereremiten waren. Ausführlich ging Wriedt auf den Augustinereremiten Johann von Staupitz ein, dessen Theologie einen spiritualistischen Ansatz zeigte und der Luther wohl unter anderem durch seine Hochschätzung der Bibellektüre als existenziell bedeutende Tätigkeit beeinflusste. Wriedt betonte in bewusster Abgrenzung zu Tendenzen, die den Wittenberger als Innovator zeichnen, dass Luther sein reformatorisches Werk aus dem Geist der spätmittelalterlichen Theologie heraus betrieben habe.
Die in Münsterschwarzach tätige katholische Patrologin Gabriele Ziegler beschäftigte sich mit dem Verhältnis Martin Luthers zu den ägyptischen Mönchsvätern, die auch Augustinus schon sehr beeindruckt hatten. Luther zitierte gerne aus der unter dem Titel „Vitae Patrum“ überlieferten und im Mittelalter sehr verbreiteten Sammlung von Sprüchen und Episoden aus dem Leben der frühen Mönche. Vom heiligen Antonius sagte er, dieser habe „mehr getan als alle Päpste auf einen Haufen geschmelzt“. Diesem Heiligen widmete er im Jahr 1522 sogar eine eigene Predigt. Der Reformator erkannte den ägyptischen Mönchen in vielem einen praktischen Vorbildcharakter für das christliche Leben zu. Sehr lobte er ihre Wertschätzung der Heiligen Schrift – in der er sein eigenes sola-scriptura-Prinzip punktuell schon verwirklicht sah –, ihre Demut und ihre Rücksicht auf Schwächere. Mit ihrer Ablehnung des Kriegsdienstes und ihrer von ihm als übertrieben angesehenen Absonderung von der Welt tat er sich dagegen schwer.
Der emeritierte evangelische Kirchenhistoriker Christoph Burger (Amsterdam) widmete sich der „Inanspruchnahme Augustins durch Luther“ mit besonderem Blick auf die antipelagianischen Schriften des Kirchenvaters, die gegen den als häretisch verurteilten Theologen Pelagius die Bedeutung der göttlichen Gnade im Heilsgeschehen (in Abgrenzung zur von Pelagius betonten menschlichen Entscheidungsfreiheit zum Guten) hervorhoben. Er zeigte, wie Luther über Augustinus besonders zu einem Verständnis der paulinischen Theologie gelangen wollte. Burger legte anhand von Zeugnissen aus Luthers akademischer Lehrtätigkeit dar, wie sich das Verhältnis des Wittenberger Professors zu Augustinus entwickelte. Zu Beginn betonte Luther gerne seine Übereinstimmung mit dem Kirchenvater, besonders im Verständnis des Apostels Paulus. „Unsere Theologie und der heilige Augustinus machen durch Gottes Wirken gute Fortschritte und herrschen an unserer Universität“, bemerkte er gegenüber einem Briefpartner und zeigte so seine innere Nähe zum Kirchenvater an. In dem Maße, wie sein eigenes Verständnis des Paulus sich veränderte, verlor Augustinus für ihn an Bedeutung.
Dem Spannungsfeld zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit bei Augustinus und Luther widmete sich Christian Danz, Professor für Systematische Theologie an der evangelischen Fakultät der Universität Wien. Beide Theologen hätten betont, dass die Gnade Gottes den Anfang des Glaubens darstellt, der somit vom Menschen selbst nicht hergestellt werden könne. Unterschiede zwischen den Gnadenlehren Augustins und Luthers hätten sich aus ihren jeweiligen Gottesbildern ergeben. Augustinus verstand Gott als unveränderliches geistiges Sein, dessen Erkenntnis der Erfahrung der Gnade vorausgesetzt ist, und war von der platonischen Ideenlehre beeinflusst. Luther dagegen sei vom spätmittelalterlichen Nominalismus beeinflusst gewesen. Das metaphysische Sein Gottes sei für ihn weniger wichtig gewesen als der soteriologische Gedanke, „dass Gott für ,mich‘ Gott sein muss“. Zentral war für ihn die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder, die mit dem Urteil Gottes über ihn übereinstimmt. Die Kirche und die Sakramente spielten dagegen nur eine nachgeordnete Rolle.
Der protestantische systematische Theologe Thorsten Dietz (Marburg) stellte die Bedeutung der „Furcht“ bei Augustinus und Luther vor. Augustinus habe im Verhältnis des Einzelnen zu Gott unterschieden zwischen dem timor servilis (knechtische Furcht) und dem timor filialis (kindliche Furcht). Während die kindliche Furcht von der Liebe zu Gott bestimmt ist, liegt der knechtischen Furcht die Angst vor der Bestrafung durch Gott zugrunde. Die „knechtische Furcht“ habe Augustinus manchmal als schlecht bezeichnet, in anderen Texten aber als insofern nützlich für das Heil, als sie „eine Gewöhnung an die Gerechtigkeit“ mit sich brächte, und sich zu einer guten „kindlichen Furcht“ weiterentwickeln könnte. „An sich gut“ war die knechtische Furcht für Augustinus aber nicht. In der mittelalterlichen Theologie habe sich dann unter Betonung des Entwicklungsgedanken eine Aufwertung der knechtischen Furcht vollzogen. Nun galt auch die Furcht vor der göttlichen Strafe als eine Gabe des Heiligen Geistes, die wurzelhaft in sich schon die kindliche Furcht enthalte. Luther kehrte demgegenüber zunächst zur augustinischen Unterscheidung zwischen guter und schlechter Furcht zurück. In der weiteren Entwicklung seines Denkens ging er über Augustinus dann hinaus, indem er der knechtischen Furcht keinerlei Heilsbedeutung mehr zubilligte. In der berühmten Leipziger Disputation mit dem Katholiken Johannes Eck vollzog Luther schließlich eine scharfe Abgrenzung von Augustinus. Zu den ihm von Eck vorgehaltenen Äußerungen Augustins, nach denen die Furcht vor Strafe eine Gewöhnung an die Gerechtigkeit bewirken könne, bemerkte Luther, bei der Furcht vor Strafe handle es sich vielmehr um „eine Gewöhnung, zu verzweifeln und Gott zu hassen“.
Quelle: © ‹Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur› vom 23.05.2017, S. 6
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