Der Würzburger Augustinus-Studientag rückt die Liebe als politisches Handlungsprinzip im Werk des Kirchenvaters Augustinus in den Fokus. Ein Bericht der überregionalen katholischen Wochenzeitung Die Tagespost in der Ausgabe vom 7. Juli 2022. Von Regina Einig.
Das Spannungsverhältnis des Christen zwischen irdischem Dasein und gleichzeitiger Ausrichtung auf die Ewigkeit hat den Kirchenvater Augustinus lebenslang beschäftigt. Der digitale Studientag des Würzburger Zentrums für Augustinus-Forschung (ZAF) nahm kürzlich eine Verhältnisbestimmung von Christentum und Politik im Horizont von Augustinus und Augustinismus vor. In der apologetischen Großschrift „De civitate Dei – Vom Gottesstaat“ befasst sich der Bischof von Hippo eingehend mit der Frage, wie der Christ in und zugleich außerhalb der Welt leben kann.
Christian Tornau, klassischer Philologe (Würzburg) und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Augustinusforschung, charakterisierte die Berufung des Christen nach Augustinus treffend als die eines „resident alien“: als Erdenbürger, der in dieser Welt zugleich fremd ist, geht der Christ als Pilger seinem ewigen Ziel entgegen. In der Ambivalenz Augustins als Bischof und Kirchenpolitiker liegt Tornau zufolge zudem dessen Faszination.
Den Kirchenvater trug der Glaube, dass Gott die Geschichte der Menschen durch alle Wirrungen hindurch letztlich zum Guten führt. Anschaulich schilderte der Historiker Kai Preuß (Erlangen-Nürnberg), wie Augustinus den Fall der Stadt Rom im Jahr 410 im „Gottesstaat“ als „heilspädagogisches Lehrstück“ auffasst. Der Kirchenvater habe darin eine „Bewährungsprobe auf Erden“ gesehen und sich aller apokalyptischen Spekulationen enthalten. Zugleich steckt er in seinem Buch den politischen Handlungsrahmen nach christlichen Maßstäben ab: Voraussetzung für die Legitimität des Politischen, so Preuß, sei für Augustinus immer, dass die Ergebnisse politischen Handelns nicht im Widerspruch stehen zum recht verstandenen christlichen Glauben. Für die Jünger Jesu öffnet sich hier ein Kreis von Rechten und Pflichten. „Kein Christ darf sich von der Obrigkeit zu unchristlichem Handeln zwingen lassen“, unterstrich Preuß. Zugleich muss der Christ Augustinusʼ Ideal zufolge bereit zum Widerstand bis zum Martyrium sein und Ämter als Geschenk Gottes betrachten, die er im Sinne der Kirche nutzt.
Welche Auswirkungen die Augustinusrezeption auf das Amts- und Rechtsverständnis des Mittelalters hatte, zeichnete die Kirchenhistorikern Daniela Müller (Nijmegen) im Hinblick auf die Häretikerverfolgung nach. Der vom Donatistenstreit geprägte Kirchenvater habe den Befehl des Hausherrn aus dem Gleichnis vom großen Gastmahl im Lukasevangelium – „nötige sie, hereinzukommen, dass mein Haus voll werde“ (Lk 14, 23) auf Häretiker bezogen, gegen die auch die weltlichen Herrscher aktiv werden dürften, um den Glauben zu verteidigen. Doch habe kein einziger früh- und hochmittelalterlicher Bibelkommentar die augustinische Auslegung aufgenommen – auch, wie Müller hervorhob, nicht Papst Gregor I., der Augustinus in seinen Schriften heranzog und dessen Auffassung teilte, dass weltliche Autorität im Kampf gegen Schismatiker herangezogen werde dürfe. Die fatale Dynamik der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit sei nicht von der Kirche ausgegangen: „Die weltliche Gesetzgebung war sehr viel schneller bereit, auch letzte Mittel anzuwenden, um ihr Ziel zu erreichen.“ Unter dem Eindruck, dass sich die Verhältnisse – von theologischer Warte aus betrachtet – allgemein verschlechterten, hätten sich führende Theologen und kirchliche Amtsträger dazu „durchgerungen“, die weltliche Linie zu akzeptieren. Augustinus wurde dennoch rückblickend als geistiger Vater der Inquisition betrachtet. „Augustinus hat nicht nur die Begrifflichkeit der Häresiebekämpfung vorgegeben, sondern auch die christliche Untermauerung der verfolgenden Strafinstanz“, resümierte Müller. Zwischen Duldsamkeit und Abschreckung zog Augustinus die Linien für die Rettung der Seelen aus. Doch erst die hochmittelalterliche Kanonistik habe Augustins Argumentation übernommen. Auch der Historiker Jürgen Miethke (Heidelberg) sah in der Augustinusrezeption eine Quelle von Missverständnissen: Kanonisten hätten sich im Laufe der Kirchengeschichte oft auf Augustinus bezogen und mitunter auch Schlüsse aus seinen Texten gezogen, die Augustinus kaum gebilligt hätte.
Wie sich die Rezeption augustinischer Theologie vom Mittelalter zur Moderne verschoben hat, beschrieb der Moraltheologe Marius Menke (Paderborn) am Beispiel des politischen Augustinismus, der ab 1950 vor allem im angelsächsischen Raum aufkam. Lag der Schwerpunkt der Augustinusrezeption im Mittelalter auf Autorität und Gesetz, so rückte in der Moderne Augustins Verständnis der Moralpsychologie und des Standorts des Christentums inmitten einer von kultureller Vielfalt geprägten Gesellschaft in den Fokus.
Als Initialzündung für den politischen Augustinismus nannte Menke das Werk „Saint Augustin et la fin de la culture antique“ (1938), mit dem Henri Irenée Marrou das Verhältnis von Kirche und liberalem Staat neu bestimmt habe. Der Autor habe das Bewusstsein dafür geschärft, dass Augustins Predigten von konkreten Ereignissen in einer Welt und Kirche voller Umbrüche und nicht von der Stille der Studierstube geprägt worden seien. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe ein neues politiktheoretisches Interesse am augustinischen Denken eingesetzt, vor allem an den vom Kirchenvater formulierten Bedingungen eines gerechten Krieges, wobei „Vom Gottesstaat“ und auch die Predigten als wichtigste Quelle gelten.
Hat die augustinische Theologie Spuren in den realpolitischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts hinterlassen? Menke nannte als konkrete Beispiele den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings und den weltweiten Kampf gegen den Terrorismus. Allerdings enthält der „Gottesstaat“ kein politisches Programm, vielmehr biete Augustinus dem Leser Kriterien des guten Lebens, die Auswirkungen auf das politische Handeln haben. „Das Geschöpf ist berufen, über sein begrenztes und spezifisches Begehren hinauszugehen und sich nach der unendlichen Fülle des Lebens auszustrecken“, fasste Menke zusammen.
Für christliche Politiker, die in westlich-liberalen Gesellschaften Entscheidungen fällen müssen, ist aus Menkes Sicht vor allem der Liebesbegriff Augustins maßgeblich. „Es geht nicht um den guten Staat, sondern um good governance.“ Damit sei die politische Ethik bei Augustinus unabhängig von einer spezifischen Regierungsform, da der Schöpfungsauftrag an den Menschen und die politisch Handelnden grundsätzlich gilt. Den selbstzerstörerischen Phänomenen des westlichen Individualismus und den Erfahrungen des Totalitarismus biete der politische Augustinismus den Kernbegriff der augustinischen Theologie als Antwort an: die Liebe, wobei Kontemplation und Aktion zusammenhängen. Die Betrachtung des Schöpfers führt dabei nicht zur Passivität, sondern zur tätigen Liebe nach dem biblischen Vorbild des barmherzigen Samariters. „Die für einen liberalen Rechtsstaat erforderliche Institutionalisierung der Agape in Form von wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ist meines Erachtens nur vor dem Hintergrund des augustinischen Liberalismus theologisch als auch gesellschaftlich zu begründen“, unterstrich Menke.
Dass die Debatte in Deutschland noch nicht angekommen sei, führt er darauf zurück, dass „Augustinus und seine Theologie besser in die USA passen“. In den Staaten steht die Frage des gerechten Krieges stärker im Vordergrund und werde „seit den 1950er Jahren durchgehend diskutiert“.
In der Debatte kam die Bedeutung der Kontemplation zur Beurteilung politischer Theorien aus dem Blickwinkel des politischen Augustinismus zur Geltung. Gott falle aus der Rechnung des Kirchenvaters nie heraus, sondern sei elementar für die Geschichte. Wer Kontemplation komplett ausspare und der Vorstellung anhänge, der innere Bezug zu Gott habe im politischen Leben nichts zu suchen, übersehe einen wesentlichen Punkt: Die elementare Erfahrung, von Gott geliebt zu sein, ist für Augustinus der Ausgangspunkt für das freie Handeln aus Liebe. Augustinus hätte politisches Handeln auch nicht auf die Aktivität von gewählten Mandatsträgern enggeführt. Darum ist es aus der Perspektive des politischen Augustinismus erwünscht, dass sich der Christ politisch engagiert. Fazit: Gerade Christen müssen hinaus in die Welt und dürfen sie nicht jenen überlassen, die sich von Lastern bestimmen lassen.
Quelle: © ‹Die Tagespost – Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur› vom 07.07.2022, S. 12
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