ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Die Tagespost vom 25.10.2011, S. 6

Gewinn für Geisteswissenschaftler

Von „Figura“ bis „Mensura“: Zum methodisch vorbildlichen dritten Band des Augustinus-Lexikons. Ein Beitrag der katholischen Zeitung „Die Tagespost“. Von Harm Klueting

Zu der 2009 erschienenen Festschrift „Spiritus et Littera“ zum 80. Geburtstag des Herausgebers Cornelius Petrus Mayer OSA schrieb Papst Benedikt XVI., als Verfasser der Dissertation „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ seit Doktorandenzeiten mit dem heiligen Augustinus vertraut, wie gern er im Ruhestand einige Beiträge für das Augustinus-Lexikon hätte schreiben wollen. Bekanntlich ist es nicht zu diesem Ruhestand gekommen. Aber der Gelehrte auf dem Stuhl Petri, der auch vor Beginn seines Pontifikates als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation keine Gelegenheit zur Mitarbeit an den 1994 beziehungsweise 2002 erschienenen beiden ersten Bänden dieses großen Werkes hatte, dürfte seine Freude an dem jetzt vorliegenden dritten Band haben. Für die Augustinusforschung, für die Theologiegeschichte und überhaupt für die einschlägigen Geisteswissenschaften bietet das auch methodisch vorbildliche Werk hingegen großen Ertrag.

Das Augustinus-Lexikon ist ein Begriffslexikon der in Augustins Werken vorkommenden oder für seine theologische Lehre wichtigen Begriffe. Deshalb und weil Augustinus auf Latein schrieb tragen die – je nach Mutter- oder Arbeitssprache der einzelnen Autoren auf Deutsch, Englisch oder Französisch verfassten – Artikel lateinische Titel. Verzeichnet werden aber auch Personen und Sachen (Realien), die für Leben und Werk des Augustinus von Bedeutung waren. Zu den Sachen zählt die Stadt Mailand, in der Augustinus seit 384 Lehrer der Rhetorik war, wo er durch die Predigten des Bischofs Ambrosius mit dem christlichen Glauben in Berührung kam, wo er im Sommer 386 seine Bekehrung erfuhr und wo er bis in den Sommer 387 lebte. Claire Sotinel, Professorin für Alte Geschichte in Paris, hat den Artikel „Mediolan(i)um“ beigesteuert, der die oberitalienische Stadt in der Spätantike vorstellt und ihre Bedeutung für Augustinus beleuchtet. Zu nennen ist auch der Artikel „Hippo Regius“ des 2005 gestorbenen französischen Althistorikers, Archäologen, Professors in Grenoble und Kenner des Maghreb Serge Lancel über die im heutigen Algerien gelegene Stadt, in der Augustinus von 396 bis zu seinem Tod 430 Bischof war.

Zu den Personen gehören Melania die Ältere und ihre Enkelin Melania die Jüngere, die 410/411 in das nordafrikanische Thagaste – Geburtsort des Augustinus und Ort seines Kloster- und seit 391 Priesterlebens bis zu seiner Bischofsweihe in Hippo Regius – kam und dort mehrere Klöster gründete. Leider ist der Verfasserin des Artikels „Melania“, der evangelischen Theologin und Dortmunder Privatdozentin Larissa Carina Seelbach, das wichtige Werk von Georg Jenal, „Italia ascetica atque monastica“ von 1995, entgangen, wie überhaupt auffällt, dass der jüngste von ihr angeführte Titel von 1993 stammt.

Im Mittelpunkt stehen aber nicht die Personen oder die Sachen, sondern die Begriffe. Dabei bringt es die theologische Biographie des Rezensenten mit sich, dass er nicht zuerst die großen Artikel „Gratia“ des evangelischen Theologen und Tübinger Professors für Alte Kirchengeschichte Volker Henning Drecoll, „Homo“ von Cornelius Mayer, „In Iohannis euangelium tractatus CXXIV“ der heute an der Notre Dame University in den Vereinigten Staaten lehrenden, in Wien habilitierten Klassischen Philologin Hildegund Müller oder „Mani(chaeus)“ des Utrechter Professors für Kirchengeschichte Johannes van Oort gelesen hat, sondern den Artikel „Iustificatio“ (Rechtfertigung). Der Verfasser, der evangelische Theologe und emeritierte Kirchenhistoriker der Universität Zürich Alfred Schindler, zeigt, dass „iustificatio“ – anders als „gratia“ – kein von Augustinus verwendeter Begriff ist: „Die in der abendländischen Theologie spätestens seit dem 16. Jahrhundert umkämpfte ,Rechtfertigungslehre‘ sucht man bei Augustinus als Ausdruck vergeblich. Trotzdem erlangen (in Anbetracht der circa 1650 Belege) die Wendungen um iustificatio vor allem im pelagianischen Streit einen typisch augustinischen Sinn.“

In den frühen Schriften seien aber auch diese „Wendungen um iustificatio“ selten, weshalb der Sermon über die Rechtfertigung zu Psalm 31 in den frühen „Enarrationes in Psalmos“ einer späteren Zeit zugeschrieben werden müsse. „Dass der Glaube beim Empfang der geschenkten Gerechtigkeit die entscheidende Rolle spielt, sagt Augustinus mit Paulus unendlich oft. Dass Augustinus aber an eine Imputation denkt, wie man sie aus Luthers Rechtfertigungslehre kennt und wie es auch Römer 4, 5 nahelegen könnte, ist so gut wie ausgeschlossen. Der Mensch bleibt für Augustinus nicht in sich ein Sünder, der zugleich durch ,Zurechnung‘ gerecht wird, sondern er wird durch die iustificatio gerecht, bleibt aber vor allem wegen der Vergänglichkeit und Wandelbarkeit seiner Natur, die sich besonders in der ,concupiscentia‘ zeigt, ein Sünder, bis der Tod alle Sündhaftigkeit tilgt.“

Die Artikel „Iesus“ und „Incarnatio“, beide von dem aus Vietnam stammenden katholischen Theologen und Professor am Päpstlichen Patristischen Institutum Augustinianum in Rom Joseph Lam Cong Quy verfasst, und der Artikel „Maria uirgo et mater“ des als Präsident dem Institutum Augustinianum vorstehenden Robert Dodaro ergänzen sich vorzüglich. „Jesus“ ist bei Augustinus der Name des ,historischen Jesus‘ der Evangelien, der „homo verus“, der aber auch der ,salvator‘, der Heiland, ist. Ansonsten spricht Augustinus von „Christus“ oder vom „Dominus“, oder gebraucht den Namen Jesus in der Verbindung „Jesus Christus“. „In der apologetischen Ausrichtung seiner Christologie“ betont Augustinus „die Eigenständigkeit und Eigenbedeutung des Namens Iesus“, weil die „Passion Christi ohne die Körperlichkeit und ohne die affektive Seele Jesu ihren Heilswert einbüßen“ würde. Der „homo verus“ Jesus hat nach dem Zeugnis der Evangelien Brüder: „Nach Augustinus meinten die Evangelisten mit ,mater eius et fratres‘ in erster Linie nicht die ,leibliche‘, sondern die ,geistliche‘ Verwandtschaft von Jesus.“

Die „incarnatio“, die Fleischwerdung Christi in Jesus, beschäftigte Augustinus seit seiner Rezeption der paulinischen Briefe. „Die tiefste Bedeutung der incarnatio in Jesus Christus liegt für Augustinus in der gnadenhaft-freiwilligen ,humiliatio‘ Gottes im Dienst der Erlösung“, der Erniedrigung, mit der „Christus, der König der civitas dei“, selbst Mensch wird.

Wie verhält sich bei Augustinus die Inkarnation zur Geburt aus der Jungfrau? Dodaro antwortet auf Englisch: „Augustin affirms that Mary's maternity played a key role in salvation“ – Augustinus bekräftigt, dass Marias Mutterschaft eine Schlüsselrolle für die Erlösung spielte. Augustinus lehrt die Jungfrauengeburt und die immerwährende Jungfräulichkeit der Gottesmutter und erklärt Jesu Brüder in Johannes 7, 3 als „relatives“ – Verwandte – oder im Latein des Augustinus „cognationes“. Auch Marias Ohne-Sünde-Sein ist Überzeugung des größten Kirchenlehrers der lateinischen Alten Kirche: Augustinus gestand zu, dass Maria lebte, ohne irgendeiner Sünde verhaftet zu sein, aber nur durch Gnade. Aber die Kirche war für Augustinus wichtiger als Maria: Er urteilt, dass die Kirche wichtiger ist als Maria, weil sie nur eines ihrer Glieder ist, wenn auch ein hervorragendes.

Einige ausgezeichnete Artikel – „Gratias agere“, „Contra Hilarum“, „Hymnus“, „Impositio manus“ (Handauflegung), „Iohannes Baptista“, „Martyres, martyrium“, „Melchisedech“ – stammen von Martin Klöckener, dem Inhaber des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der Universität Fribourg in der Schweiz. In „Gratias agere“ (Danksagung) erfährt der Leser unter anderem über die liturgische Formel „gratias agamus domino deo nostro“/„dignum et iustum est“, die wir heute auf Deutsch aus den Präfationen zu den Hochgebeten in der Eucharistiefeier als „Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott“/„In Wahrheit ist es würdig und recht“ kennen: „Im Gebrauch dieses ältester Tradition entstammenden Rufes, der den Dankcharakter der Eucharistiefeier an herausragender Stelle ins Bewusstsein hebt, stimmt die afrikanische Liturgie mit den meisten Liturgiefamilien des Westens (und ähnlich des Ostens) überein. Wie auch andere liturgische Formeln wird auch ,gratias agere‘ von Augustinus wiederholt ausgelegt und ist in unterschiedlichen Kontexten prägend für sein Denken und Sprechen.“

Der Priesterkönig Melchisedech, aus dem Buch Genesis als König von Salem bekannt und nach Psalm 109 (110), 4 im Hebräerbrief mit „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedechs“ zitiert und in der Liturgiesprache des Ersten eucharistischen Hochgebetes präsent, spielt bei Augustinus eine Rolle, der mit seiner Christologie an Psalm 109 (110), 4 anknüpft: „Während das Priestertum Christi durch den Schwur Gottes, der ihn nie reuen wird, auf ewig Bestand hat, ist das Aaronitische Priestertum vergänglich“ – Aaron, der Bruder des Moses, und nach dem Buch Leviticus der Begründer des jüdischen Priestertums. „In der Eucharistietheologie zieht Augustinus eine direkte Linie vom Opfer Melchisedechs über das Opfer Christi zum eucharistischen Opfer der Kirche. Melchisedechs Darbringung von Brot und Wein bei der Begegnung mit Abraham gilt als Opferhandlung, die die Eucharistie der Kirche, das ,dominicum sacramentum‘“, vorausbildet.

In dem großen Artikel „Imperium Romanum“ über das Römische Reich, dessen Zeitgenosse und Bürger Augustinus in der spätantiken Form dieses Reiches war, unterstreicht Joachim Szidat, bis 2003 Professor der Alten Geschichte an der Universität Bern, dass Augustinus über wesentlich bessere Kenntnisse der politischen Realität seiner Zeit verfügte, als es den Anschein hat. Vorrangig aber ist die religiöse Deutung: „Als politische Institution ist das Imperium Romanum Teil des ,Saeculums‘, der von der ,civitas terrena‘ und ihren Werten geprägten zeitlichen Lebensbedingungen. In diesem Rahmen hat politische Herrschaft ihre relative Berechtigung und Bedeutung, indem sie die äußeren Bedingungen für das Zusammenleben der Menschen schafft. Die Vorstellung der zwei verschiedenen ,civitates‘, der ,civitas dei‘ und der ,civitas terrena‘, bildet den Rahmen, in dem sich für Augustinus das Verhältnis von Christentum beziehungsweise Christen und Imperium Romanum bestimmt.“

Erwähnung verdienen auch die Artikel „Historia“ des Würzburger Augustinusforschers und Privatdozenten Christof Müller, „Intellectus“ des Münchener Professor für Lateinische Philologie des Mittelalters Marc-Aeilko Aris und „Lingua“ des Professors für Klassische Philologie in Münster Wolfgang Hübner. Im Artikel „Lingua“ erfahren wir, dass der ehemalige Rhetoriklehrer Augustinus sich sein ganzes Leben lang zu sprachphilologischen Fragen äußerte. Mit seiner Betonung des Zeichencharakters der Sprache – „Als ein Zeichensystem zur intersubjektiven Verständigung beruht Sprache auf willkürlicher Konvention“ – erweist sich der spätantike Kirchenlehrer als anschlussfähig an die moderne Linguistik. Der Band enthält 238 Artikel von „Figura(e)“ bis „Mensura“.

Augustinus-Lexikon, hrsg. von Cornelius Mayer in Verbindung mit Isabelle Bochet, Robert Dodaro, François Dolbeau, Volker Henning Drecoll, Therese Fuhrer, Wolfgang Hübner, Martin Klöckener, Serge Lancel (†), Goulven Madec (†), Christof Müller, James J. O'Donnell, Alfred Schindler und Antonie Wlosok, Redaktion Andreas E. J. Grote, Bd. 3. Basel, Verlag Schwabe 2010, 1284 u. 5 ungez. Seiten, ISBN 978-3-7965-2777-7, EUR 224,–

© ‹Die Tagespost - Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur› vom 25.10.2011, Seite 6

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