Wie Augustinus aus dem Mainstream der alten Kirche ausscherte – Der Würzburger Studientag befasst sich mit den Texten des Bischofs von Hippo über die Lüge. Von REGINA EINIG
Eloquenz ist keine Frage des Bauchgefühls. Augustinus von Hippo (354-430) legte an die Kunst der Sprache präzise Kriterien an: sachlich und adressatengerecht sollte sie sein. Im Mittelpunkt der Äußerungen solle nicht der Stolz, sondern die Weisheit gepaart mit Demut stehen. Ein vielschichtiges Thema für den 17. Würzburger Augustinus-Studientag, der kürzlich das Verhältnis des Bischofs von Hippo zur Sprache unter dem Blickwinkel „Wort, Wahrheit, Lüge“ beleuchtete. Christof Müller (Würzburg) zufolge sah Augustinus die Grenzen des menschlichen Fassungsvermögens jedenfalls nüchtern. Gott sprachlich zu erfassen sei für den Bischof von Hippo „problematisch, wenn nicht gar unmöglich“ gewesen.
Allerdings bescheinigte der wissenschaftliche Leiter des Zentrums für Augustinusforschung dem Kirchenvater eine Entwicklung: Im Zusammenhang mit seiner Trinitätslehre habe dieser die „Wort“-Metaphorik intensiv verwendet und damit die ontologische „Entmächtigung des Sprachlichen“ in seinen frühen Schriften korrigiert. Nach Augustins Trinitätslehre bringt Gottvater im Sohn – dem Logos – sein innerstes Wesen zum Ausdruck. Christus wiederum sei die „Stimme“, der die gefallene Menschheit erlösen und zum göttlichen Ursprung zurückführen wolle. Mit viel höherer theologischer Würde lasse sich Sprache für einen spätantiken Denker kaum ausstatten, stellte Müller fest.
Wieviel Innerlichkeit Augustinus der Sprache beimaß, legte Lenka Karfíková (Prag) am Beispiel des Dialogs „Über die Größe der Seele“ dar. Die Seele bringe aus Augustins Sicht die Strukturen der freien Künste schon bei der Geburt mit. Eltern und Lehrer könnten mit ihrer Sprache lediglich an diese Strukturen erinnern, sei es im gesprochenen Wort oder durch die Sprache der Taubstummen. Dass der dreifaltige Gott in den Seelen seiner Geschöpfe wohnt, prägt in Augustins Menschenbild auch die Wortstruktur der Seele: Sie sprengt einerseits den Rahmen des menschlich-intellektuell Erfassbaren, eröffnet aber zugleich der Seele Zugänge zur Gegenwart des „Lehrers von oben“.
Wesentlich für Glauben und Erkennen sind für Augustinus intellektuelle Einsicht und die Autorität. Tobias Uhle (München) legte auf der Grundlage der Schrift „De ordine“ dar, dass der Kirchenlehrer seine Überlegungen zu Einsicht und Autorität in den Zusammenhang mit der Gotteserkenntnis stelle. Augustinus schreibe der Einsicht eine wesentliche Rolle für die Gotteserkenntnis zu, unterscheide aber zwischen der Wertigkeit verschiedener Zugänge zum Glauben: „Zeitlich gebühre dem Glauben an die christliche Autorität, der Sache nach der intellektuellen Einsicht der Vorrang.“
Dass Autorität und Einsicht nicht ohne den Prüfstein Wahrheit auskommen, zeigte Alfons Fürst (Münster) in seinen Überlegungen zum Traktat über die Lüge („De mendacio“), und gegen die Lüge („Contra mendacium“). Der Bischof von Hippo zieht darin eine rote Linie: Lügen ist aus seiner Sicht verboten.
Eine in der Antike wie heute begründungspflichtige Position: Auch zur Zeit Augustins gab es keine klare Definition der Lüge. Die vorherrschende Meinung lautete, eine Unwahrheit zu sagen sei unter besonderen Umständen ausnahmsweise zulässig.
Mit dem Traktat „De mendacio“ legt Augustinus nicht nur eine andere Auffassung dar, sondern bietet zugleich die erste Diskussion der gesamten Antike dafür, welche Elemente für die Definition einer Lüge in Betracht zu ziehen sind. Ob jemand lügt, hängt von der subjektiven Gesinnung ab: Die lateinische Sprache unterscheidet zwischen subjektiver und objektiver Unwahrheit: mendacium (Lüge) und error (Irrtum). Erst die Sprache bot Augustinus die Voraussetzungen, um über die Lüge als subjektives ethisches Problem nachzudenken. Dabei waren ihm die Grenzen menschlicher Formulierungskraft bewusst: „Was wir sagen, ist oft nicht deckungsgleich mit dem, was wir zum Ausdruck bringen“, unterstrich Fürst. Augustinus unterscheide klar zwischen Lüge und Irrtum, neige aber auch zur Strenge: Im Psalmenkommentar äußerte er sich skeptisch über Witze, die er für nicht ganz unschuldig hielt. Das passt in Fürsts Augustinusbild. „Ich habe den Eindruck, er war ein recht ernster Mensch.“
Wenn aber die Lüge einem guten Zweck dienen soll? Wie stand es um die Toleranz der Bischofs von Hippo mit Blick auf eine Kriegslist oder eine Notlüge zur Rettung eines Gefährdeten? Die „gesamte Prominenz“ aus der alten Kirche habe wiefolgt gedacht, unterstrich Fürst: Man lehnte Lügen zwar mit Verweis auf die Heilige Schrift strikt ab, räumte aber Ausnahmesituationen ein. „Bei den Theologen lädt sich das religiös auf, wenn das Seelenheil eines Menschen gefährdet ist.“ Darf aber um des Seelenheils willen getrickst werden? Auch in diesem Punkt habe sich Augustinus „kompromisslos“ gegen den Mainstream der alten Kirche gestellt, stellte der Münsteraner Patrologe fest. Vor Augustinus habe lediglich Basilius von Caesarea (330–379) dem Lügen eine ebenso strikte Absage erteilt. Davon abgesehen sei Augustinus „der erste, der diese Ausnahme ablehnt“. Gestützt werde diese Haltung durch das „kategorische Lügenverbot“ der Heiligen Schrift. Augustinus kritisiere an den sogenannten „Notlügen“ die falsche Prioritätensetzung: ein irdisches Gut – das Heil des Leibes – werde dem Heil der Seele vorgezogen. Lediglich in zwei Fällen rang sich Augustinus dazu durch, über Ausnahmen nachzudenken: die Notlüge, um einem Todkranken das Leben zu retten oder um eine Vergewaltigung zu verhindern. An der Einschätzung, es handele sich auch in diesen Fällen um eine falsche Prioritätensetzung, hielt er gleichwohl fest. Und hinterließ eine aufschlussreiche Kasuistik von acht Lügen: die fromme Unterweisung verfälschen, jemandem Unrecht tun, jemandem auf Kosten eines Unrechts an einem Dritten helfen, die reine Lust am Lügen, um den Menschen zu gefallen, um jemanden zu bekehren, um das zeitliche Wohlergehen eines Anderen zu fördern oder um dessen körperliche Unversehrtheit zu bewahren. „Jeder, der annähme, es gebe eine Art der Lüge, die keine Sünde sei, betrügt sich selbst auf schändliche Art und Weise, da er sich für einen rechtschaffenen Betrüger seiner Mitmenschen hält“, schreibt Augustinus in „De mendacio“.
Fürst zufolge beschränkt sich Augustinus nicht auf moralische Kriterien. Lügen sind für ihn nicht allein wegen des Verstoßes gegen eine moralische Norm verwerflich, sondern der Lügner verfehlt sich an seiner Bestimmung, ein Leben in Wahrheit zu führen. Er untergräbt das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Wahrheit und zerstört damit die Basis menschlicher Kommunikation. Der Münsteraner Kirchenhistoriker zog die Linien von Augustins Überlegungen zur Gegenwart aus und bescheinigte ihnen in Zeiten von fake news Aktualität.
Wie liest sich Gottes Wort aus diesem Blickwinkel? Hat die Bibel immer recht? Schon im Alten Testament steht es unterschiedlich gut um die Wahrheitsliebe der Protagonisten. Mitunter wird getrickst und getäuscht, man denke nur an Jakob und Esau. Unmoralisch ist die Lektüre aus Augustins Sicht dennoch nicht. Fürst zufolge verstand der Kirchenvater etliche Bibelstellen als „Sinnbilder künftiger Wahrheit“ – typologisch, allegorisch oder prophetisch. Zur Nachahmung empfohlen sind die biblischen Geschichten dennoch nicht uneingeschränkt: Augustinus leitete daraus keineswegs ab, es sei zulässig zu lügen. Lügen als Form des Missbrauchs der Sprache stellte für den Bischof von Hippo eine Sünde dar, weil der natürliche Sprachgebrauch auf die Weitergabe der Wahrheit abziele. Auch beste Absichten ändern nichts am Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Dass kein Mensch getäuscht werden wolle, sage alles über die Natur des Menschen aus – auch des Lügners. Seit biblischen Zeiten ist diese Wahrheit unverändert aktuell.
© Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur vom 29.05.2019, S. 12
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