ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Augustinus von Hippo: Lebens-Bild eines Gottsuchers
Vortrag in der Stadtpfarrkirche St. Augustinus in Dettelbach am 19. Mai 2011
Von PD DDr. Christof Müller

Bekehrung zum Christentum (386)
‹Gartenszene›: Augustins Bekehrung zum Christentum (S. Gimignano, Chiesa di Sant'Agostino. Benozzo Gozzoli, 1465).
Augustinus – ein großer Name in der Schar der Heiligen! Augustinus – schon früh als ‹sanctus› gepriesen, schon früh zur ‹Ehre der Altäre› erhoben!

Lassen Sie uns Wünsche und Ängste, Freuden und Leiden, Leben und Sterben dieses Heiligen als Altarbild mit drei Tafeln malen, als ein Triptychon! In der Mitte das eindringlichste Gemälde: die ‹conversio – Bekehrung›, Augustins lang ersehnter Durchbruch zu einem radikalen Gott-Anhangen. Auf dem linken Altarflügel: der von Irrungen und Wirrungen, aber auch von stetem Suchen gezeichnete Lebensweg eines Jungen von außerordentlicher Begabung. Auf dem rechten Seitenflügel: der Kirchenmann und Theologe Augustinus von Hippo; einer, der gefunden hat und doch immer weiter sucht; einer, der den Mitmenschen seinen Fund ‹mit-teilen›, seinen Fund mit ihnen teilen möchte.

Unser Altarbild besteht hauptsächlich aus Motiven, die den ältesten Lebensbeschreibungen Augustins entstammen: den von ihm selbst verfaßten ‹Confessiones – Bekenntnissen› sowie der Biographie ‹Vita Augustini – Leben Augustins› von Possidius, einem Freund des Bischofs. Schauen wir es uns also an, dieses Altarbild! Sehen wir auf seine großen Szenen, aber achten wir auch auf die kleinen Details, die dieses ‹Lebens-Bild› für uns so farbig und so anregend machen!
Linker Seitenflügel: der Suchende

Der linke Seitenflügel unseres Triptychons zeigt eine Fülle von Szenen: Szenen eines Kindes und jungen Mannes in Nordafrika, geboren im November 354 im Städtchen Thagaste (heute Algerien). Es sind aufregende Zeiten, in denen der braunhäutige Junge das Licht der Welt erblickt. Selbst hier in der Provinz spürt man den Wind von Veränderung, der das Weltreich Rom umhertreibt. Die alten Gewißheiten, gebaut auf Macht und Militär und auf Kunst und Kultur, sind ins Wanken geraten. Alte Gottheiten werden von den Säulen gestürzt, Tempel in christliche Kirchen umgebaut – und doch wollen viele den Wechsel der Staatsreligion nicht mitvollziehen, suchen Antworten auf ihre Lebensfragen im Götterkult der Alten, in exotischen Mysterien, in einer der zahlreichen Philosophenschulen – oder sie trösten sich von Tag zu Tag mit Brot und Spielen. Selbst unter Christen streitet man über den rechten Glauben: Wie kann Gott ein Einziger in drei Personen sein? Inwieweit war Jesus Christus Gott, inwieweit Mensch? Umfaßt die Kirche nur Helden und Heilige oder auch Schwache und Sünder? Und wer hat in ihr das Sagen? Die Bischöfe, der Bischof von Rom – oder etwa der Kaiser?

Von all diesen großen Fragen ahnt er freilich noch nichts, der kleine Aurelius Augustinus. Er ist zunächst nur ein einfacher Junge aus einfachen, wenn auch aufstiegsorientierten Verhältnissen. Sein Vater Patricius ist Veteran, stolz auf sein Römertum, seine Mutter Monnica hat punische Züge. Zur Hausgemeinschaft gehören noch ein Bruder und vermutlich zwei Schwestern. Die ‹familia› gilt als christlich: Zwar ist der ‹pater familias› religiös desinteressiert, doch die Mutter eine desto eifrigere Bekennerin, die den Kindern den Glauben ins Herz gräbt. Hören wir das Zeugnis Augustins selbst: «So begann ich schon als Knabe zu Dir (Gott) zu flehen, ... und ich betete – ich kleiner Mann mit großer Inbrunst –, daß ich doch in der Schule nicht geschlagen würde» (Confessiones 1,9,14).

Trotz gelegentlicher Schläge: Augustin ist ein hochtalentierter Schüler, gleichwohl kein ‹Streber›, sondern mit viel Sinn für Kameradschaft. Und dennoch nagt in seinem Herzen das Gefühl: ‹Das kann ja wohl nicht alles sein›: «Mein Gedächtnis war gut, im Sprechen war ich geschult, Freundschaft tat mir wohl; ... aus dem Unwissen versuchte ich mich herauszuarbeiten. ... Meine Sünde aber lag darin, daß ich Freude, Erhebung, Wahrheit nicht in ihm (Gott), sondern in seinen Geschöpfen, in mir und den anderen, suchte und so in Schmerz, Verwirrung und Irrtum versank» (Confessiones 1,20,31). Das Suchen und die Sehnsucht werden zu einem Signum seines Lebens, später auch seiner Spiritualität und seiner Theologie. Augustin bringt dieses Signum unnachahmlich auf den religiösen Begriff: «Du (Gott) hast uns zu Dir hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ausruhen kann in Dir» (Confessiones 1,1,1).

Blicken wir auf eine andere Szene, einige Jahre später: Patricius nimmt bei einem Besuch der öffentlichen Bäder mit Vaterstolz wahr, daß sein Junge Zeichen von Geschlechtsreife zeigt. Augustin selbst wird nach seiner ‹Bekehrung› die damals aufkeimende Vitalität und Virilität im Horizont seiner Sündenlehre weit düsterer malen: «Damals ... entbrannte ich ... und schämte mich nicht, mich wild in wechselnden ... Liebesspielen zu ergötzen» (Confessiones 2,1,1). «Dünste stiegen auf vom ... Strudel sich regender Männlichkeit und ... verfinsterten mein Herz, so daß das Heitere selbstloser Liebe vom Dunkel der Begierde nicht mehr zu unterscheiden war» (Confessiones 2,2,2). Es ist diese Sündenlehre, die zunächst amüsant erscheinende Episoden aus Augustins Jugendtagen in moralisches Dunkel schwärzt. Schauen wir nur auf die legendäre Begebenheit, als der Pubertierende mit seinen Kumpanen den Birnbaum des Nachbarn plündert. Augustins strenges Urteil in den ‹Confessiones›: «Nicht am Gestohlenen wollte ich meinen Genuß haben, sondern ... an der Sünde selbst» (Confessiones 2,4,9).

Eine weitere Darstellung auf der linken Seite unseres Triptychons: Augustin hat es mittlerweile dank Talent und Stipendium bis zum Studium in der wirbelnden Weltstadt Karthago gebracht hat. In Augustins Sinnen, Kopf und Herz wirbelt es ebenfalls! Theater und Tanz, Kameraden und Kokotten, und nicht zuletzt diese bunte Fülle an Büchern und Bildung, an Thesen und Theorien! Augustin ist begeistert und verwirrt; er ist noch immer auf der Suche – weiß er überhaupt, wonach? Später wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen: Ohne daß er selbst es ahnte, war er schon immer auf der Suche nach der Wahrheit, der ganzen Wahrheit, nach Gott: «Und wo war ich denn selbst, als ich Dich suchte? Du standest vor mir. Ich aber war vor mir selbst weggelaufen und fand mich nicht mehr, wieviel weniger Dich» (Confessiones 5,2,2). Erstaunlicherweise ist es gerade das Buch eines ‹Heiden›, der ‹Hortensius› des Rhetors und Philosophen Cicero, das dem jungen Mann die Frage nach dem ‹rechten Leben› und der ‹Wahrheit› ins Bewußtsein bohrt: «Dieses Buch gab meinem Herzen eine andere Richtung, ... es veränderte meine Wünsche und Sehnsüchte. ... Ich begann mich aufzuraffen und auf den Heimweg zu Dir zu machen» (Confessiones 3,4,7).

Doch dieser ‹Heimweg› erweist sich erst von seinem Ziel her als ein Weg zur Wahrheit – führt er doch zunächst noch tiefer in Täuschung und Verstrickung. Da das Sinnangebot des ‹Hortensius› keinen seiner geschliffenen Sätze an Christus verliert, andererseits die Bibel dem stolzen Bildungsbegeisterten keinen intellektuellen Reiz bietet, gerät Augustin in den Bannkreis des Manichäismus, einer – wir würden sagen: ‹esoterischen› – Weltanschauung, die ihre weltverneinende Mythologie als rationale Antwort auf alle Fragen präsentiert und damit erstaunliche Massenwirkung erzielt. «9 Jahre ungefähr verflossen, während derer ich mich im tiefen Schlamm und im stockfinsteren Irrtum wälzte; oft versuchte ich aufzutauchen – und sank nur tiefer zurück» (Confessiones 3,11,20).

Wieso aber ‹Schlamm› und wieso ‹zurücksinken›? Sehen wir inmitten des linken Flügels unseres ‹Lebens-Bildes› nicht einen gesellschaftlichen Aufsteiger auf der Höhe seines Ruhmes? Der kleinbürgerliche Junge aus der nordafrikanischen Provinz ist mittlerweile Professor für die führenden Kulturtechniken der Spätantike geworden und nennt eine attraktive Konkubine sowie ein begabtes Söhnchen, Adeodatus, sein eigen. Sein Renomée reicht weit über Karthago hinaus bis zum Zentrum des Imperiums. Hier will man ihn als Rhetor hören und als Rhetoriker sehen, und Augustin folgt dem Werben. Er läßt dafür seine geliebte Heimat Afrika, ja sogar seine Mutter Monnica im Stich: «Ich überredete sie mit Mühe, die Nacht in einer ... Kapelle zu verbringen. Während dieser Nacht machte ich mich heimlich davon. Sie blieb zurück, betend und weinend» (Confessiones 5,8,15). Als der Sohn einige Zeit später dem Ruf in die prestigeträchtige Position des offiziellen Lobredners am Kaiserhof zu Mailand nachkommt, eilt die Über-Mutter ihm hinterher – und findet hinter der glänzenden Fassade das Elend einer tiefen Sinnkrise: «Sie fand mich in großer Not: Ich verzweifelte daran, die Wahrheit zu finden» (Confessiones 6,1,1). «Ich ... war tief und heftig betroffen, wenn ich an die lange Zeit seit meinem 19. Lebensjahr dachte, als ich von der Sehnsucht nach Weisheit gepackt worden war ... Und nun war ich 30 Jahre alt und irrte noch immer im gleichen Schlamm herum» (Confessiones 6,11,18).

Doch mitten in dieses Suchen und Fragen hinein läßt Gott schon leise seine Antwort ertönen. Gerade in der tiefsten Lebenskrise – Augustin hat um des sozialen Aufstiegs willen seine Konkubine wortwörtlich ‹in die Wüste geschickt› und sich damit selbst eine ‹verzweifelt schmerzende Wunde› (Confessiones 6,15,25) geschlagen –, sieht der Geheilte im Rückblick die Kräfte der Genesung wachsen. Stößt Gott ihn denn nicht genau jetzt auf die Bücher der Neuplatoniker und macht ihn mit ihrem geistigen Gottesbild bekannt? Führt Christus, der wahre Arzt, ihn nicht genau jetzt zu Bischof Ambrosius, der theologischen Lichtgestalt Italiens? «Ich selbst wurde unglücklicher, Du (Gott) aber kamst näher. Ganz allmählich griff Deine Hand nach mir, mich aus dem Schlamm zu ziehen und zu waschen» (Confessiones 6,16,26).
Zentralbild: der Findende

Majestätisch prangt sie uns entgegen, die Haupttafel des augustinischen Heiligen- und Lebens-Bildes. Hier wird unser Blick nicht von verschiedenen Szenen hin und her gezogen, sondern von einem Zentralmotiv gefesselt: Augustins ‹Bekehrung›. Folgen wir dieser Szene, die der Bischof von Hippo später mit den Farben seiner Rhetorik so schillernd ausmalen wird: Ein junger Mann geht im Sommer des Jahres 386 mit seinem Freund im Garten eines Mailänder Anwesens unruhig auf und ab. Ihm, Alypius, einem alten Bekannten aus Jugendtagen, klagt Augustin seine innere Zerrissenheit: Einerseits verspürt er immer stärker den Impuls zur grundlegenden Kurskorrektur seines Lebensweges, sieht die neuen Horizonte seiner Existenz gleichsam schon vor Augen – hatte nicht gerade ein afrikanischer Landsmann ihnen begeistert von Antonius, dem ‹Wüstenvater›, erzählt? Und andererseits? Die Sirenen der Sexualität säuseln Augustin in all seinen Sinnen, die zähe Macht jahrzehntelanger Lebensgewohnheiten zerrt an ihm, reißt ihn immer wieder vom Sprung in eine konsequent neue Lebensweise zurück. «Wenn Du (Gott) mir von allen Seiten die Wahrheit Deiner Worte erwiesest, hatte ich ... nichts zu antworten außer ... schlaftrunkenen Worten: ‹Gleich, ja ja gleich, nur noch ein Augenblickchen›. Aber diesem ‹gleich, gleich› folgte nie ein ‹sofort›, und das ‹Augenblickchen› zog sich in die Länge». «So stritten denn zwei Willen in mir, der eine alt, der andere neu, jener fleischlich, dieser geistlich, und ihre Spannung zerriß mir die Seele» (Confessiones 8,5,10).

Verfolgen wir sie weiter, die große Szene unseres Zentralbildes; daß sie sich historisch tatsächlich in genau dieser Weise abgespielt hat, ist eher unwahrscheinlich – doch gerade in ihrer Stilisierung durch Augustinus verdichtet sich ihre existentielle und religiöse Wahrheit. Ähnlich den Erzählungen und Bildern der Evangelisten will die Bekehrungsszene aus den ‹Bekenntnissen› nicht protokollieren, sondern provozieren, nicht beschreiben, sondern begeistern. Kehren wir also zurück in den August des Jahres 386 und blicken wir erneut in den Mailänder Garten: Gerade reißt der verzweifelte Sinnsucher sich von seinem Freund Alypius los und wirft sich unter einen Feigenbaum. Der kaiserliche Hofredner, der Meister literarischer Konvention – er stöhnt, er stammelt, er weint ... «Und auf einmal hörte ich aus einem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens wiederholt sagen: ‹Tolle, lege – Nimm und lies!› ... Ich hielt die Flut der Tränen zurück und stand auf; ich wußte keine andere Deutung, als daß Gott mir befehle, ein Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die ich als erste stieße. ... So kehrte ich eilends zu dem Platz zurück, wo Alypius saß, dort hatte ich nämlich beim Aufstehen das Buch des Apostels (Paulus) hingelegt. Ich nahm es, schlug es auf und las die erste Stelle, worauf meine Augen fielen: ‹Nicht Eß- und Trinkgelage, nicht sexueller Rausch und Perversion, nicht Konkurrenz und Kampf – sondern umgebt euch ganz mit unserem Herrn Jesus Christus ...!›. ... Kaum hatte ich den Satz zu Ende gelesen, ergoß sich wie ein Licht die Gewißheit in mein Herz, und alle Schatten des Zweifels waren verflogen» (Confessiones 8,12,29).

Da rauscht sie vor unseren Augen vorbei, die legendäre Bekehrungsgeschichte unseres Heiligen! Fast schon zu schnell spielt sich das für Augustins Lebensweg so Entscheidende ab, zu schnell, als daß der Zuschauer es verarbeiten, es in seinen spirituellen Tiefen ausloten könnte. Versuchen wir daher, das Geschehene und Gesehene gleichsam ‹in Zeitlupe› zu wiederholen!

Ein wesentliches Moment, das dabei ins Auge fällt, ist das Lebendige, auf das Leben Bezogene, der augustinischen Bekehrung. Tobt der Entscheidungskampf unseres Sinnsuchers auch in seinem Innern, so spielt die Außenwelt in all ihren Farben und Facetten doch maßgeblich in diesem religiösen Drama mit: Augustin steht nicht allein auf der Bühne, sondern wird von seinem Landsmann und Seelengefährten Alypius begleitet. Er erscheint zudem keineswegs als ätherische Gestalt, sondern offenbart sich uns in seiner ganzen Kreatürlichkeit: Er läuft hin und her, er rauft sich die Haare, er schreit und weint – und gewiß wird er nach seinem umwerfenden Erlebnis gejubelt haben und seinem Freund um den Hals gefallen sein. Auch über die handelnden Person hinaus ist das ‹Bühnenbild› keineswegs kahl, sondern wir sehen im Hintergrund die spätantike Mailänder ‹villa› und den spätsommerlichen Garten, im Vordergrund den südländischen Feigenbaum – von jeher Symbol für den Ort möglicher Gottesbegegnung.

Und die Bekehrungserfahrung selbst? Kein Blitz vom Himmel! Vielmehr die Stimme eines Nachbarkindes, das einen spielerischen Vers vor sich hin singt: ‹Nimm und lies; nimm und lies!› Kein Menetekel an der Wand! Vielmehr ergreift der Ergriffene seinen Kodex mit paulinischen Briefen, schlägt ihn auf und liest die Verse 13 und 14 aus dem 13. Kapitel des Römerbriefes, eine Stelle, über die er schon etliche Male hinweggehuscht war. Doch diesmal packt sie ihn, fährt sie ihm mitten ins Herz und sprengt alles auf und weg, was sich in all den Jahren an Schutt und Geröll aufgetürmt, ihm die Luft zum Atmen genommen hat.

Und Gott? Hat Augustin ihn endlich gesehen? Weiß er nach seinem einschneidenden Erlebnis nun endgültig, wer und wie und wo Gott ist? Davon können wir auf unserem Bekehrungsbild nichts erkennen; noch immer steht dort ein Haus mit Garten, noch immer stehen dort zwei Personen – und doch ist alles ganz anders, denn der eine der beiden, der kleine Afrikaner und große Rhetor Aurelius Augustinus, hat sich heute von diesem geheimnisvollen Gott anrufen lassen. Gott ist für Augustin seit dem heutigen Tag kein kosmisches Prinzip und kein idealistischer Gedanke mehr, sondern ein ‹Du›, nein: das ‹Du› schlechthin! ‹Du, Du, Du›: Augustins ‹Bekenntnisse› sind eine einzige große Anrede Gottes, eine einzige Antwort auf Gottes Anruf, ja fast ein Gebet. Und doch bleibt dieses nun so vertraute ‹Du› ein unauslotbares Mysterium, von dem Augustin gleichwohl immer wieder sprechen muß: «Was kann einer schon sagen, wenn er von Dir (Gott) spricht? Und doch, weh denen, die Dich verschweigen» (Confessiones 1,4,4).

Jetzt endlich kann Augustin den Sprung in sein Lebensideal wagen: nicht nur mit dem Kopf, sondern mit Herz und Leib und Seele. Augustin verabschiedet sich von Heiratsplänen und Rhetorikprofessur – mit dem Verweis auf eine Lungenerkrankung, tatsächlich aber im ‹Gottesfieber›, ‹angeschossen› von der Liebe des unendlichen ‹Du›: «Du hattest unser Herz mit dem Pfeil Deiner Liebe durchbohrt, wir trugen Deine Worte steckend in unseren Eingeweiden» (Confessiones 9,2,3). Bald zieht Augustin sich mit einem Kreis Gleichgesinnter, darunter seine Mutter und sein Sohn, auf ein Landgut in Cassiciacum (am Comer See) zurück. Nach einigen Monaten philosophischer und spiritueller Einkehr läßt er sich in der Osternacht 387 in Mailand von Bischof Ambrosius taufen. Vieles wird sich in den nächsten Jahren ändern: Augustin wird seine italienische Wahlheimat verlieren und in seine Heimatstadt zurückkehren; er wird seine Mutter verlieren, dann seinen Sohn, schließlich einen engen Freund – doch sein Herz, seine Existenz hat einen unverlierbaren Halt gefunden, den er nicht mehr losläßt – der ihn nicht mehr losläßt: Gott, das große ‹Du›, die große Liebe seines Lebens.
Rechter Seitenflügel: der Mit-Teilende

Der rechte Flügel unseres Heiligentriptychons zeigt Szenen aus dem Leben eines Mannes, der seine Mitte gefunden hat. Freilich ist Augustin auch jetzt noch unterwegs zu neuen Erfahrungen mit seinem Gott, vor dem er das Programm seines Lebens bekennt: «(Man) soll lieber nichtfindend Dich finden, als etwas findend Dich nicht finden» (Confessiones 1,6,10). Doch Augustins Kopf und Herz sind nun nicht mehr rastlos, von Reizen und Reflexen gepeitscht, sondern von einer im Innern gefühlten Macht getragen und gezogen, einer Macht, die dieses Innere zugleich übersteigt und in der Ewigkeit verankert. Augustin hat die Wahrheit seines Lebens gefunden, und diese Wahrheit will er mit anderen teilen, anderen ‹mit-teilen›, denn er glaubt und spürt: Diese Wahrheit ist nicht nur die Wahrheit seines eigenen Lebens, sondern die ‹veritas› der ganzen Welt.

Wen Gott solcherart aus alten Bahnen geworfen hat, der muß neue Wege gehen. Augustin geht sie: Nach dem Empfang der Taufe kehrt er zunächst nach Thagaste zurück und lebt dort mit Glaubensgefährten in einer kontemplativen Gemeinschaft. Doch schon bald hört er erneut den Anruf des göttlichen ‹Du› – sehen wir uns die Szene an, die uns Augustins Biograph Possidius so anschaulich vor Augen führt.

Wir schreiben das Jahr 391; Ort des Geschehens ist Hippo Regius, eine prosperierende Hafenstadt an der Mittelmeerküste. Sonntagsgottesdienst in der katholischen ‹basilica›. Im Hintergrund der quirligen Schar der Gläubigen steht Augustin mit den Seinen; die Glaubensbrüder aus Thagaste sind in Hippo auf der Suche nach Interessenten für ihr klösterliches Lebensmodell. Vorne, auf seiner ‹cathedra› sitzend, hebt gerade Bischof Valerius zur Predigt an. Der ältere Herr macht sich Sorgen um seine Gemeinde: Die donatistische Konkurrenz, die sich für die Kirche der ‹Reinen› hält, zieht so manchen Bürger auf ihre Seite. Zudem fühlt Valerius seine Kräfte erlahmen – höchste Zeit, daß das Kirchenvolk ihm einen Priester zur Seite stellt, am besten einen Glaubensbruder mit theologischer und rhetorischer Kompetenz. In diesem Augenblick passiert es: «Da ergriffen einige Katholiken Augustin. Sie wußten nämlich von ... seiner Gelehrsamkeit ... Sie faßten ihn also und brachten ihn nach altem Herkommen hin zum Bischof, daß er ihn weihe. ... Er aber weinte sehr» (Vita Augustini).

Die nächsten Bilderfolgen spielen einige Jahre später. Augustin hat sich zunächst widerstrebend, dann aber mit aller Kraft auf seine neue Aufgabe eingelassen. Verbunden mit einigen Verletzungen kirchlicher Konvention avanciert er in Hippo zunächst zum Starprediger, dann zum Mitbischof und schließlich zum alleinigen ‹episcopus›. Durch sein Charisma und seine theologische Brillanz hat er in kurzer Zeit die Gemeinde zu einer Bastion des afrikanischen Katholizismus ausgebaut. Sein analytischer Geist und seine rhetorische Perfektion sind bei den nach wie vor missionierenden Manichäern gefürchtet; gegenüber den Donatisten läßt er sich gar zum Verfassen eines demagogischen Gedichts, eines polemischen ‹Psalms› hinreißen. Vorerst kämpft er ausschließlich mit den Waffen des Wortes; später wird er zögernd die effektiver erscheinende Staatsmacht des Römischen Reiches zu Hilfe rufen, um die Vormacht des Katholizismus in Nordafrika zu sichern.

Im Umgang mit seiner eigenen Gemeinde bemüht sich der ‹Hirte› mit der schillernden Vergangenheit um Nachsicht. Dennoch kann er sich mit einigen Verhaltensweisen seiner ‹Schafe› – darunter etliche ‹träge› und ‹schwarze› – nicht anfreunden: So wettert er in einer Ansprache gegen den ‹machism› der Männer, jeden geringsten Fehltritt ihrer Frauen zu bestrafen, die eigene sexuelle Libertinage hingegen stolz vor sich her zu tragen (Sermo 392). Überhaupt seine Predigten: Von nah und fern drängen sich Freunde und Feinde in seine Basilika, um Augustins ‹sermones› zu hören oder mitzunotieren. Das Kirchenvolk läßt sich von diesem Meister der Sprache packen: Es lacht und weint, es ächzt und stöhnt, es applaudiert und jubelt, es ruft dazwischen und fängt gierig die schlagfertigen Repliken des Predigers auf. Ja, dieser Aurelius Augustinus ist immer noch ein phantastischer ‹Lobredner›- doch mittlerweile in Diensten eines Herrn, den zu loben und zu preisen würdig und recht ist.

Lob Gottes: Das kennzeichnet auch einen Gutteil der rund 100 schriftstellerischen Werke Augustins. «Ich gehöre zu denen, die beim Voranschreiten schreiben und im Schreiben vorankommen», formuliert er in Epistel 143. Das älteste erhaltene Bild Augustins, ein Fresko aus dem 6. Jahrhundert, zeigt uns den Heiligen entsprechend vor einem Schreibpult sitzend, darunter die Verse: ‹Verschiedene Väter haben Verschiedenes gelehrt – dieser aber schlechterdings alles ...›. Und doch verdichtet sich jenes ‹alles› bei Augustin im Lobe Gottes. Lob Gottes: Das kennzeichnet zumal seine ‹Bekenntnisse›, die der Bischof um das Jahr 400 herum verfaßt. ‹Bekenntnisse›: Das heißt ‹Bekennen› der Größe Gottes wie auch ‹Bekennen› der eigenen Schuld – und dies alles in einem Ineinander, das in der Kulturgeschichte bis dahin nicht seinesgleichen hat. Gerade in seinen ‹Confessiones› will Augustin seine ureigenen existentiellen und religiösen Erfahrungen teilen, mitteilen, austeilen. Daher wandern unsere Augen mit dem Blick Augustins von der rechten Seite unseres Triptychons immer wieder zurück in dessen Zentrum und über diese Mitte hinaus zu dessen linkem Flügel. Die große Klammer, die die drei so unterschiedlich gefärbten Blöcke unseres ‹Lebens-Bildes› zusammenhält, lautet: ‹Gnade, Gnade und nochmals Gnade!› «Ich bitte Dich um Dein Erbarmen, Herr. Ich verberge Dir nicht meine Wunden. Du bist der Arzt, ich bin der Kranke. Du bist Erbarmen, ich bin erbärmlich» (Confessiones 10,28,39). «Gib, was Du forderst, dann fordere, was Du willst» (Confessiones 10,29,40; 10,31,45; 10,37,60).

Ist diese große literarische und theologische Demutsgeste der ‹Bekenntnisse› von Amtsverständnis und Lebensführung des Bischofs von Hippo gedeckt? Unsere Quellen sagen: ‹ja›! Freilich ist Augustin die Gallionsfigur des nordafrikanischen Katholizismus, der mit den Mächtigen in Staat und Kirche in Briefwechsel steht und dessen Schriften man seinen Stenographen unter dem Federkiel hinwegstiehlt. Und doch möchte Augustin ‹servus – Diener› sein, Diener Gottes und Diener seiner Gläubigen. «Seine Kleider und Schuhe ... waren sehr einfach. ... Vom Besteck waren nur die Löffel aus Silber. ... Nicht Armut und Not zwangen zu dieser Einschränkung, sondern Augustin liebte es so», versichert uns Possidius in Augustins Lebensbeschreibung. Zu seinem Bescheidenheits- und Armutsideal bekennt sich der Bischof in einer seiner Predigten sogar ausdrücklich und läßt dabei eine Kostprobe seines Charmes aufblitzen: «Jemand bietet mir ein kostbares Seidengewand als Geschenk an. ... Doch ziemt es sich nicht für Augustinus, für einen armen Mann, der von armen Eltern geboren wurde. ... Ich sage euch, eines kostbaren Gewandes würde ich mich schämen, weil es nicht zu meiner Berufung paßt und nicht zu meinen Prinzipien – außerdem sähe es seltsam aus auf diesen alten Gliedern und harmonierte nicht recht mit meinem grauen Haar» (Sermo 356).

Der Bischof mit alten Gliedern und grauem Haar – das letzte Bild, das wir auf unserem Heiligenaltar erkennen können. Augustin wirkt skeptischer als in seiner Jugend. Wie sich selbst, so sieht er auch die gesamte Weltzeit ins Greisenalter vorgerückt. Angesichts des Zerfalls des Römischen Reiches, besonders aber angesichts der immer wieder aufflackernden Bedrohungen seiner geliebten Kirche durch ‹Häretiker und Schismatiker›, wie er sie nennt, sehnt er sich in seine ewige Heimat, ins ‹himmlische Jerusalem›. Im Jahre 430, als Vandalenhorden seine Bischofsstadt belagern, erkrankt Augustin schwer. «Da ließ er sich die ... Bußpsalmen Davids ... seinem Bett gegenüber an die Wand heften. Fortgesetzt schaute er in den Tagen seiner Krankheit auf sie hin, las sie betend ab und vergoß dabei reichlich Tränen ... Doch er sah und hörte noch gut bis zu der Stunde, da er ... von unseren Gebeten begleitet ... heimging zu seinen Vätern». Indes hat Augustinus längst dafür Sorge getragen, daß sein Lebenszeugnis und seine Botschaft über seinen Tod hinaus zu leben und zu gedeihen vermögen. Seine Schriften sind, katalogisiert und kopiert, auf dem Weg in alle Welt, ebenso wie seine geliebte ‹ecclesia catholica›, die ‹universale Kirche›.

Da steht er nun vor unseren Augen, unser Heiligenaltar: kein Altar für den mitreißenden Rhetor oder für den charismatischen Kirchenführer, sondern ein Altar für den – wortwörtlich – ‹be-gnadeten› Menschen und Gottsucher Augustinus von Hippo.
Literatur

Aurelius Augustinus: Die Bekenntnisse. Vollständige Ausgabe. Übertragung, Einleitung und Anmerkungen von HANS URS VON BALTHASAR. Johannes Verlag, Einsiedeln 1985.

Das Leben des heiligen Kirchenvaters Augustinus. Beschrieben von seinem Freunde Bischof Possidius. Aus dem Lateinischen übertragen von KAPISTRAN ROMEIS O.F.M. Sankt Augustinus-Verlag, Berlin 1930.

PETER BROWN: Augustinus von Hippo. Eine Biographie. Übersetzt, bearbeitet und herausgegeben von JOHANNES BERNARD. Erweiterte Ausgabe. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000.

Weiterführende Links:

Segnung des von Michael Triegel geschaffenen Altarbildes der Stadtpfarrkiche St. Augustinus in Dettelbach (28. August 2011) - mit Bildergalerie

Vortrag: «Sakrament der ‹Verbindung›. Die Eucharistielehre des Augustinus von Hippo» von PD DDr. Christof Müller in der Stadtpfarrkirche St. Augustinus, Dettelbach (1. September 2011)