Das Würzburger Zentrum für Augustinusforschung befasst sich mit dem Einfluss des Kirchenlehrers auf moderne Philosophen. Ein Bericht der überregionalen katholischen Wochenzeitung Die Tagespost. Von Regina Einig.
Liegt die Gottsuche in der DNA des Menschen? Der heilige Augustinus (354-430) war davon überzeugt, dass der Mensch keinen inneren Frieden findet, ehe er in Gott zur Ruhe kommt. Als prägender christlicher Denker der Antike beeinflusste er die Geistesgeschichte von anderthalb Jahrtausenden. Markus Enders (Freiburg) beschrieb die Rezeptionsgeschichte des Bischofs von Hippo kürzlich beim Studientag des Würzburger Zentrums für Augustinusforschung am Beispiel des Werks von Karl Jaspers (1883-1969). Der deutsch-schweizerische Psychiater und Philosoph habe Augustinus neben Platon und Kant als einen der drei „fortzeugenden Gründer des Philosophierens“ im abendländischen Denken charakterisiert. Wirklich bedeutend sind Jaspers zufolge Philosophen, deren Wirkungsgeschichte aufgrund der Fülle ihres Werkes nicht vergeht, sondern stets gegenwärtig bleibt. Überzeitliche Bedeutung erhält ein Denker nicht allein durch intellektuelle Leistung, sondern durch die Transzendenz seiner Gedanken. Wer in Leben und Werk die Ewigkeit berühre, werde zu einer Gestalt, „die grundsätzlich zu aller Zeit, zu jedem zu sprechen vermag“. Dass Augustinus nicht allein als Denker fesselt, sondern auch durch sein Ringen mit der Gottesfrage eine religiöse Identifikationsfigur darstellt, qualifiziert ihn quasi zum unvergänglichen Zeitgenossen. Enders hob die Bedeutung der Bekehrung Augustins hervor: Mit gutem Grund habe Jaspers behauptet, dass diese die Voraussetzung des augustinischen Denkens sei. Die Bekehrung habe eine Denk- und Lebensweise bei dem Philosophen Augustinus grundgelegt, „die vom geglaubten Willen Gottes bestimmt gewesen sei“. Der biblische Gottesgedanke sei von ihm in eine christliche Philosophie überführt worden. Aus Jaspers Sichts hat sich die philosophische Leidenschaft des jungen Augustinus in „Glaubensleidenschaft“ verwandelt – eine Entwicklung, die Jaspers durchaus kritisch bewertete. Beten sei Augustins „Lebenszentrum“ geworden. Sein Gottesbild birgt eine Dynamik – im Unterschied zu dem „ruhenden Einen“ eines Neuplatonikers wie Plotin (204-70).
Zugleich unterstellt Jaspers Augustinus einen falschen kirchlichen Autoritätsglauben sowie die stille Ächtung einstiger Kollegen – kurz: eine „Umwendung vom Denken zum Glauben“: Durch die Hinwendung zur Glaubenserkenntnis sei an die Stelle der früheren Wertschätzung der Philosophie Geringschätzung getreten. Augustins gesamtes Werk sei für Jaspers durchsetzt mit dem Aberglauben, den man „Volksfrömmigkeit“ nenne. Dass Jaspers aufgrund seines eingeschränkten Personalitätsbegriffs das Denken des bekehrten Augustinus nicht zutreffend bewertete, veranschaulichte Enders unter anderem am Verständnis der Willensfreiheit des Menschen und der Gottesliebe.
Gleichwohl ließ die Frage nach Gott Jaspers nicht los: Malte Unverzagt (Oldenburg) wies darauf hin, dass Jaspers Theologie als einen „unverzichtbaren Impuls“ für die Philosophie betrachtet habe und in der Auseinandersetzung mit ihr Klärungen zu gewinnen suchte für seine Vorstellung von einem „philosophischen Glauben“. Dieser solle nur auf Wissen ausgerichtet sein und besitze daher keinen Glaubensinhalt. Glaube bedeute für Jaspers die Fähigkeit, „sich uneingeschränkt gegenseitig zu verständigen“. Statt der Suche nach einer geoffenbarten unvergänglichen Wahrheit, die Augustinus umtrieb, steht ein Konsens mit Verfallsdatum im Vordergrund. Der philosophische Glaube, so Unverzagt, sei „der Glaube, der sagt: ,Wahrheit ist, was uns verbindet‘.“
Ein Fragezeichen ist auch hinter Jaspers Vorstellung von der „absoluten Einsamkeit der Seele“ zu setzen, an die Augustinus den Leser angeblich heranführe – und an dem sich das Denken selbst überschreite. Just der Bischof von Hippo war der Auffassung, dass Gott dem Menschen näher sei als er sich selbst, was der Jasper´schen Vorstellung widerspricht. Dass Philosophie sich in Form von „confessiones“ vor dem Hintergrund von Selbstzweifeln zu vollziehen hat, ist jedoch ein Gedanke, der Augustinus in der Moderne anschlussfähig macht.
Rico Gutschmidt (Konstanz) veranschaulichte an der Auseinandersetzung Martin Heideggers (1889-1976) mit der Autobiografie Augustins, wie stark die innere Erfahrung des Heiligen Heideggers Begriff der „Selbstwelt“ geprägt habe. Der antike Denker, der „sich selbst zur Frage“ wurde, bot Heidegger im Ringen um Eigentlichkeit ohne Zerstreuung reichlich Stoff zum Nachdenken über Begriffe wie „Versuchung“, „Zerstreuung“, „heilige Angst“ und „knechtische Furcht“. Auch Hannah Arendt (1906-75) nahm in Augustinus die Problematik des modernen Menschen wahr. Frauke A. Kurbacher (Berlin) beleuchtete die Kritik Arendts an Augustins Liebesbegriff. Während der Autor der „Bekenntnisse“ die Selbstverleugnung zugunsten der Gottesliebe anstrebe, kehre Arendt die von Augustinus gesetzten Vorzeichen um: „Nicht die Weltlosigkeit als einen Vorlauf auf das im Jenseits erwartete Sein bei Gott wird erstrebt, sondern gerade die Welthaftigkeit, die jeden an die ,vita socialis‘ zurückbindet.“ Der Liebesdiskurs bei Arendt, so Kurbacher, finde sich vor allem in der Kritik an Augustinus in einem Weltbegriff und seinem Gegenteil, der Weltentfremdung. Dass die Philosophin Weltentfremdung als „Kennzeichen der Neuzeit“ betrachtete, mag den leidvollen Erfahrungen zahlloser Menschen in totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts entsprechen. Sibylle Schulz (Würzburg) zeichnete am Beispiel des Scheler-Schülers Paul Ludwig Landsberg (1901-44) das Porträt eines akademischen Wahrheitssuchers nach. In seiner Dissertation über die platonische Akademie habe er diese als „Prototyp der Wahrheitssuche“ dargestellt und ihr zugleich Defizite bescheinigt, da sie von der Autonomie des Menschen ausgehe. Erst mit Augustinus beginne eine „heteronome Kirchenphilosophie“, die sich demütig als Magd des Glaubens verstehe.
Quelle: © ‹Die Tagespost – Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur› vom 11.07.2024, S. 12
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