Bevor die Vandalen kamen, stritt man an dem afrikanischen Bischofssitz über die wahre Lehre. Von GEORG BLÜML
Mai oder Juni 430 nach Christus. Die Katastrophe war abzusehen gewesen. Seit Monaten strömen Flüchtlinge in die Stadt. Die nackte Angst kann man in ihren Gesichtern lesen. Schauermärchen machen die Runde – die reichen Städte Nordafrikas lägen in Ruinen, ihre Bewohner vom Feind hingemordet oder versklavt. Die wenigen, die dem Gemetzel entkommen sind, versteckten sich in Gebirgswäldern und Felsenhöhlen oder seien auf der Flucht vor den Vandalen. Die Vandalen in Afrika? Undenkbar! Im Jahr zuvor habe der von König Geiserich geführte Germanenstamm die Meerenge von Gibraltar überwunden, um sich die Kornkammer des Weströmischen Reiches unter den Nagel zu reißen. Gerüchte brodeln. Ist ein derartiger generalstabsmäßig organisierter Coup diesen Barbaren überhaupt zuzutrauen? Es muss Verrat im Spiel sein; Hochverrat. Womöglich war es der Oberkommandierende Bonifacius höchstpersönlich, der den Wilden die Schiffe für die Überfahrt überlassen hat; seit längerem war er schon in Opposition zum Kaiserhof in Ravenna gewesen. Bis zu zwanzigtausend Krieger sollen es sein, die seit einem Jahr plündernd und brandschatzend durchs Land ziehen. Nachdem eine Eroberung der Metropole Carthago gescheitert ist, stehen sie inzwischen vor Hippo regius.
Die Stadt, die ihren Beinamen, „die Königliche“, von den Numiderkönigen erhielt, die dort ehedem ihre Residenz hatten, ist einer der bedeutendsten Häfen Nordafrikas. Das von Marmorsäulen umstandene Forum im Zentrum ziert ein sorgsam verlegter Belag aus Kalksteinplatten. Es gibt marmorne Tempel, öffentliche Bäder und ein großes Theater. An den feinen Stränden und an den Hängen der grünen Hügel über der Stadt thronen die Villen der Reichen und Schönen mit ihren verschwenderischen Mosaiken. Inmitten palmengesäumter Gärten und im Schatten der Säulen-Veranden genießt man den herrlichen Ausblick über die weite Meeresbucht bei Falernerwein und Pfauenbraten. Bis zur Vandaleninvasion zog die römische Kolonie ihren Reichtum aus dem Geschäft mit Brot und Spielen. Hier wurden sowohl die reichen Weizenernten aus dem Hinterland verschifft, die für die Lebensmittelversorgung Roms überlebenswichtig sind, als auch die fürs Kolosseum bestimmten Löwen, Leoparden und Elefanten, mit denen sich die Caesaren die Gunst des wankelmütigen Plebs erkauften. Inzwischen aber ist Hippo regius auch eine christliche Stadt geworden. Eine Kirche wurde zwanzig afrikanischen Märtyrern geweiht, eine andere trägt den Namen des Bischofs Leontius; vier Konzilien wurden hier schon abgehalten. Das verwinkelte Christenviertel liegt keine 150 Meter vom Stadtzentrum entfernt. Allerdings ist die Herde entzweit. Während die Anhänger des Bischofs Donatus von Carthago die Rechtmäßigkeit der Sakramente bestreiten, welche von Priestern gespendet wurden, die in Zeiten der Verfolgung vom Glauben abgefallen waren, vertreten die Katholiken eine versöhnliche Position. Ihr Bischof ist Augustinus, der in der Basilika des Heiligen Friedens seinen Sitz hat. Das Wort des 76-Jährigen gilt etwas; auch außerhalb seiner Diözese. Angesichts der herannahenden Katastrophe hat er Amtsbrüder und Priester dazu aufgefordert, bei den ihnen anvertrauten Seelen auszuharren; ihnen beizustehen; Sakramente zu spenden – notfalls bis zuletzt. Zahlreiche theologische Werke hat er verfasst und sich streitbar auch in innerkirchliche Zwistigkeiten eingemischt. Mit seinem donatistischen Bischofskollegen Proculeianus ist es trotz aller Bemühungen und Gespräche bislang aber zu keiner Einigung gekommen.
Nun, da die Vandalen vor den Toren stehen, ist keine Zeit für theologische Dispute, die Versorgung der Vertriebenen hat Priorität. So gleicht das Haus des im Geruch der Heiligkeit stehenden Oberhirten in diesen Tagen einem Flüchtlingsheim. Vor allem Geistliche haben Aufnahme gefunden; darunter auch einige Amtsbrüder, wie Bischof Possidius von Calama, der die Erinnerungen an diese Tage in seine Augustinus-Biographie einfließen lassen wird. Die Stimmung schwankt zwischen Bangen und Hoffen. Seit halb Europa von den Barbaren überrannt wurde, ist Nordafrika das letzte Leistungszentrum des Weströmischen Reiches. Von dessen Steueraufkommen abhängig, wird sich Roms Schicksal hier entscheiden. Ob es Bonifacius, dem Oberbefehlshaber der afrikanischen Provinzen, gelingen wird, Hippo zu halten? Alles hofft auf die Ankunft der oströmischen Flotte. Augustinus ist pessimistisch, Trost findet er im Glauben. Alt sei die Welt geworden, pflegt er zu sagen, greisenhaft und voller Krankheiten, „aber Christus ist ewig jung“. Eines Tages – während die Mahlgemeinschaft beisammen sitzt – eröffnet Augustinus seinen Gästen völlig unvermittelt, dass er den Herrn um Errettung der Stadt anfleht und fügt an: „Falls dies jedoch nicht in seinem Ratschluss liegt, dann gebe er seinen Dienern die Kraft, dies zu ertragen, oder nehme mich aus dieser Welt zu sich.“ Groß ist das allgemeine Entsetzen, als vandalische Schiffe die Hafeneinfahrt sperren; die Stadt ist eingekesselt. Auch im Bischofshaus schwindet die Hoffnung. Mit Tränen in den Augen beten sie „Gerecht bist du, o Herr, und gerecht ist dein Gericht.“ Im dritten Monat der Belagerung befällt Augustinus ein Fieber. In seinem Zimmer lässt er Bußpsalmen aufhängen, bis fast zuletzt spendet er Trost. Am 28. August stirbt der große Bischof.
Der Kampf um Hippo dauerte 14 Monate. Unverrichteter Dinge mussten die Belagerer zunächst wieder abziehen, so dass dem Augustinus-Biographen Possidius die Flucht gelang. Wenig später wurde Hippo regius doch noch die Hauptstadt der Vandalen. Diese waren ebenfalls Christen, lehnten als Arianer aber die Wesensgleichheit von Gott-Vater und -Sohn ab. Entgegen ihrem Ruf scheint ihr Regime ohne größere Härten für die Bevölkerung gewesen zu sein. Unter der nachfolgenden Herrschaft der Byzantiner dämmerte die Stadt bis zur islamischen Eroberung. Augustinus' Gebeine gelangten auf verschlungenen Pfaden über Sardinien nach Pavia, seine Kanonisierung erfolgte 1295 durch Papst Bonifaz VIII., der Augustinus zum großen Lehrer der Kirche ernannte. 1830 wurde Algerien von den Franzosen besetzt. Die neuen, mehrheitlich katholischen Kolonialherren richteten sich auch in der osmanischen Hafenstadt Bouna (frz. Bône) ein, die neben dem antiken Hippone entstanden war. Ab den 1880er Jahren wurde etwas außerhalb der Stadt eine Basilika zu Ehren ihres großen Bischofs errichtet, die Prokathedrale des 1866 gegründeten Bistums Constantine-Hippone. Bis zum Algerienkrieg zählte das Bistum 180 000 Gläubige, 1980 waren es noch 10 000.
Heute leben in der Stadt noch 300 Christen
Nach den jüngsten Verschärfungen der algerischen Religionsgesetze harren lediglich noch 300 Christen dort aus. Annaba, so der heutige Name von Hippo, lebt inzwischen von der Stahlindustrie und vom Tourismus. Sehenswert sind die archäologischen Ausgrabungen, darunter die Ruinen einer dreischiffigen Kathedrale, in der man die Basilica Pacis des Augustinus erkennen möchte. Über den Resten des nahen Theaters, dessen Halbrund sich an einen Hügel lehnt, erhebt sich die eklektizistische Doppelturmfassade der Augustinusbasilika, in der sich maurische und byzantinische Formen vereinen. 2010 bis 2013 wurde sie restauriert; auch dank einer privaten Spende Benedikts XVI. Leider ist sie nur selten zu besichtigen.
© Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur vom 29.05.2019, S. 30
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