ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Warum der heilige Augustinus bis heute fasziniert – Ein Gespräch mit Christof Müller, Leiter des Zentrums für Augustinusforschung an der Universität Würzburg Von REGINA EINIG

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MuellerChristof 227Prof. Dr. Christof Müller (ZAF)Herr Professor Müller, Sie arbeiten mit einem jungen Team wissenschaftlich über Augustinus. Was fasziniert Sie an ihm?

Zur Augustinus-Forschung bin ich zunächst über meinen langjährigen akademischen Lehrer Petrus Cornelius Mayer OSA gestoßen, den Gründer und Nestor des Zentrums für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg (ZAF). Peu a peu verwandelte sich dann die zunächst von außen her angeregt Motivation in ein inneres Interesse: Augustins Leben, Schreiben und Denken sowie seine gewaltige Wirkungsgeschichte bieten eine Fülle von Elementen und Dimensionen, an denen man sich festbeißen und an denen man sich begeistern kann. Mich selbst beeindrucken zum einen die Breite der augustinischen Bildung und die Schärfe seines Denkens; zum zweiten fasziniert mich die geistige und seelische Sensibilität seiner Selbst- und Weltwahrnehmung; zum dritten empfinde ich Augustins Mut und Kraft zum Spekulativen als bewundernswert; viertens und letztens möchte ich noch die Einheit von Theorie und Praxis bei Augustinus betonen: Ich erfahre ihn in weiten Teilen seines Schreibens und Lebens als „authentisch“.

Der Ruf zur Umkehr ist ein Leitmotiv von Papst Franziskus. Welche Gedanken der Confessiones sind Ihrer Auffassung nach heute besonders aktuell?

„Bekehrung“ ist ein entscheidendes Schlüsselmotiv der Confessiones – Bekenntnisse, dieser zur Weltliteratur gehörenden Schrift des jungen Bischofs Augustinus, in der er einerseits seine geistige, seelische und spirituelle Entwicklung bis hin zu seiner (Wieder-)Entdeckung des christlichen Glaubens und seiner Taufe erzählt und andererseits, damit engstens verwoben, eine umfassende Theologie der Macht und der Liebe Gottes vorlegt. Das vorwiegend in den Confessiones verarbeitete Bekehrungs-Motiv scheint mir mindestens in fünffacher Weise wegweisend zu sein: 1. Augustin redet nicht abstrakt-spekulativ, sondern erfahrungsgesättigt von Bekehrung; 2. Bekehrung wird nicht als moralische Anstrengung, sondern als „Von-Gott-gepackt-Werden“ verstanden; 3. trotz der Subjektrolle Gottes ist die Bekehrung des Menschen nicht dessen Entmündigung und Entfremdung, sondern dessen „Zu-sich-selbst-Kommen“, dessen Beglückung; 4. obwohl der Bekehrte den Sinn seines Lebens „gefunden“ hat, ist er existenziell und religiös gleichwohl weiterhin auf der Suche und „auf dem Weg“. Dazu kommt natürlich das Spezifikum des theologischen Genies des Augustinus, „Bekehrung – conversio“ nicht nur als spirituelle, sondern auch als ontologische und kosmische Größe zu entfalten und den Menschen damit als Teil der universalen Schöpfungs- und Erlösungsgeschichte zu begreifen.

Hat Augustinus unserer vom Kampf der Kulturen zermürbten Zeit eine Botschaft zu vermitteln?

Augustinus hat als Zeitgenosse der Spätantike selbst in einer Epoche gelebt, die von weltanschaulichem und religiösem Pluralismus geprägt war, der nicht selten die Form von „Kulturkampf“ angenommen hat. Bemerkenswert ist der Versuch Augustins, in dieser Gemengelage zwei mögliche Fehlhaltungen zu vermeiden: Relativismus und Dogmatismus. Viele Zeitgenossen Augustins zogen aus der Pluralität von Sinnsystemen die Konsequenz, sich von der Wahrheitsfrage zu verabschieden und Pragmatismus zum Lebensprogramm zu erheben: „Brot und Spiele“, und ansonsten „jedem Tierchen sein Pläsierchen“. Augustinus hingegen will Menschsein nicht auf diese Existenzform reduziert sehen, sondern an den „großen Fragen“ festhalten. Bei seiner Wahrheitssuche bleibt er jedoch offen für Argumente – christlicher Glaube ist für ihn keine Absage an Vernunft und an Dialog.

Gibt es in der Augustinusforschung noch unerschlossene Felder?

Da das Leben Augustins sehr bewegt, sein Schrifttum äußerst umfangreich und sein Denken sehr komplex ist, stellen sich der Augustinus-Forschung auch nach Jahrhunderten wissenschaftlichen Bemühens noch bislang unbeantwortete Fragen. Weiterhin gibt es etliche Werke Augustins, die noch nicht in einer philologisch befriedigenden Textausgabe – geschweige denn deutschen Übersetzung – vorliegen. Darüber hinaus ermöglicht gerade die Komplexität des augustinischen Denkens eine enorme „Anschlussfähigkeit“ seiner Philosophie und Theologie für die verschiedensten modernen Wissenschaftsdisziplinen und ihre Entwicklungen. So finden sich in den letzten Jahren interessante Korrelationen von augustinischem Denken mit Sprachtheorie und Hermeneutik, aber auch mit Physik (zum Beispiel zum Thema „Zeit“) oder mit Neurowissenschaften (etwa zum Thema „Freiheit“). Kurzum: Augustinus wird dem ZAF auch in den nächsten Jahrzehnten Arbeit – und hoffentlich Brot – geben.

Worin sehen Sie den Gewinn der Augustinus-Studientage, die das Zentrum seit Jahren mitveranstaltet?

Die Augustinus-Studientage werden seit 2003 jährlich vom ZAF in Zusammenarbeit mit der Universität Würzburg sowie einzelnen Vertretern anderer Universitäten oder Akademien ausgerichtet. In der Regel handelt es sich um interdisziplinäre Veranstaltungen mit mehreren Referaten und Diskussionseinheiten, die sich an einem bedeutenden Rahmenthema aus dem Bereich des augustinischen Denkens orientieren, wie „Frau“, „Ethik“, „Zeit“, „Gnade“ oder zuletzt „Dialog“. Adressaten der Studientage sind neben Lehrenden und Lernenden der akademischen Landschaft auch interessierte Laien; gerade die Diskussionsrunden eröffnen die Möglichkeit, über den Expertendisput hinaus eigene Nachfragen und Anfragen an die Referierenden, letztlich an Augustinus selbst zu stellen. Die bisherige positive Resonanz ermutigt die Veranstalter, die Augustinus-Studientage auch zukünftig als eine feste Größe des Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsstandortes Würzburg zu kultivieren. Zusätzlich sorgt die Publikation der Referate in Sammelbänden dafür, dass die Erträge der Veranstaltungen über die Region hinaus wenn nicht gehört, so doch gelesen und rezipiert werden.

Trauen Sie den Werken des Augustinus zu, heute Brücken in die säkularisierte Gesellschaft zu schlagen?

Etliches der Schriften und des Denkens Augustins ist tief im christlich-kirchlichen Milieu und im theologischen Diskurs verwurzelt und daher – abgesehen von seiner geschichtlichen Bedeutung – nur schwer in den Kontext einer in vielerlei Hinsicht „nachchristlichen“ Gegenwart hinein zu übersetzen. Auf der anderen Seite finden wir in Augustins weit gespreizten Intentionen, Themen und Sprachstilen immer wieder Texte, die auch Menschen unserer westlichen Gegenwartswelt anzusprechen vermögen. Modern beziehungsweise besser: „postmodern“ ist Augustinus unter anderem insofern, als uns hinter und zwischen den Zeilen – bisweilen auch auf den Zeilen – so mancher seiner Werke die Frage nach dem „Ich“ und seinem Lebenssinn entgegenspringt. Nicht nur in seinen philosophischen Frühdialogen oder in seinen Confessiones, sondern auch in etlichen Predigten seiner mittleren und späteren Jahre begegnen wir der Frage nach der eigenen Innerlichkeit und ihren Bezügen, nach dem „guten“ und „glücklichen“ Leben, nach dem, was Menschsein unter den Bedingungen der Endlichkeit gelingen lässt. Und nicht nur derlei Fragen Augustins lassen den Zeitgenossen aufhorchen und einen Resonanzboden für sein eigenes Fragen finden, sondern sogar der Brennpunkt der augustinischen Antworten vermag so manchen sich säkular verstehenden Leser zum Nachdenken, vielleicht sogar zum Zustimmen zu bewegen. Für Augustinus besteht der letzte Urgrund, das tiefste Geheimnis und das höchste Ziel der Wirklichkeit und des Selbst nämlich in der „Liebe“ – wortwörtlich ein „Brennpunkt“, an dem sich ein spannender Dialog zwischen unserer Gegenwart und dem spätantiken Menschen und Denker Augustinus „entzünden“ kann.

Welchen Zugang zu Augustinus empfehlen Sie Studierenden?

So vielfältig Person, Werk und Wirkung Augustins sind, so vielfältig sind auch die Zugangsmöglichkeiten zum augustinischen „Kosmos“. Der historisch Interessierte wird einen anderen Zugang wählen als der philosophisch Interessierte, die Altphilologin wird andere Seiten reizvoll finden als der Theologe. Um einen ersten „allgemeinen“ Eindruck des Menschen und Denkers zu erhalten, rate ich in jedem Fall zu einer gegenseitigen Erhellung von Primärliteratur – das heißt einem augustinischen Werk (gerne auch in deutscher Übersetzung) – und Sekundärliteratur. Im Bereich der Primärliteratur empfehlen sich als Einstiegslektüre zum Beispiel De beata vita – Vom glücklichen Leben, De vera religione – Über die wahre Religion und die unvermeidlichen Confessiones, im Bereich der Sekundärliteratur die brillante Biografie des Historikers Peter Brown, Augustinus von Hippo, die philosophische Skizze von Johann Kreuzer, Augustinus zur Einführung, die kundige Charakterisierung der Altphilologin Therese Fuhrer, Augustinus, und der theologische Überblick von Wilhelm Geerlings, Augustinus. Und warum nicht als Ergänzung der Lektüre dieses oder jenes andere Medium heranziehen, zum Beispiel den im Jahr 2010 entstandenen epischen Spielfilm Augustinus oder eine der Augustinus-„Opern“ des Spätbarock (von Johann Adolph Hasse) oder der Gegenwart (von Wilfried Hiller oder Enjott Schneider)?!

Welche interdisziplinären Ansätze in der Augustinusforschung sollten vertieft werden?

Es gehört zu den – berechtigten und sinnvollen – Trends in der gegenwärtigen Augustinus-Forschung, Leben, Werk und Denken dieses Rhetors, Philosophen, Theologen, Kirchenpolitikers, Richters und Seelsorgers – um nur einige seiner „Rollen“ zu nennen – mit interdisziplinärem Instrumentarium zu untersuchen und zu interpretieren. So bereitet das ZAF gegenwärtig ein Langzeitprojekt zur Briefkorrespondenz Augustins vor, die nach wie vor einer umfassenden Kommentierung harrt, indem es Vertreter(innen) ganz unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Fächer an einen Tisch versammelt. Die Briefe von und an Augustinus schreien geradezu danach, von unterschiedlichen Perspektiven aus unter die Lupe genommen zu werden beziehungsweise die unterschiedlichen Perspektiven auf sie aneinander zu vermitteln. Philosophen und Theologen öffnen uns die Augen für die Inhalte der Epistulae, Altphilologen und Linguisten analysieren deren Form, Stil, Sprache, Historiker erschließen uns über den Text hinaus den „Kon-Text“ der augustinischen Korrespondenz – und das alles in einem fruchtbaren Miteinander, Zueinander und Ineinander. Die enorme Vieldimensionalität des Augustinus von Hippo muss offensichtlich auch in einer enormen Vieldimensionalität der Augustinus-Forschung ihre Entsprechung finden!

©‹Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur› vom 07.07.2016, Seite 7

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