Die Bibel ist die Grundlage des Glaubens sowie die Quelle des Kirchenrechts und der Autorität der Ältesten. Ein Interview mit dem heiligen Hieronymus über die Heilige Schrift. – Ein fiktives Interview im Rahmen einer Kirchenväter-Serie der überregionalen katholischen Wochenzeitung Die Tagespost. VON RAQUEL OLIVIA MARTÍNEZ
Hieronymus, Sie sind für Ihre Bibelübersetzung bekannt. Was ist für Sie die Heilige Schrift?
Das Wort Gottes ist Verheißung des Segens und der Hoffnung auf das kommende Königreich, in dem die Heiligen mit Christus herrschen werden, wobei sich Gottes Wort als ein zusammenhängendes, von einem einzigen Geist verflochtenes Ganzes offenbart. Es ist wie eine kleine Kette, in der jedes Glied mit einem anderen verbunden ist: Ganz gleich, an welcher Stelle man die Kette in die Hand nimmt, bleibt sie immer gleich lang. Die Heilige Schrift ist die Grundlage des Glaubens sowie die Quelle des Kirchenrechts und der Autorität der Ältesten.
«Das Wort Gottes ist Verheißung des Segens und der Hoffnung auf das kommende Königreich»
Wenn Bauleute ein viereckiges Haus bauen wollen, berechnen sie die Wände so, dass sie auf allen vier Seiten gleich sind. Mit Winkelmaß und Lot tun sie das, was sie sich in ihren Köpfen ausgedacht haben: Sie fügen im rechten Winkel, oben und unten, die vier gleichen Seiten zusammen. Sie sorgen dafür, dass die begonnene Gleichheit erhalten bleibt, wenn das gesamte Gebäude wächst, so dass die Schönheit des Werkes die Vielfalt der Baumaterialen in Einklang bringt, und die kluge Struktur die Ecklinien aufrechterhält.
Auf dieselbe Weise verwenden die Lehrer der Kirche Texte aus der Heiligen Schrift, um das feste Fundament für die Lehre zu legen. Sie bringen Christus mutig ihre Werke dar. Sie sagen: «Festige mich mit Deinen Worten». Denn Er ist es, von dem geschrieben steht: «Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden». Wer also im Kampf stark bleibt, und durch die Zeugnisse der Heiligen Schrift erstarkt wird, der ist ein Bollwerk der Kirche. Wir, die wir in den Fußspuren der Väter wandeln und durch die Worte der Heiligen Schrift unterwiesen sind, lehren, predigen und bekennen in unseren Kirchen.
Dazu müsste es wohl heißen: «und wir schreiben». Denn Sie haben viele Kommentare zu den Heiligen Schriften geschrieben. Stimmt es?
Meine Absicht war es nicht, die Heilige Schrift heranzuziehen für das, was ich denke, sondern das zu sagen, was ich als den Sinn der Heiligen Schrift verstanden habe. Die Pflicht des Kommentators besteht nicht darin, zu sagen, was ihm in den Sinn kommt, sondern den Gedanken desjenigen zu enthüllen, den er auslegt. Manche lehren die Heilige Schrift, ohne sie zu verstehen, und wenn sie andere beraten, nehmen sie die Pose der Weisen ein. Es geziemt sich daher, den Ältesten zu gehorchen, dem Vollkommenen zuzuhören und über die Regeln der Heiligen Schrift hinaus von anderen die Wege des eigenen Lebens zu lernen, und niemals dem schlechtesten Lehrer, der Wichtigtuerei, zu folgen. Ich schreibe freilich für Gelehrte und für solche Menschen, die wissbegierig auf die Heilige Schrift sind.
Was empfehlen Sie denjenigen, die auf die Heilige Schrift wissbegierig sind, die sie kennenlernen und lesen wollen? Können Sie ihnen einen Ratschlag geben, wie sie an sie herantreten können?
Manche lesen die Schrift, aber sie verstehen sie nicht. Sie haben zwar die Pergamente, aber sie haben Christus verloren, der in den Pergamenten geschrieben steht. Sie verachten die Arzneimittel, die aus den Heiligen Schriften zu ihrer Besserung und Heilung stammen. Ähnlich schwangeren Frauen, welche die üblichen Nahrungsmittel ablehnen und stattdessen schädliche Nahrung suchen, so fühlen sich auch diese der Wahrheit überdrüssig.
«Manche lesen die Schrift, aber sie verstehen sie nicht.
Sie haben zwar die Pergamente, aber sie haben Christus verloren, der in den Pergamenten geschrieben steht»
Hör sofort auf – würde ich ihm sagen – Dich von den Irrtümern Deiner Gedanken leiten zu lassen, und unterwirf Dich vielmehr der Autorität der Heiligen Schrift, denn verlassen inmitten des Meeres der Schrift kannst Du in die Heilige Schrift nicht hineintreten ohne einen Führer, der Dir den Weg zeigt. Liebe die Weisheit der Schrift, und Du wirst die Laster des Fleisches nicht lieben; liebe die Heilige Schrift, und die Weisheit wird Dich lieben. Deshalb sollst Du festlegen, wie viele Stunden Du beim Erlernen der Heiligen Schrift verbringen willst; nachts ist es ratsam, zwei oder sogar drei Mal aufzustehen und über das nachzudenken, was wir auswendig von der Heiligen Schrift kennen. Lies die göttlichen Schriften sehr oft, oder besser gesagt, lass den heiligen Text niemals aus deiner Hand fallen.
Derjenige, der Judäa mit den Augen betrachtet und die Denkmäler seiner antiken Städte und die entweder gleichen oder veränderten Namen seiner Orte kennengelernt hat, wird die Heilige Schrift klarer verstehen. Ich bitte Dich, liebster Bruder, unter diesen Schriften zu leben und über sie nachzudenken. Du sollst nichts anderes kennen, nichts weiter suchen.
Was meinen Sie damit, dass «Christus in den Pergamenten geschrieben steht»?
Achtet sehr genau, denn unsere Absicht ist es, den Sinn der Heiligen Schrift zu erfassen. Was sagte schließlich unser Herr und Erlöser? «Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab (Jn 5, 39). Weil Ihr die Schrift nicht kennt, verkennt Ihr Christus, der Gottes Kraft und Gottes Weisheit ist (1 Kor 1, 24). Beachtet die Geheimnisse in der Heiligen Schrift. Bemerkt, wie die einfachen Worte der Heiligen Schrift viele Geheimnisse enthalten: in den Wegen und Pfaden, im Gesetz und in den Propheten. Es heißt nicht «geht», sondern «haltet inne»: Lasst weder das Gesetz noch die Propheten beiseite.
Wenn Ihr indessen diese Wege gefunden und sie überquert habt, beginnt Ihr, auf dem einen Weg zu gehen. Vom Thron Gottes fließt eine einzige Quelle, nämlich die Gnade des Heiligen Geistes; und diese Gnade des Heiligen Geistes findet sich in der Heiligen Schrift, das heißt im Strom der Heiligen Schrift. Nun hat ein solcher Fluss zwei Ufer, das Alte und das Neue Testament. Und der Baum, der an beiden Ufern gepflanzt ist, ist Christus. Nun, dieser Baum liefert zwölf Ernten pro Jahr, eine in jedem Monat. Wir haben keinen anderen Zugang zu den Früchten dieses Baumes außer über die Apostel. Nur wenn sich jemand über die Apostel diesem Baum nähert, wird es ihm gelingen, an die Früchte zu gelangen, Früchte, die er in der Heiligen Schrift erntet, das heißt in dem göttlichen Sinn, der seinen Worten zugrunde liegt.
«Im Alten Testament sind die Geheimnisse des Evangeliums und im Neuen Testament die des Gesetzes enthalten»
Im Alten Testament sind tatsächlich die Geheimnisse des Evangeliums und im Neuen Testament die des Gesetzes enthalten. Das Alte und das Neue Testament: In beiden leuchtet Christus. Lobt ihn nicht nur im Alten Testament, auch nicht nur im Neuen Testament. Lobt ihn Tag für Tag, das heißt sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, denn diese beiden Tage bringen dasselbe Licht hervor. Der Christ glaubt an beide Testamente, und in beiden fragt er immer wieder nach und versucht, geistlich zu erklären, was sich hinter dem Buchstaben verbirgt.
Was meinen Sie mit dem Satz «Im Alten Testament sind tatsächlich die Geheimnisse des Evangeliums enthalten»?
Beispielsweise im Buch Hiob spricht das Alte vom Neuen Testament. In ihm ist jedes Wort mit Bedeutung aufgeladen. Abgesehen von anderen Dingen prophezeit es die Auferstehung des Leibes, so dass niemand klarer oder vorsichtiger darüber geschrieben hat: «Doch ich, ich weiß» – sagt er – «mein Erlöser lebt, als Letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Ihn selber werde ich dann für mich schauen; meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd. Meine Nieren verzehren sich in meinem Innern» (Hiob 19, 25-27). Man muss wissen, dass Jesaja alle Geheimnisse Christi und der Kirche so klar dargelegt hat, dass man meinen könnte, er sage nicht die Zukunft voraus, sondern schreibe eine Geschichte über vergangene Dinge.
Die Gestalten des Alten Testaments dienten der Wahrheit des Evangeliums! In der Geheimen Offenbarung ist die Rede von einem Buch mit sieben Siegeln. Wenn man es einem Kenner der Schrift gibt, damit er es liest, wird er antworten: «Ich kann es nicht lesen; es ist versiegelt». Diejenigen, die heute glauben, lesen zu können, halten ein versiegeltes Buch in den Händen. Sie können es nicht öffnen, wenn nicht der es öffnet, «der den Schlüssel Davids hat, der öffnet und niemand wird schließen, der schließt und niemand wird öffnen» (Ap 3, 7). In den einfachen Worten der Schrift liegt immer eine höhere Bedeutung. In der Schrift gibt es keine einfachen Worte, wie manche meinen. In ihnen sind viele Bedeutungen verborgen. Der Buchstabe bedeutet etwas, aber das mystische Wort etwas anderes.
Sie behaupten, in der Heiligen Schrift seien viele Bedeutungen verborgen. Abgesehen von den Stellen im Alten Testament, in denen das Neue Testament prophetisch vorhergesagt wird, welche anderen «mystischen» Bedeutungen kann der «Buchstabe» der Schrift haben?
Meine geliebte Schülerin, die heilige Paula, kannte die Heilige Schrift auswendig. Obwohl sie den wörtlichen Sinn liebte, den sie das Fundament der Wahrheit nannte, folgte sie bereitwilliger dem spirituellen Sinn, und mit diesem Dach schützte sie das Gebäude ihrer Seele. Wenn also jemand zu Christus entrückt wird, der steigt über die Wolken des Gesetzes und des Evangeliums und über die Propheten und die Apostel hinaus. Er nimmt die Flügel einer Taube und erhebt sich über ihre Lehre in die Höhe, kommt Christus entgegen, nicht in den Dingen, die unten sind, sondern in der Luft, im geistlichen Verständnis der Heiligen Schrift.
«Wir müssen die Adern und das Fleisch der Schriften selbst kennen, damit wir, wenn wir einmal verstanden haben, was in ihnen geschrieben steht, ihre Bedeutung durchdringen können»
Wir müssen die Adern und das Fleisch der Schriften selbst kennen, damit wir, wenn wir einmal verstanden haben, was in ihnen geschrieben steht, ihre Bedeutung durchdringen können. Es ist, als würde man nach dem Lesen einer Passage sagen: «All das, was wir gerade gesagt haben, entspricht dem Wortsinn. Lasst uns nun es von der allegorischen Seite aus erklären”. Wenn wir das, was wir gerade gelesen haben, buchstäblich interpretieren, was ist daran so strahlend, prächtig und erhaben? Wenn wir es jedoch geistlich interpretieren, verwandelt sich sofort die Heilige Schrift, d.h. die Hülle des Wortes. Sie wird weiß wie Schnee: «so weiß, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann» (Mk 9, 3). Nimm irgendeinen Text aus den Propheten oder irgendein Gleichnis aus dem Evangelium: Wenn Du sie wörtlich nimmst, wirst Du sehen, dass diese Passagen an sich keinen Glanz und keine Brillanz besitzen. Wenn Du aber im Gegenteil den Aposteln folgst und den Text geistlich auslegst, dann verwandelt sich sofort das Gewand des Wortes, und es wird zu einem strahlenden Weiß: Jesus wird auf dem Berg völlig verklärt
Die Autorin lehrt an der Universität San Dámaso.
Aus dem Spanischen von José García.
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