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Handout (Gliederung + Zitierte Texte)
Festvortrag anlässlich der Jahresvollversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V.
Burkardushaus Würzburg, 29. Juni 2018
Von Prof. Dr. iur. Johannes Hellebrand
Meine Damen und Herren!
Bei Augustinus denkt jeder an den Philosophen und Theologen, mancher auch an eine interessante Vita und an sein fast unüberschaubares Werk. Augustinus war aber nicht nur ein unermüdlicher Schriftsteller, ein eloquenter Prediger, ein fleißiger Briefeschreiber. Er hatte als Bischof auch andere Pflichten, die in seiner ersten Biographie – geschrieben vom Bischofskollegen Possidius – erwähnt, aber lange einfach ignoriert wurden, wie sich auch in der Bildenden Kunst eindrucksvoll zeigt: Er wird immer wieder nur als Denker und Schriftsteller dargestellt – dazu kommen Szenen aus seinem bewegten Leben; anderes fehlt völlig.
Mit dem Aspekt der Seelsorge hat sich erst Frits van der Meer in seinem Buch „Augustinus der Seelsorger“ – kurz nach dem 2. Weltkrieg erschienen – intensiv beschäftigt. Ein anderer Aspekt ist Augustinus’ kirchenpolitische Tätigkeit auf den häufigen nordafrikanischen Konzilien; darüber hat Erzbischof Zollitsch zum 80. Geburtstag von Cornelius Mayer referiert.
Auch Augustinus’ Richtertätigkeit führte lange ein Schattendasein: Er entschied nicht nur über kircheninterne Zwiste, sondern auch über Streitigkeiten zwischen römischen Bürgern. Als der italienische Kirchenrechtler Agostino Pugliese in den 1930er Jahren dazu einen Beitrag mit vielen Fakten, Anekdoten und Zitaten aus dem Werk des Kirchenvaters publizierte, erregte dies wenig Aufsehen: Auf den Beitrag wurde zwar stets verwiesen; er wurde aber nie ins Deutsche übersetzt. Ihnen genau diesen Aspekt – „Augustinus als Richter“- näher zu bringen ist Ziel meines Vortrags.
Aber was soll ich über diese Richtertätigkeit erzählen?
Optimal wäre es, wenn ich Ihnen Fälle vorstellen könnte, die vom Gegenstand oder vom Verfahrensverlauf her zumindest interessant oder gar repräsentativ wären und das damalige Geschehen vor dem Bischofsgericht lebendig widerspiegeln würden. Unter beiden Gesichtspunkten habe ich bei Augustinus selbst kaum etwas gefunden; über einige besonders schwierige Rechtsprobleme schreibt er in den sog. Divjak-Briefen; sie eignen sich aber eher für einen Vortrag bei Römisch-Rechtlern.
Vielleicht lassen sich aber aus Augustinus’ riesigem Werk zumindest ansatzweise interessante, repräsentative Fälle grob rekonstruieren; dies wäre eine Aufgabe für Theologen und Juristen – an sie wagt sich aber offenbar niemand, weil dies gewissermaßen Niemandsland zwischen Theologie, Kanonistik und Römischer Rechtsgeschichte ist. Bei Pugliese finden sich nur Fälle meist innerkirchlicher Natur und um Interventionen bei staatlichen Richtern. Beides passt also nicht zu „Augustinus als Richter“ im strengen Sinne.
Mangels überlieferter Fälle aus dem prallen Menschenleben habe ich mich daher dafür entschieden, Ihnen zunächst allgemein die damalige Bischofsrichtertätigkeit gegenüber den Bürgern mit ihren grundsätzlichen Aspekten darzustellen und Ihnen abschließend noch einige Zitate mit auf den Weg zu geben, die Augustinus’ Sicht des Richteramts deutlich machen. Das Handout enthält die Darstellung bei Possidius, eine Gliederung meines Vortrags und schließlich eine Synopse der von mir besprochenen Zitate.
1. Schilderung bei Possidius
An der Schilderung der augustinischen Bischofsrichtertätigkeit bei Possidius in Kap. 19 kommt kein Interessierter vorbei. Seine Darstellung ist freilich mit Vorsicht zu werten, auch wenn sie insgesamt gelungen ist: Der wohlwollend-hagiographische Charakter ist nicht zu übersehen. Bibelzitate stehen im Vordergrund. Juristisch ist manches nicht sauber, anderes erscheint zunächst zweifelhaft, ist aber bei näherer Betrachtung im Kern richtig; darauf werde ich noch eingehen.
2. Begriffliches zur „audientia episcopalis“
Wer sich mit „Augustinus als Richter“ beschäftigt, stößt – etwa im Augustinus-Lexikon – auf den Begriff der „audientia episcopalis“. Wie verhalten sich „Augustinus als Richter“ und „audientia episcopalis“ zueinander?
In der regelmäßig stattfindenden „audientia episcopalis“, locker übersetzt: in der bischöflichen Sprechstunde, konnte sich jeder mit Beschwerden, Fragen und Klagen, aber auch mit der Bitte um Streitschlichtung oder Streitentscheidung an den Bischof wenden. Dieser hatte für die Sorgen und Nöte „ein offenes Ohr“, daher der Name „audientia“. Dass auch der Bischof selbst Anliegen vortragen konnte, war nicht der primäre Aspekt dieser „audientia episcopalis“ – im Gegensatz zu heutigen Audienzen von Staatsoberhäuptern und Kirchenführern. Im Übrigen bildete die „audientia episcopalis“ mit Seelsorge, Liturgie, Verkündigung, Diakonie, Verwaltung der Diözese und Zusammenarbeit mit anderen Bischöfen insgesamt das Bischofsamt, das Augustinus in Hippo bekleidete – ein wichtiger Aspekt, der noch in anderem Zusammenhang bedeutsam wird.
„Audientia episcopalis“ im engeren Sinne beinhaltet dagegen allein die Streitschlichtung und Streitentscheidung durch den Bischof in zivilrechtlichen Angelegenheiten. Die Verhängung von Strafen – sieht man von Kirchenstrafen gegenüber Klerikern ab – oblag allein staatlichen Stellen, im Zweifel dem Provinzstatthalter; hier wurde Augustinus – auch im Rahmen seiner „audientia episcopalis“ – von Betroffenen oft gebeten, als Fürsprecher aufzutreten, wie Possidius in Kap. 20 schildert.
Kurzum: Die „audientia episcopalis“ ist zunächst ein weiter, rein deskriptiver Begriff ohne inhaltliche Festlegung ihrer Gegenstände. Mit „Augustinus als Richter“ ist ein Teil dieser Audienz gemeint: die Streitentscheidung oder Streitschlichtung in Zivilsachen – die sog. „audientia episcopalis“ im engeren Sinne, so wie Römisch-Rechtler sie verstehen. Welchen Anteil diese an der gesamten „audientia episcopalis“ – im weiteren Sinne – hatte, dazu haben wir keine tragfähigen Erkenntnisse. Insgesamt scheint aber der „echte“ Anteil der Streitschlichtung und Streitentscheidung gerade bei Augustinus durchaus beachtlich gewesen zu sein; darauf werde ich noch zurückkommen.
3. Rechtsnatur der Bischofsrichtertätigkeit
Juristen werden verständlicherweise hellhörig, wenn plötzlich christliche Bischöfe Rechtsstreitigkeiten entscheiden konnten, was Kaiser Konstantin verfügte und seine Nachfolger (je nach ihrer Einstellung zum Christentum) modifizierten, einschränkten oder erweiterten. Wie dies rechtlich einzuordnen war, ist im römisch-rechtlichen Schrifttum der letzten 100 Jahre intensiv anhand der kaiserlichen Edikte diskutiert worden: Handelte es sich um eine echte Übertragung staatlich-römischer Jurisdiktion auf die Bischöfe, oder wurden diese nur im Wege der Organleihe in das staatliche römische Rechtspflegesystem eingebunden? Wurde hier vielleicht sogar eine konkurrierende Gerichtsbarkeit der Bischöfe begründet? Oder erkannten die Kaiser lediglich eine schon bestehende innerkirchliche Streitentscheidungsmöglichkeit an, wie es sie auch schon seit jeher in Rom als Schiedsgerichtsbarkeit gab, wenn die Streitenden sich auf die „Einschaltung“ eines sog. „arbiter“ geeinigt hatten?
Der ganze Fragenkomplex blieb letztlich ungeklärt: Die Quellen waren wenig fundiert, unvollständig und nicht exakt formuliert; Rechtsetzung und Rechtswissenschaft hatten halt damals bereits ihr hohes Niveau verloren. Die heutigen Römisch-Rechtler lassen die Frage nach der Einordnung der Bischofsrichtertätigkeit daher meist offen und erwähnen nur, dass für die Kaiser die Bischöfe offenbar kompetenter und weniger korrupt waren als die staatlichen Richter. Zudem stand es damals um die Staatskasse schlecht, die Bischofsrichter kosteten den Staat nichts. Die Bischöfe ihrerseits freuten sich über die Anerkennung der Kirche und auch über ihre eigene Aufwertung durch den römischen Staat – Kehrseite war allerdings die Einmischung der Kaiser in Kirchen- und sogar Glaubensfragen.
Die Römisch-Rechtler hätten allerdings gut daran getan, die „audientia episcopalis“ nicht nur von der Rechtsetzung (also den Kaisern), sondern auch von der anderen Seite, der Rechtsanwendung (also den Bischöfen) her, in den Blick zu nehmen. Immerhin gab es Bischöfe mit einem großen schriftlichen Nachlass – etwa Ambrosius und Augustinus: Augustinus lastete die Streitschlichtung nicht den Kaisern, sondern seinem Lieblingsapostel Paulus an, wie auch Possidius bekundet: Paulus hatte nämlich den Christen empfohlen, Streitigkeiten untereinander nicht an den heidnischen Richter heranzutragen, sondern intern – von einem klugen Mitchristen – „klären“ zu lassen (1 Kor 6, 1-6).
Indem Augustinus aber Paulus als Basis für die Richtertätigkeit anführt, macht er deutlich, dass er sie als innerkirchlich-episkopale, vom Staat nicht verliehene Aufgabe ansah: Der Bischof entschied als Schiedsrichter, weil er von den Parteien als solcher angerufen worden war; das Römische Recht erkannte seine Entscheidungen auf Grund der kaiserlichen Edikte lediglich an. Dass sich die von Paulus angeregte Streitschlichtung im Laufe der Jahrhunderte immer mehr auf den Bischof konzentriert hatte, ist kirchenrechtlich interessant – ebenso, dass es in anderen Religionen im Orient ähnliche Phänomene bzw. Vorläufer gab und z.T. sogar noch heute gibt. Insofern ist das Bischofsrichteramt keineswegs etwas typisch Römisches oder Christliches.
Wer sich mit Paulus’ Empfehlung zur innerkirchlichen Streitschlichtung als Basis der damaligen Bischofsrichtertätigkeit zufriedengibt, muss sich allerdings die Frage gefallen lassen, ob die kaiserlichen Edikte zur Streitentscheidung durch den Bischof nicht doch darüber hinausgehen – mit der Folge, dass die Kaiser den Bischöfen womöglich doch eine echte Rechtsprechung eingeräumt hätten.
Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Streitschlichtung und Streitentscheidung ein modernes Phänomen. Es taucht erst auf, wenn die Rechtspflege nicht nur das autoritär gefällte Urteil des Gerichts, sondern daneben auch eine Beilegung des Streits durch die Beteiligten unter Mitwirkung des Richters ohne Urteil kennt. Die materielle Abgrenzung zwischen beiden Phänomenen ist insbesondere dann aber sehr schwierig, wenn der Richter eine große Autorität besitzt: Die machtvoll vorgetragene Anregung einer Einigung braucht dem Machtwort des Richters in Urteilsform nicht nachzustehen. Also pochen wir bitte nicht so sehr auf die Unterscheidung zwischen Streitschlichtung und Streitentscheidung.
4. Maßstab der Beurteilung von Rechtsverhältnissen
Liest man dazu Kapitel 19 bei Possidius, könnte man meinen, Augustinus habe die ihm unterbreiteten Fälle nach der Bibel und der Wahrheit des göttlichen Gesetzes entschieden – was durchaus dazu passt, dass Possidius die paulinische Empfehlung zur Streitschlichtung anführt, die einschlägigen kaiserlichen Edikte aber schlichtweg unterschlägt. Dieser Eindruck ist indes unzutreffend: Augustinus trug in den sog. Divjak-Briefen an juristisch versierte Adressaten besonders schwierige Rechtsfälle vor, um so zu einer richtigen Bewertung gerade nach Römischem Recht zu kommen.
Für ihn als Römer war die Frage, nach welchem Recht Verhältnisse zu beurteilen waren, völlig unproblematisch: Natürlich war die römische Rechtsordnung für die rechtliche Beurteilung von Sachverhalten entscheidend: Wer ist Eigentümer? Was darf ein Grundstückseigentümer gegenüber dem Nachbarn etwa bei Überhang, Überbau tun? Wie überträgt man Eigentum an beweglichen Sachen, an Grundstücken? Wozu ist ein Gläubiger berechtigt, um an „sein“ Geld zu kommen, wenn Gefahr im Verzuge ist? Wer ist gesetzlicher Erbe eines Verstorbenen? Wie kann man jemand zum Erben bestimmen? Wann wird ein Darlehen (vorzeitig oder regulär) zur Rückzahlung fällig? Wann darf man eine Schenkung wegen groben Undanks oder eigener Verarmung widerrufen? All dies und vieles mehr konnte sich einfach nur nach römischem Recht richten. Das Leben spielte sich halt im römischen Rechts- und Kulturkreis ab.
5. Kollisionen zwischen römischem Recht und christlicher Lehre
Interessant wurde das Ganze natürlich, wenn römische Normen mit dem christlichen Verständnis nicht mehr übereinstimmten. Diese Inkongruenz konnte von unterschiedlichem Gewicht sein: angefangen von bloßen Zweifeln mit geringen Folgen bis hin zu krassen Widersprüchen mit großen Folgen. Beispiele dafür lassen sich bei einigem Nachdenken genügend finden – nicht nur im Familienrecht (Stichwort: „pater familias“), sondern auch im Umgang mit Sklaven und Freigelassenen – während im Schuld- und Sachenrecht die Kollisionen zumindest seltener waren.
Juristen lernen heute, dass es Rangverhältnisse zwischen Normen gibt und dass die Normen in der Gesamtrechtsordnung eine „Pyramide“ bilden, bei der höheres Recht niederrangiges Recht bricht. Den antiken Menschen im Umbruch von der heidnischen Antike zum christlichem Altertum lag dagegen die Existenz unterschiedlicher, nur miteinander ringender Rechtsordnungen näher – ohne dass eine Norm sich durchsetzte, und wir dürfen nicht vergessen, dass selbst Paulus, Augustinus’ Lieblingsapostel, ein Kind seiner Zeit war: Jude, römischer Bürger und Christ, der der Obrigkeit gehorchte.
Augustinus kannte folglich rechtslogisch/formalistisch eine Hierarchie im Rechtssystem: das einfache positive Recht, das Naturrecht und als Christ noch das göttliche Recht, das freilich weitgehend dem Naturrecht entsprach. Er war wie die Meisten damals der Ansicht, dass höheres Recht niedrigeres Recht keineswegs automatisch brach, sondern dass christliche Kaiser nur verpflichtet waren, das römische Recht den christlichen Standards anzupassen. Alles andere hätte dem Chaos, der Rechtsunsicherheit Tür und Tor geöffnet – eine Vorstellung, die dem Ordo-Liebhaber Augustinus strikt zuwider war.
Den daraus resultierenden Konflikt löste Augustinus in seiner Doppelfunktion elegant und sauber: Solange der Kaiser nicht den Widerspruch zwischen römischem Recht und christlicher Lehre beseitigte, war der Bischofsrichter wie jeder Richter und Rechtsunterworfene an das römische Recht „notgedrungen“ gebunden. Als Seelsorger war er aber zugleich gehalten, seine Schäfchen zur Beachtung der christlichen Grundsätze anzuhalten. Insofern ist Possidius’ Darstellung der Richtertätigkeit im Ergebnis doch richtig.
Für den Zivilprozess lehnte Augustinus es folglich strikt ab, gestützt auf den christlichen Grundsatz der „misericordia“ von der römisch-rechtlichen Wertung abzuweichen, aber als Bischof forderte er die Parteien auf, bei der Geltendmachung ihrer Rechtsposition das Christliche vorgehen und Barmherzigkeit walten zu lassen. Für den damaligen christlichen staatlichen Zivilrichter galt dies entsprechend: Er war römischer Bürger und Richter, aber auch Christ und musste und konnte so beide Sphären miteinander in Einklang bringen.
Für den christlichen Strafrichter versuchte Augustinus das Problem dadurch zu entschärfen, dass er an den angeblichen römischen Grundsatz erinnerte, dass Strafgesetze ohnehin milder anzuwenden seien, und indem er stoisches Gedankengut heranzog, das dem Römischen Denken gelegen kam und auf einer Linie mit der christlichen Lehre lag; darauf werde ich noch näher eingehen.
6. Zeitliche und emotionale Belastung durch die Richtertätigkeit
Nach Possidius agierte Augustinus bei der „audientia episcopalis“ gewissenhaft und sorgfältig; er nahm sich für die Anliegen seiner Diözesanen Zeit und saß manchmal bis abends ohne zu essen zu Gericht. Er sah die Richtertätigkeit kurz als „heilige Pflicht und schwere Last“ an: - sehr zeitaufwendig, zudem mit Bitten und Beschwerden, die ihm nicht selten gegen den Strich gingen. Klagen des Kirchenvaters über diese Belastung durch die Richtertätigkeit gibt es zuhauf, aus Zeitmangel verzichte ich auf einschlägige Zitate, obwohl sie plastisch und unterhaltsam wären und als solche schon einen ganzen Vortrag füllen könnten.
Augustinus’ Schnelligkeit im Denken und Schreiben, sein praktisches Organisationstalent und sein gekonnter Umgang mit allen möglichen Institutionen sind über jeden Zweifel erhaben. Warum dies bei ihm in der Rechtspflege anders gewesen sein sollte, ist nicht ersichtlich: Wenn die „audientia episcopalis“ ihn also stark zeitlich einspannte, lag der Grund jedenfalls nicht darin, dass er die dafür erforderliche Fähigkeit zur „effektiven Erledigung“ nicht besessen hätte. Natürlich gibt es den Rechtsgelehrten, der lange, tiefschürfende Abhandlungen schreiben, aber kein Urteil allgemeinverständlich und schlüssig in angemessener Zeit zu Papier bringen kann, oder noch allgemeiner: den exzellenten Theoretiker, der im alltäglichen Leben kläglich versagt. Solche Menschen gibt es, aber in diese Schublade können wir Augustinus beim besten Willen nicht stecken!
Im Gegenteil: Gerade seine Ausbildung zum Rhetoriker, die damals stark an das Recht und dessen forensische Durchsetzung orientiert war, und seine Berufserfahrung als Rhetoriklehrer bildeten eine gute Grundlage für die spätere Richtertätigkeit; sie prädestinierten ihn geradezu – um diesen augustinischen Terminus zu gebrauchen.
Auch dafür, dass Augustinus infolge seiner sorgfältigen, dezidierten „audientia episcopalis“ in diesem Bereich eine Sogwirkung auf Christen und Heiden benachbarter Städte ausgeübt hätte, gibt es nicht genügend Anhaltspunkte; dies hätte er auch aus Solidarität mit seinen Mitbrüdern nicht hingenommen, wie er einmal am Rande erwähnt.
Allerdings mag ein Grund für Augustinus’ starke Belastung durch die „audientia episcopalis“ gewesen sein, dass Hippo eine große Hafenstadt mit vielen Kaufleuten und Seeleuten war und daher viele und vielfältige Rechtsstreitigkeiten anfielen. Möglicherweise wurden andere Bischöfe wegen ihrer mangelnden Fähigkeiten auch nicht so stark in Anspruch genommen wie Augustinus und brauchten so weniger Zeit für die „Sitzungstätigkeit“. Im Übrigen erfüllten die meisten Bischöfe – verzeihen Sie mir den Ausdruck – „nur“ ihre Aufgaben als Ortsbischöfe, betätigten sich aber weder schriftstellerisch noch kirchenpolitisch auf regionaler Ebene. Daher ist es nur verständlich, dass sie die Belastung durch die „audientia episcopalis“ anders als Augustinus nicht beklagten.
Quintessenz: Augustinus’ Klage über die Belastung durch die „audientia episcopalis“ ist echt; sein Vergleich mit den „Zeittropfen“ („guttae/stillae temporis“) ist keineswegs überzogen, den er manchmal zur Rechtfertigung seiner Säumigkeit für bestimmte Maßnahmen heranzieht. Seine berühmte Klage im Werk über die Handarbeit der Mönche (Stichwort: lieber Handarbeit neben Gebet und Ruhe im Kloster als bischöfliche Richtertätigkeit) hatte allerdings eine andere Funktion, auf die ich aus Zeitmangel leider nicht eingehen kann.
7. Warum keine schnellere Erledigung der Richtertätigkeit?
Wenn die „audientia episcopalis“ für Augustinus zeitaufwendig war, er aber die Fähigkeit hatte, zügig zu denken, prägnant zu formulieren und gut zu organisieren, fragt es sich indes, warum er nicht alles daran gesetzt hat, den Aufwand für die „audientia episcopalis“ zu verringern, um sich wichtigeren Dingen, der Schriftstellerei „über Gott, die Welt und die Seele“, zu widmen? Diese Frage drängt sich geradezu auf, und in der Tat haben kluge Köpfe schon vor Jahren die Frage aufgeworfen, ob das Genie Augustinus seine genialen Fähigkeiten nicht für alle möglichen Alltagsquerelen in der afrikanischen Provinz geradezu „vergeudet“ hat, in der gut 200 Jahre später ohnehin nichts mehr an Rom und an das Christentum erinnerte.
Warum lamentierte Augustinus nur über die Belastung durch die „audientia episcopalis“, die ihm die Zeit nahm, über Themen zu schreiben, die ihm unter den Nägeln brannten? Warum verwarf er nicht einfach Unbegründetes kurz und bündig, warum sprach er nicht Zutreffendes apodiktisch zu? Warum stellte er in Rechts- und Beweiswürdigungsfragen nicht sofort auf das Wesentliche ab und warum drängte er nicht so sehr mit bischöflicher Autorität schnell auf eine Schlichtung? Auch eine solch zügige Durchführung der „audientia episcopalis“ hätte dem Gebot des Apostel Paulus Genüge getan.
Jeder Justizpraktiker weiß, wie verschieden Richter trotz einheitlicher Prozessordnung agieren, ohne dass es Unterschiede in der Gründlichkeit oder im Ergebnis gibt: Der eine ist zügig und knapp, der andere lässt die Zügel schleifen, wieder andere sind langatmig. Warum nahm Augustinus sich so viel Zeit für die „audientia episcopalis“, obwohl er es auch – ohne Substanzverlust – hätte kürzer machen können? Diese Frage hat mich als Justizpraktiker immer wieder in ihren Bann gezogen. Ich biete Ihnen drei Antworten zur Auswahl.
Die erste Antwort stützt sich Possidius und van der Meer: Die „audientia episcopalis“ wurde von Augustinus in ihrer Gesamtheit, auch im Sektor Streitschlichtung und Streitentscheidung, als Seelsorge aufgefasst, die für ihn halt einen hohen Stellenwert hatte. Diese „cura animarum“ wird im modernen Kirchenrecht etwa von Markus Graulich als Kriterium für die Auslegung und für die Gesetzesanwendung neben dem Allgemeinwohl, dem „bonum commune“, immer mehr betont, und zwar völlig zu Recht. – Beides lässt sich juristisch formuliert im Wege der teleologischen Auslegung und als entscheidende Ermessenskriterien realisieren. Recht und Rechtsanwendung sind halt kein Selbstzweck, sondern haben eine dienende, wenn auch für Frieden und Gerechtigkeit elementare Funktion, wie auch schon Augustinus erkannt hat – aber dazu noch später!
Die zweite Antwort stellt Augustinus’ persönlichen Lebensweg in den Vordergrund, den er in den Confessiones eindrucksvoll dargestellt hat: Entgegen seiner Lebensplanung nach der Bekehrung wurde er nicht Schriftsteller in einer christlichen Gemeinschaft, um antikes Gedankengut und Wissen ins nächste Jahrtausend zu retten und um Glauben und Vernunft miteinander zu versöhnen. Das wäre sein Lebenstraum gewesen; er hat ihn nur kurze Zeit praktiziert. Dann aber wurde er zum Bischof in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo „auserkoren“. Er kehrte kein einziges Mal nach Italien zurück, unternahm aber kirchenpolitisch immer wieder viele lange, beschwerliche Reisen durch Nordafrika und wirkte mit seinem Freund, Bischof Aurelius von Carthago, auf vielen Konzilien zusammen. Sein Bischofsamt übte er pflichtgemäß bis drei/vier Jahre vor seinem Tode aus, dann sichtete er sein Werk in den sehr interessanten Retractationes. Er blieb in Hippo und starb dort während der Belagerung durch die Vandalen, ohne seine Gemeinde im Stich zu lassen. Er nahm die göttliche Vorsehung ernst und versuchte nach besten Kräften seine Aufgabe als Bischof und Hirte bis zuletzt in Hippo zu erfüllen.
Daher hätte Augustinus selbst sich über die Frage, warum er die „audientia episcopalis“ eigentlich nicht reduzierte, um mehr Zeit für das Schreiben zu bekommen, sicherlich gewundert: Er war eben nicht philosophischer und theologischer Schriftsteller, dazu noch Bischof, sondern er war Bischof, der halt auf Grund seiner persönlichen Fähigkeiten immer wieder herausgefordert wurde, zu Zeitfragen, aber auch zu Grundfragen der menschlichen Existenz Stellung zu nehmen. Dies war seine Bestimmung. Die damit verbundene Belastung sah er als gottgegeben und notwendig an, auch wenn er darüber oft vehement Klage führte: Es ist also keineswegs so, dass Augustinus alles stillschweigend duldend hinnahm, sondern er beklagte sich bitterlich – zugleich aber nahm er diese Situation an – ein Phänomen, auf das ich noch näher eingehen werde.
Als dritte Antwort stelle ich folgendes in den Raum: Augustinus war kein Denker im Elfenbeinturm; in seinem Schrifttum zeigt sich zwar eine ausgeprägt-idealistische Sicht, wie sie sich für einen Neuplatoniker ziemt, aber auch ein gesunder Menschenverstand und ein vernünftiger Pragmatismus. Er hatte zwar Themen, die ihn zeitlebens immer wieder beschäftigten, ansonsten aber hat er sich nie nach Themen und Streitfragen gedrängt; sie wurden ihm meist offeriert, zugetragen, zugespielt, aufgezwungen – wie immer Sie wollen – und „mussten“ dann von ihm abgehandelt werden. Er war nie ein Einzelgänger, sondern liebte die Gemeinschaft im Bischofshaus, aber er brauchte auch den Kontakt zu seinen Schafen, wie es sich für einen Bischof gehört: Diesen Kontakt konnte er auch durch die „audientia episcopalis“ pflegen. Bloß gibt es dazu meines Wissens keine Äußerungen von ihm; wir können nur spekulieren.
Wichtig ist, dass wir uns die „audientia episcopalis“ lebensnah vor Augen halten, wo der Bischof ein Ohr für seine Schäfchen hatte. Hier wurde das volle Leben an ihn herangetragen; hier erfuhr er immens viel, meist spontan und durchweg ungefiltert, wenn auch gelegentlich einseitig dargestellt – Papst Franziskus spricht vom Geruch der Schafe, den der Hirte kennen muss. Augustinus konnte also die „audientia episcopalis“ aktiv seelsorgerisch nutzen, um außerhalb von Gottesdiensten das Evangelium zu verkünden, aber auch gewissermaßen passiv aus ihr Erkenntnisse für seine Schriftstellerei gewinnen. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob er dies bewusst/gezielt anstrebte. Auf jeden Fall aber ist es völlig lebensfremd anzunehmen, dass er sich nach getaner Arbeit als Bischofsrichter abends in sein Scriptorium zurückzog und die Eindrücke des Tages, die Erfahrungen mit seinen Schäfchen einfach abhaken, hinter sich lassen konnte.
Für uns Moderne ist natürlich die Frage berechtigt, was Augustinus alles noch hätte schreiben können, wenn er seine kostbare Zeit nicht für die „audientia episcopalis“ hätte aufwenden, um nicht zu sagen hätte „vergeuden“ müssen. Auf der anderen Seite fragt es sich aber auch, wie manches in Augustinus’ Schrifttum ausgesehen hätte, wenn er sich nicht so intensiv der „audientia episcopalis“ gewidmet hätte: Hat der Zeitaufwand sich vielleicht sogar ausgezahlt für seine Schriften, Predigten und Briefe – indem sie ihm Einblicke in das tägliche Leben seiner Diözesanen vermittelte, die ihm Liturgie, Predigten und Konzilien nicht geben konnten? Brauchte er manchmal Dialoge, um sinnvoll monologisierend predigen oder schreiben zu können?
Lassen wir es dabei bewenden. Ich überlasse Ihnen die Entscheidung, welche der drei vorstehenden Optionen Ihnen mehr einleuchtet; vielleicht gelangen Sie auch zu dem gar nicht so abwegigen Ergebnis, dass alle drei zutreffend sind oder zutreffend gewesen sein mögen – mit dieser Ungewissheit sollten wir in Augustinus’ Fahrwasser gut leben können!
8. Interessante augustinische Aussagen zu Gerechtigkeit und Rechtspflege
Die Darstellung „Augustinus als Richter“ wäre höchst unvollständig ohne Wiedergabe einiger augustinische Zitate, die seine Richtertätigkeit beleuchten. Aus Zeitmangel möchte ich nur folgende herausstellen, die Sie im Handout in derselben Reihenfolge finden.
a.
Ausgangspunkt ist das berühmte Zitat ciu. IV, 4, (Übersetzung Perl, Augustinus, Der Gottesstaat, 1979, S. 23) (Handout 1): „Was sind … Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden, da doch Räuberbanden auch nichts anderes sind als kleine Reiche?“ Augustinus hielt die „iustitia“ für ein Essentiale eines „guten“ Staates. Ob er sie allgemein als ein viertes Element des Staatsbegriffs (neben Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt) ansah, ist indes zweifelhaft; es gab auch für ihn sog. Schurkenstaaten, und Staaten ohne Gerechtigkeit waren für ihn nichts anderes als Räuberbanden, wie die zitierte Episode des Treffens eines Seeräubers mit Alexander dem Großen zeigt. Immerhin erweist der Bischofsrichter mit der Hervorhebung der „iustitia“ seiner platonisch-idealistischen Färbung Reverenz.
b.
Der hohe Stellenwert der Gerechtigkeit für einen guten Staat ist jedoch nur die eine Seite der Medaille; zur anderen Seite, der Verwirklichung dieser Gerechtigkeit in der Realität, muss ciu. XIX , 6 (Übersetzung Thimme Bd. II S. 538) (Handout 2) unbedingt mitberücksichtigt werden: „Und wie steht es mit der Rechtsprechung von Menschen über andere Menschen, die ja im Staate auch bei dauerndem Friedenszustand nicht fehlen darf? Wie kümmerlich ist sie doch, wie beklagenswert. Denn die, welche das Urteil fällen, können denen, über die sie urteilen, nicht ins Herz sehen.“
Wir haben es also bei einem guten Staat mit einer Trias zu tun: Rechtsprechung => Gerechtigkeit => Frieden. Die irdische Rechtspflege ist allerdings kümmerlich/beklagenswert („misera, dolenda“), weil Menschen anderen Menschen nicht ins Herz sehen können; wir würden heute sagen, man kann anderen nur bis vor den Kopf gucken, nicht weiter! Augustinus bekennt sich damit zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtspflege – wie von einem Richter/auch von einem Bischofsrichter nicht anders zu erwarten, beklagt aber dennoch ihren Zustand, ihre begrenzten Möglichkeiten. Also ein überzeugter Gerechtigkeitsfan, aber enttäuscht von deren Realisierung, ohne indes zu resignieren, sondern mit dem Mut, weiter zu kämpfen. Wer erinnert sich da nicht an den Mythos des Sisyphus von Albert Camus, eines späten Landsmanns von Augustinus, der in vielerlei Hinsicht anders dachte, aber immerhin seine Diplomarbeit über Augustinus geschrieben hatte. Gibt es etwa trotz aller Unterschiede jedenfalls mentale Gemeinsamkeiten?
c.
Unabhängig davon möchte ich nur der Vollständigkeit und wissenschaftlichen Ehrlichkeit halber noch ein Augustinus-Zitat richtigstellen: ciu. XIX, 6 (Übersetzung Perl S. 455) (Handout 3): ): „Die Unwissenheit des Richters ist sehr oft das Verderben des Unschuldigen.“ Dieser Spruch dürfte bei manchem Justizgeschädigten auf begeisterte Zustimmung stoßen. Im Zusammenhang wird allerdings deutlich, dass hier nicht die Dummheit, die Unerfahrenheit des Richters gemeint ist, sondern dass der Richter sich oft nur schwer ein Bild vom entscheidungserheblichen Sachverhalt machen kann – was sich – bei Nichtbeachtung der Unschuldsvermutung und falscher Interpretation von Folterfolgen durchaus zum Unglück des tatsächlich Unschuldigen auswirken kann.
d.
Aber nehmen wir doch ein anderes Thema, das zumindest ein Licht auf den Bischofsrichter Augustinus wirft: Wie stand er zu Sinn und Zweck von Strafen, die er entweder kirchenintern gelegentlich verhängen musste oder mit denen er zu tun hatte, wenn um seine Intervention bei staatlichen Stellen gebeten wurde?
Augustinus’ Credo findet sich dazu in s. 13,8 (Handout 4): „Strafen sollen verhängt werden. Dagegen habe ich keine Einwendungen, dem widerspreche ich nicht, aber es muss geschehen mit der Gesinnung des Liebenden, mit dem Geist der Wertschätzung, mit dem Ziel der Besserung.“ Laut Augustinus erfordert jedes Zusammenleben Regeln; wenn diese verletzt werden, muss eine Sanktion erfolgen. Diese soll nicht nur die Geltung der Regel untermauern, sondern auch einem erneuten Regelverstoß (durch den Täter oder Nachahmer) vorbeugen. Insofern hatte die Bestrafung – modern ausgedrückt – schon damals auch einen negativ- und positiv-generalpräventiven Sinn. Ihn setzt Augustinus als selbstverständlich voraus, ohne ihn eigens zu erwähnen.
In ep. 95,3 (Übersetzung Hoffmann BKV2 IX, 387) (Handout 5) fragt er: „Was soll ich über das Strafen und Nichtstrafen sagen? Gewiss wollen wir, dass alles, was sich hierauf bezieht, denen zum Heile gereiche, die wir strafen oder nicht strafen zu sollen glauben.“ Augustinus vertritt hier – modern gesprochen – eine spezialpräventive Sicht der Strafe; kaum zu glauben, dass diese Äußerungen über 1600 Jahre alt sind. Interessant aber auch, dass Augustinus nicht nur nach dem Sinn einer Bestrafung, sondern gleichberechtigt auch vom Sinn und Zweck eines Verzichts auf Strafe fragt. Diesen Aspekt hat die Strafrechtswissenschaft erst zu Anfang des letzten Jahrhunderts entdeckt.
Augustinus treibt die Sache aber noch auf die Spitze, wie ep. 153,17 (Übersetzung BKV2 X, 577 (93)) (Handout 6) zeigt: „Denn wie es bisweilen eine strafende Barmherzigkeit gibt, so gibt es auch eine schonende Grausamkeit.“ Hier zeigt sich die Kunst des Rhetorikers, aber auch die logisch-subtile Sicht des philosophischen „Richters im Nebenamt“: Eine Bestrafung mit Augenmaß ist stets gut; der Verzicht auf eine Bestrafung kann sinnvoll sein, aber dem Täter im Einzelfall auch die gebotene Hilfestellung zur Umkehr versagen.
Es gab damals auf der staatlichen Ebene – mangels Mittel und Masse – keinen gesetzlich verankerten Resozialisierungsauftrag wie im heutigen Strafvollzugsrecht. Augustinus bemüht hier aber aus christlicher Sicht subjektiv den „animus amantis, diligentis, corrigentis”, und fordert objektiv, dass die Strafvollstreckung dem Täter den Weg der Reue und Umkehr nicht versperren darf. Die so begründete, hervorgehobene spezialpräventive Ausrichtung der Strafe führt konsequenterweise zur Ablehnung der Todesstrafe, wie Augustinus sie zeitlebens vehement vertreten hat.
e)
Augustinus hat sich sowohl exegetisch als auch forensisch oft mit Richtern befasst; im Augustinus-Lexikon legt Raikas dar, dass der Begriff des „iudex“ bei ihm forensisch meist negativ besetzt ist. Augustinus belässt es aber nicht destruktiv bei der Zuteilung negativer Eigenschaften für mehr oder weniger konkrete Richter, sondern er macht sich tiefgreifende Gedanken zur prozessualen Grundsituation; so stellt er in in ep. 153, 8/10 (Übersetzung BKV2 X, 569(85), 570f. (86f.) zunächst kurz, aber kenntnisreich die Hauptbeteiligten eines Strafverfahrens dar: „accusator“, „defensor“, „intercessor“ und „iudex“ – Ankläger, Verteidiger, Fürsprecher und Richter. Er mahnt: Wie alle Menschen sollen auch der Richter und die anderen Verfahrensbeteiligten sich vor der „superbia“, dem Hochmut, hüten und stattdessen die humilitas pflegen – zwei bei Augustinus immer wieder vorkommende Grund- und Gegensatzbegriffe – und – jetzt schlägt der Römer und Stoiker durch – auf die Einhaltung der „humanitas“ achten: also statt superbia humilitas und humanitas.
Und dann kommt praktisch der entscheidende Satz (s. Denis 14,4f., vgl. auch s. 47,5f.) (Handout 7): „Dass er selbst (auch nur) Mensch ist, sollte wissen, wer über einen Menschen urteilt. Ungleich ist die Würde, aber gemeinsam ist die Schwäche“ oder in s. 13,4 (Handout 8): „Es urteilt doch über seinesgleichen, ein Mensch über einen Menschen, ein Sterblicher über einen Sterblichen, ein Sünder über einen Sünder.“
Mit dieser Grundaussage schafft Augustinus eine Plattform zur Entwicklung seines eigenen Richterbildes: Ungleich ist die „dignitas“ (die Stellung, der Rang), gleich aber ist die Schwäche im Wissen und Wollen, dazu kommt die Endlichkeit, die Sterblichkeit. Dieses Wissen um die conditio humana, die Praktizierung von Menschlichkeit und Demut auf Seiten von Richter, Ankläger, Verteidiger, Fürsprecher und Angeklagten sollten die Rechtspflege prägen. So wird der „Eifer des Anklägers“ („accusatorius dolor“) und die „Strenge des Richters“ („iudicatorius rigor“) „gebrochen“.
Erstaunlich ist, dass Augustinus überhaupt so tief in das nach seiner Ansicht richtige Selbstverständnis des Richters einsteigt, was man bei heutigen Richtern nicht unbedingt vorfindet und im Übrigen auch rechtswissenschaftlich (aus mehreren Gründen) eine terra incognita ist. Dass es bei Augustinus anders war, liegt wahrscheinlich daran, dass er gerade kein gelernter Jurist und gerade kein hauptamtlicher Richter, sondern primär Philosoph, Theologe und Seelsorger war. Darüber hinaus erstaunt es, wie prägnant und rhetorisch perfekt er das Verhältnis zwischen Richter und Angeklagtem darstellt: formal unterschiedlich, materiell gleichartig und höchst menschlich, teils distanzierend, teils verbindend – in jedem Fall aber die beste Voraussetzung für den Ausschluss der „superbia“ und die Gewährleistung der „humanitas“.
f.
Augustinus belässt es aber nicht bei dieser allgemeinen Schilderung, sondern er stellt auf ihrer Basis auch spezielle Empfehlungen zur Ausübung des Richteramtes auf – leider nicht in einem eigenen Buch etwa mit dem Titel „De iudice christiano“, sondern weit verstreut in seinem Schrifttum.
Fangen wir mit der Aufforderung: „Prius iudica in te“ s. 13, 7 an (Handout 9): „Zuerst sei deinetwegen Richter gegen dich. Zuerst urteile über dich, dann geh – deines Inneren sicher – auf den anderen zu! Kehre in dich selbst zurück, achte auf dich, nimm dich auseinander, höre auf dich! Ich will, dass du dort als unbestechlicher Richter prüfst, wo du keinen Zeugen befragst.“
Immer wieder findet sich auch die Aufforderung, dem Angeklagten die Möglichkeit zur Reue und Umkehr zu erhalten, z.B. in mend. 22 (Übersetzung Keseling S. 32) (Handout 10): „Es ist aber ein Grundsatz der christlichen Sittenlehre, weder an der Besserung eines Mitmenschen zu verzweifeln noch ihm den Zugang zur Reue zu versperren.“
In Abwandlung des allgemeinen Grundsatzes „Dilige et quod vis fac“ erklärt Augustinus in s. 13,9 (Handout 11): „Diligite et iudicate! – Liebt und (ver)urteilt!“ mit der Ergänzung in s. 13,8 (Handout 12): „Wenn er im Herzen diese Liebe bewahrt, ist der Mensch ‚Richter auf Erden‘ gegenüber den Menschen und liebe es, zu erschrecken, aber liebe!“ „Ama terrere“ als Empfehlung an Richter und als Ergänzung des „dilige“ lässt auf einen großen Erfahrungssschatz des Bischofsrichters Augustinus schließen: Er war nicht blauäugig, er kannte seine Pappenheimer!
Ich hoffe, ich habe mit diesen Zitaten Ihr Interesse für den Bischofsrichter Augustinus geweckt. Aus den erwähnten negativen Richter-Attributen im AL und den vorstehenden Ratschlägen könnte man sogar ein umfassendes Richterbild entwerfen, das über die heutigen allgemeinen justiziellen Beurteilungskriterien und Rechtsprinzipien weit hinausgeht und weit mehr Substanz hat – aber dies wäre ein eigenständiges Vortragsthema.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.