ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

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Fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.

Confessiones 1,1

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.

Bekenntnisse 1,1

pdfFestvortrag 2017 (PDF-Version)

Festvortrag [*] anlässlich der Jahresvollversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung

Würzburg, Burkardushaus, 30.06.2017

Von Professor Dr. Rene Pfeilschifter

Im Herbst 403 zog Kaiser Honorius im Triumph in Rom ein. Der Hofdichter Claudian beschrieb ausführlich die Begeisterung der Menschen, die den Weg des einziehenden Kaisers säumten. Anlaß war nicht nur Honorius’ sechstes Konsulat, sondern auch die Siege, welche die Legionen über die Goten Alarichs errungen hatten. Über christliche Bestandteile von Honorius’ Triumph verliert Claudian kein Wort, nicht weil seine persönlichen Überzeugungen – über die wir nichts wissen – dagegenstanden, sondern weil dies den literarischen Gattungskonventionen einer Lobrede widersprochen hätte [1]. Um so mehr sagt Augustinus in zwei Predigten, was sowohl zum Autor als auch zum Genre paßt. Die Predigten gehören zu den erst in den neunziger Jahren entdeckten. Ihr Herausgeber François Dolbeau bezog zwei Passagen auf den Romaufenthalt von 403. In ihnen ist die Rede von einem Kaiser, der nach Rom kommt und vor der Wahl steht, entweder das Grab des Kaisers Hadrian oder das des Fischers Petrus zu besuchen: templum imperatoris oder memoria piscatoris. Er entscheidet sich, demütig und im frommen Gedanken an Christus, für Petrus. Augustinus spielt hier zweifellos auf einen tatsächlichen Besuch der Peterskirche an, aber weder datiert er diesen noch lassen sich die Predigten zeitlich sicher fixieren. Honorius hielt sich während seiner Regierung wenigstens sechsmal in Rom auf. Dolbeau hat jedoch recht damit, daß der erste, spektakulärste Besuch von 403/04 am ehesten geeignet war, in Africa zum Gesprächsthema zu werden. Die beiden Augustinusstellen bereichern also unser Wissen über diesen Romaufenthalt und ergänzen Claudians Informationen [2].

Paolo Liverani hat aus den Passagen noch mehr geschlossen: Das Gebet in der Peterskirche habe den Höhepunkt von Honorius’ Ankunft markiert, er habe das Grabmal Hadrians rechts liegenlassen (im geographischen Sinne) und der Triumphalroute mit dem Petrusgrab ein neues Ende gegeben [3]. Das scheint mir überinterpretiert. Das Grabmal Hadrians stellte nie eine besondere Station oder gar das Ziel eines Triumphzuges dar. Dieses befand sich vielmehr im alten Stadtzentrum um Forum Romanum und Kapitol. Einen Triumphzug an der Peterskirche hätte vor der Stadt, weitentfernt von den jubelnden Zuschauern, geendet. Das wäre ungefähr so gewesen, als würde die Landesgartenschau nächstes Jahr in Rottenbauer eröffnet werden. Augustinus’ Bemerkung bezieht sich also kaum auf eine Änderung der Route. Überhaupt ist bei ihm von einem Triumph oder Einzug gar keine Rede. Die Predigt ist sehr sparsam, was die Erklärung der Umstände betrifft. Es bedürfte keiner Belege, sondern ist im Grunde selbstverständlich, daß der fromme Christ Honorius bald nach seinem Eintreffen die Peterskirche besuchte. Unter besonderem Zeitdruck stand der Kaiser dabei nicht, er blieb wenigstens bis Juli 404 in Rom. Bei seinem Beispiel ging es Augustinus letztlich weniger um die Anspielung auf ein konkretes Ereignis als um die Verbildlichung der Entscheidung für Christus. Anhand der beiden Bauwerke erläutert er den Gegensatz zwischen gewalttätiger, paganer Herrschaft und dem Heil Christi.

Was lernen wir aus dieser Stelle? Augustinus wußte nichts über die Details von Honorius’ Triumph oder sie haben ihn nicht gekümmert, vielleicht beides. Am Kaiser interessierte ihn dessen Glaube, und daran gab es offenbar nichts auszusetzen. Hätte Augustinus anders über seinen weltlichen Herrn gedacht, wäre es zwar nicht klug gewesen, dies öffentlich in einer Predigt zu sagen, aber er hätte ja einfach schweigen können. Man kann Augustinus also ein freundliches Desinteresse gegenüber dem Kaisertum attestieren, das nur dann umschlug, wenn es um Fragen des Glaubens ging. Ob das tatsächlich so war und wie sich überhaupt das Verhältnis des Bischofs zu den Herrschern seiner Lebenszeit gestaltete, darum soll es in diesem Vortrag gehen. Deshalb will ich zunächst 1) allgemein die Entwicklung von Kaisern und Kaisertum zu Augustins Lebenszeit skizzieren, dann, 2) was die Kaiser von Augustinus wußten, schließlich, 3) was umgekehrt Augustinus von den Kaisern wußte.

Zwei Dinge seien zur Klärung vorausgeschickt: Ich setze politisch an, gehe aus von einzelnen Kaisern und von deren konkretem Wirken. Ich versuche keine philosophische oder theologische Interpretation von Augustins Bild vom Staat, vom Imperium Romanum und von deren Verhältnis zu civitas Dei und civitas terrena. Dafür würde ein kurzer Vortrag nicht ausreichen. Am Schluß wird dennoch von diesen Dingen die Rede sein, denn Glaubensüberzeugung und öffentliches Handeln lassen sich eben doch nicht trennen. Das zweite: Das Wort ‚Kaiser‘ meint im folgenden die öffentliche Person, den Herrscher, manchmal die Regierung. Als Individuen sind die Kaiser der Epoche nur in Umrissen faßbar.

Nun zum ersten Teil, Kaisern und Kaisertum zu Augustinus’ Lebenszeit. Das Römische Reich, in das Augustinus im Jahr 354 hineingeboren wurde, war in seinem territorialen Bestand weitgehend unverändert zum Reich des Augustus, immer noch die stärkste Macht der Erde und für seine Einwohner fast ein Synonym für die Oikumene. Hier sind die Kaiser, die über dieses Reich bis zu Augustinus’ Tod 430 herrschten:

Westen

 

Osten

Constantius II. 353-361

Julian 360-363

Jovian 363/64

Valentinian I. 364-375

 

Valens 364-378

Gratian 375-383

Theodosius I. 379-395

Magnus Maximus 383-388

Valentinian II. 383-392

Eugenius 392-394

Theodosius I. 395

Honorius 395-423

Arcadius 395-408

Theodosius II. 408-450

Johannes 423-425

Valentinian III. 425-455

 

Constantius II. und Julian waren die letzten Angehörigen des Hauses Konstantins, beim Tod Julians war Augustinus gerade acht Jahre alt. Diese Dynastie war für ihn also nicht mehr erlebte Geschichte. Es deutet auch nichts darauf hin, daß Julian ihn besonders beeindruckte. In Augustins Schriften findet sich nur das Übliche, was christliche Autoren eben so sagten über den Apostaten, den letzten heidnischen Kaiser und angeblichen Christenverfolger. Julian ist eben das Gegenbild zu Augustinus’ Lieblingskaiser der Vergangenheit – ebensowenig überraschend Konstantin der Große. Wichtig ist: Nach Julian kam nie mehr ein Kaiser an die Macht, der nicht Christ war. Das Problem des paganen, christenfeindlichen Staates kannte Augustinus nur noch aus Büchern und vom Hörensagen. Nach dem Zwischenspiel des frühverstorbenen Jovian gewann Valentinian die Herrschaft. Nach ein paar Wochen setzte er seinen Bruder Valens zum Mitkaiser ein. Die beiden waren für längere Zeit die letzten römischen Kaiser, die vom Balkan stammten und sich als Soldaten hochgedient hatten. Die Brüder teilten das Reich vorübergehend in eine West- und eine Osthälfte. Diese Teilung sollte in den nächsten Jahrzehnten wiederholen und nach 395 verfestigen, so daß man für das fünfte Jahrhundert eher von Teilreichen als von Reichsteilen sprechen muß. Wo genau die Grenze auf dem Balkan verlief, änderte sich in den diversen Teilungen, aber Afrika und Italien blieben immer beim Westen. Nie in seinem Leben setzte Augustinus einen Fuß in die griechische Osthälfte. Das heißt, daß für unser Thema die Kaiser des Westens wesentlich wichtiger sind, sie nämlich waren Augustinus’ weltliche Herren.

Valens herrschte im Osten, der ältere Bruder nahm den größeren, ertragsstärkeren, soldatenreicheren Westen, in dem nicht zuletzt die Hauptstadt Rom lag. Valentinian war ein Nizäner, das heißt, er hing der Glaubensformel des Konzils von Nikaia 325 an, die im Westen ohnehin die dominierende war. Die Gegner, die sog. Homöer, welche die Wesensgleichheit von Gottvater und Gottsohn ablehnten, waren vor allem im Osten verbreitet. Viel machte sich Valentinian aber nicht aus Religion, er konzentrierte sich auf die Sicherung der Rhein- und Donaugrenzen vor den Barbaren, und sein Bruder tat dasselbe am Euphrat gegen die Perser. Beide hatten dabei lange Erfolg, beide fanden dennoch ein vorzeitiges Ende. Valentinian soll sich bei einer Verhandlung mit den germanischen Quaden derart über die Gesandten aufgeregt haben, daß er an seinem Wutausbruch starb. Ihm folgte sein Sohn Gratian. Valens aber fiel 378 in der Schlacht bei Hadrianopolis, dem Cannae der Spätantike, gegen die Goten. Der Balkan war für den Moment schutzlos, und so setzte der überlebende Gratian – Not kennt kein Gebot – den dynastiefremden Offizier Theodosius als Kaiser im Osten ein.

Theodosius gelang mehr schlecht als recht die Stabilisierung, aber mehr war unter den schwierigen Umständen auch nicht zu erwarten. Wichtiger für unser Thema ist, daß Theodosius aus Spanien stammte und ganz im Nizänertum sozialisiert war. Das Homöertum war ihm fremd, und so unternahm er bald Schritte, es so weit wie möglich zurückzutreiben. Dabei war er deutlich erfolgreicher als bei der Bekämpfung der Goten. Ihm half, daß Valens’ Katastrophe bei Hadrianopolis – nicht einmal seine Leiche war gefunden worden – weithin als Gottesurteil gegen die Homöer betrachtet wurde. Der Kaiser hatte die Homöer nämlich tatkräftig unterstützt. Damit war es nun vorbei. Homöer gab es bald nur noch außerhalb der Reichsgrenzen, bei den Barbaren. Und nach und seit Theodosius waren alle Kaiser nicht nur Christen, sondern auch Nizäner. Augustinus mußte sich also nie mit einem Kaiser herumschlagen, der einer anderen Spielart seines Glaubens anhing als er selbst. In seinem Gottesstaat ist Theodosius derjenige Kaiser, der als einziger neben Konstantin ein ausführliches Portrait erhält, und zwar als christlicher Idealfürst [4].

Wenn ich sage, daß von nun an alle Kaiser Nizäner waren, so stimmt das nicht ganz. Gratian wurde 383 von Magnus Maximus gestürzt und ermordet. Der neue Kaiser brachte schnell Britannien, Gallien und Spanien unter seine Kontrolle. Er überschritt aber vorerst nicht die Alpen. Italien und Africa blieben unter der Kontrolle von Gratians jüngerem, gerade elfjährigem Bruder Valentinian II. Grund dafür war nicht, daß Magnus Maximus sich den Einmarsch in Italien nicht zugetraut hätte, sondern daß er damit den Konflikt mit Theodosius im Osten unvermeidbar gemacht hätte. Statt dessen ergab sich ein komplexes und von Mißtrauen geprägtes Power sharing agreement, in dem Valentinian den mittleren und schwächsten Part innehatte.

Das war die instabile politische Situation, in die der zum Hofredner ernannte, nunmehr dreißigjährige Augustinus in Mailand hineingeriet. Die Regierung hatte aber noch mit einem anderen Problem zu kämpfen: Ambrosius. Die maßgeblichen Personen am Hof, der junge Kaiser und wohl noch mehr seine Mutter Justina, neigten dazu, den Homöern entgegenzukommen. Es kommt hier nicht darauf an, ob dies aus Neigung geschah oder aus politischen Überlegungen – in seiner schwierigen Lage war es für Valentinian jedenfalls sehr wichtig, seine gotischen, homöischen Truppen loyal zu halten. Die Zuweisung einer Kirche für ihren Gottesdienst war insofern ein kluger und pragmatischer Schritt. Ambrosius wollte das auf keinen Fall dulden, und so kam es im Spätwinter und Frühjahr 386 zu einem spektakulären Kräftemessen, mit Kirchenbesetzung, frommen Gesängen und drohenden Gardetruppen. Ambrosius setzte sich auf ganzer Linie durch, dank der Unterstützung der nizänischen, ihm unerschütterlich treuen Bevölkerung. Augustinus’ Mutter Monnica war in vorderster Verteidigungslinie dabei – nicht aber Augustinus selbst. „Uns“, schrieb er in den Bekenntnissen und meinte damit sich und seine engsten Freunde, „uns ließ das kalt. Die Flamme Deines [sc. Gottes] Geistes hatte uns noch nicht erfaßt“ [5]. Die berühmte Bekehrung – tolle, lege – lag damals noch ein paar Monate in der Zukunft.

Meine Damen und Herren, Sie haben sich sicher schon gefragt, warum, wenn der Vortrag doch vom Kaisertum des fünften Jahrhunderts handeln soll, warum ich dann so lange von dem des vierten spreche. Antwort: weil diese Eingrenzung auf das fünfte Jahrhundert erst begründet werden muß. Ich bin in vielem skeptisch, was den historischen Quellenwert von Augustinus’ Bekenntnissen betrifft. An Selbststilisierung, auch an Selbstgerechtigkeit mangelt es dem im Rückblick Urteilenden nicht. Man müßte das Buch aber schon zu einem Werk der Fiktion erklären – und dafür sehe ich keinerlei Grund –, wollte man bestreiten, daß Augustinus sich bis zum August 386 als einen außerhalb der christlichen Religion Stehenden betrachtete. Die bislang beschriebenen Kaiser und ihre Taten sind anzusetzen entweder in Augustinus’ Kindheit oder in seinen Jugend- und frühen Erwachsenenjahren: als er sich von der Religion der Mutter abgewandt hatte, sich intensiv in die antike Philosophie einarbeitete, den Beruf des per definitionem paganen Redners ergriff und mit dem Manichäismus zumindest sehr heftig flirtete. Die Haltung der Kaiser zum Glauben, die den reifen Augustinus vor allem interessierte, war für den jungen Augustinus kaum von Belang – war er doch selbst kein Christ. Nach 386 wurde das anders. Doch immer noch führte Augustinus ein auf sich selbst bezogenes Leben: der Rückzug nach Cassiciacum, die Taufe 387, die Rückkehr nach Afrika 388, der weitere Versuch in mönchischem Leben – bis er 391, angeblich nicht ganz freiwillig, zum Priester geweiht wurde, 394 zum zweiten Bischof von Hippo Regius und 396 als alleiniger Bischof übrigblieb.

Die Lehr- und Wanderjahre waren damit vorüber. Seit Beginn der 390er Jahre wuchs Augustinus in eine für andere verantwortliche, öffentliche Rolle hinein, die Selbstbezug und Zurückhaltung nicht mehr zuließ und in hohem Maß politisches Engagement erforderte. In dieser Stellung verblieb Augustinus bis zum Ende seines Lebens, 35 Jahre lang. Wie er jetzt mit der Regierung interagierte, was er jetzt über den gegenwärtigen Kaiser sagte, ist weit interessanter als alles, was er über frühere Kaiser dachte, für die er ohnehin die Bewertungen anderer übernahm.

Der Einschnitt in Augustinus’ Leben Mitte der 390er fällt ziemlich präzise mit einem tiefen politischen Einschnitt zusammen. Nach zwei Bürgerkriegen in Europa, die auch Valentinian das Leben kosteten, setzte sich Theodosius gegen alle Rivalen durch und vereinte im September 394 noch einmal das gesamte Reich in einer Hand. Sein unerwarteter Tod im Januar 395 führte zu einer erneuten Reichsteilung, und zwar zwischen seinem älteren Sohn Arcadius im Osten und seinem jüngeren, Honorius, damals gerade zehn Jahre alt, im Westen. Das Jahr 395 bezeichnet eine Wende im spätantiken Kaisertum: zum einen, weil die Reichsteile nie mehr zusammenfanden, sondern sich bald entfremdeten, zum anderen, weil die Theodosiussöhne mit dem Regierungsstil ihres Vaters und überhaupt ihrer Vorgänger brachen. Anders als der eingangs erwähnte Triumph von 403 suggeriert, zogen weder Honorius noch Arcadius selbst ins Feld. Sie blieben in ihren Hauptstädten, Konstantinopel und Mailand bzw. Ravenna, und ließen ihre Generäle kämpfen. Das war eine Entwicklung aus persönlicher Neigung und auch aus Zufall – Honorius war in den ersten Jahren schlicht zu jung zum Kriegführen –, aber deswegen noch keine törichte: Die räumliche Distanzierung vom Militär minderte die Chancen von meuternden Soldaten und ehrgeizigen Heerführern, den Kaiser zu erpressen und, wie es Gratian und Valentinian II. gegangen war, zu stürzen. Es war ganz wesentlich diese Entwicklung, die den Osten des Reiches über die nächsten Jahrhunderte stabil hielt und ihm eine Fortexistenz sicherte, die letztlich bis zum Jahr 1453 dauern sollte.

Im Westen war das bekanntlich nicht so, 476 wurde dort der letzte Kaiser nicht einmal mehr gestürzt, sondern einfach in Pension geschickt. Warum? Der Grund lag in der Reichsteilung. Die beiden Regierungen führten selten Krieg gegeneinander, manchmal standen sie sich in Antagonismus gegenüber, immer aber stellten sie das Partikularinteresse über das des Gesamtreiches. Alarich, der Anführer der eigentlich mit dem Reich verbündeten Goten, wußte das zu nutzen und spielte die beiden Regierungen gegeneinander aus. Nur ein Resultat davon war die Einnahme und Plünderung Roms 410. Noch schlimmer war: Der Westen verlor den Zugriff auf die Ressourcen des Ostens, als er ihn am nötigsten hatte. Die volle Wucht der Völkerwanderung traf Anfang des fünften Jahrhunderts den Rhein und die mittlere Donau. Früher wäre aus dem Osten Hilfe gekommen, in Form von Soldaten und Geldern. Sie hätte auch jetzt kommen können. Die Barbaren überschritten zwar ebenso die untere Donau, der östliche Balkan litt nicht weniger als die Westprovinzen. Aber schon Kleinasien blieb in Blüte, und Syrien und Ägypten, volkreiche, wohlhabende Regionen, prosperierten ungestört. Das war ein wesentlicher Grund, warum der Osten überlebte und der Westen nicht. Der glückliche Umstand, daß die persische Grenze ruhig blieb, half Honorius und seinen Nachfolgern nicht, denn sie hatten kein Anrecht auf die Friedensdividende. Eine flexible Verschiebung von Machtmitteln dahin, wo es brannte, gab es nicht mehr.

Die Folge waren Barbareneinfälle, politische Instabilität, die Erhebung von Usurpatoren und der drohende Zerfall des Westens. Zeitweise regierten fünf Kaiser nebeneinander, alle erbitterte Rivalen. Honorius kontrollierte 408 nur noch Teile Italiens und dachte schon daran, aufzugeben und sich nach Konstantinopel einzuschiffen. Es ist kein Wunder, daß das Image dieses Kaisers in Antike wie Gegenwart denkbar schlecht ist. Er war zu passiv, wankelmütig, keine Alexandernatur, die den Gordischen Knoten mit einem Streich bzw. einem Feldzug durchschlagen hätte. Honorius war der Kaiser, dem unterstellt wurde, auf die Nachricht vom Fall Roms entsetzt reagiert zu haben, weil er dachte, seiner Lieblingshenne Roma sei etwas zugestoßen. Aber, großes Aber: Honorius überlebte sie alle. Britannien ging verloren, Goten, Vandalen, Burgunder und Franken waren nicht mehr aus dem Reich herauszubringen, aber Honorius blieb Kaiser, erhielt zumindest nominell und über weite Teile auch faktisch die Herrschaft über Gallien und Spanien. 423 starb er im Bett. Daß dieser Kaiser wegen seiner Frömmigkeit von Gott geschützt wurde, meinten nicht wenige Zeitgenossen. Honorius war auch der Kaiser Augustins. 23 Jahre lang war er sein Herr und höchster Ansprechpartner in allen weltlichen und vielen geistlichen Angelegenheiten. Honorius’ Nachfolger, Johannes und Valentinian III., die Herrscher von Augustins letzten Jahren, spielten dagegen kaum eine Rolle für ihn. Johannes war mit dem Machterhalt gegen einen Angriff von Honorius’ Neffen Theodosius II. beschäftigt, Valentinian war beim Tod des Bischofs gerade elf Jahre alt.

Damit komme ich zum zweiten Teil. Was wußten die Kaiser eigentlich von Augustinus? Ende 430 berief Kaiser Theodosius II. ein allgemeines Konzil nach Ephesos ein. Die Bischöfe des gesamten Reiches wurden eingeladen. Ein separater Gesandter machte sich nach Africa auf, um Augustinus die Einladung zu überbringen. Erst in Karthago erfuhr er, daß der Adressat vor wenigen Monaten verstorben war. Die Nachricht von Augustinus’ Tod war also nicht wie ein Lauffeuer durchs Reich geeilt. Allerdings war das angesichts der damaligen Kommunikations- und Transportbedingungen gar nicht zu erwarten. Selbst die Nachricht vom Tod eines Kaisers brauchte oft Wochen, um in die hintersten Winkel des Reiches vorzudringen. Zudem war Africa gerade im Krieg, zu weiten Teilen besetzt von den Vandalen. Das Unwissen in Konstantinopel wiegt also weniger als die Reverenz vor dem großen Mann, ausgedrückt vielleicht in einem separaten und nur an Augustinus gerichteten Schreiben des Kaisers.

Es ist ein wenig irritierend, daß diese Einladung auch schon den Höhepunkt kaiserlicher Wertschätzung für Augustinus darstellte. Entsprechende Briefe aus dem Westen kennen wir nicht. Nie wandte sich Augustinus direkt an Honorius, nie richtete der Kaiser sich unmittelbar an Augustinus. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, daß es solche Briefe gab und sie uns nur nicht erhalten sind. Der Bischof schrieb an Regierungsvertreter in Karthago, höchstens einmal an einen Amtsträger bei Hof, den er noch aus seinen italischen Jahren kannte. Wir wissen auch nichts davon, daß Augustinus sich großer Wertschätzung am Hof erfreute und ausgezeichnet wurde. Wie so etwas aussehen konnte, zeigte Konstantinopel. Wollte man dort unbedingt einen besonderen Mann zum Bischof der Hauptstadt haben, so ließ man ihn gegebenenfalls bei Nacht und Nebel vom anderen Ende des Reiches herholen. Und falls dieser schon Bischof war, kümmerte man sich auch nicht um das Translationsverbot. Von ähnlichen Überlegungen, Augustinus auf einen der großen Sitze des Reiches zu setzen, wissen wir nichts. Und schon gar nicht gab es persönliche Begegnungen zwischen Kaiser und Bischof. Zum letzten Mal hatte ein Kaiser Africa im dritten Jahrhundert besucht. Augustinus aber verließ Africa nach 387 nie wieder. Der einzige Kaiser, dem Augustinus je gegenüberstand, war Valentinian II. in den 380ern gewesen. Zumindest einmal, wahrscheinlich öfter hielt Augustinus einen Panegyricus auf den Herrscher. In den Bekenntnissen erzählt er von seiner Aufregung, weil er viele Mächtige mit seiner Rede zu gewinnen hoffte. Den Kaiser selbst nannte er nicht. Valentinian war damals ein Teenager. Das würde ein näheres Verhältnis nicht ausschließen, aber die spärliche Erwähnung des jungen Kaisers läßt eher vermuten, daß die beiden über förmliche Begegnungen bei Audienzen und natürlich beim Vortrag einer Lobrede nicht hinauskamen.

Warum also fand selbst der ältere Augustinus nie die Aufmerksamkeit der Regierungszentrale? Nun, zum einen war Afrika selbst mit dem Schiff ein, zwei Wochen von Ravenna entfernt. Zum anderen war Hippo zwar eine bedeutende Stadt in der Provinz, aber eine Provinzstadt nichtsdestotrotz. Augustinus war der mit Abstand bedeutendste Bischof Hippos. Karthago war nicht nur die wichtigste Stadt Afrikas und eine der größten des Reiches, dort befand sich auch der Sitz des großen Cyprian. Der Inhaber dieses Stuhls bekam sehr wohl Briefe vom Kaiser, selbst wenn er eine ganz mittelmäßige Persönlichkeit war. Augustinus aber war, was die Bedeutung seines Sitzes betraf, unter den etwa zweitausend Bischöfen des Reiches irgendwo im Mittelfeld einzuordnen. Angesichts dieser Zahl half auch das vordere Mittelfeld nicht viel weiter.

Augustinus fiel auch nicht durch ein besonderes Verhalten auf. Kaiser korrespondierten und verkehrten gern mit sog. Heiligen Männern, Mönchen, Einsiedlern, Bischöfen, die sich durch besondere Askese und Weltabwendung auszeichneten. Der einfache syrische Eremit Symeon, der jahrzehntelang auf einer zwanzig Meter hohen Säule lebte und sich auch jahrzehntelang nicht wusch, korrespondierte mit dem Kaiser in Konstantinopel und übte dort, obwohl Tausende von Kilometern entfernt, einen gewissen Einfluß aus. Augustinus aber war kein Charismatiker, sondern Kirchenverwalter und Theologe. Das, was ihn äußerlich auszeichnete, nämlich seine Rhetorik, das konnten auch viele andere Bischöfe.

Ein weiterer Grund war ein auch in den täglichen Geschäften passives, kaum einmal zur Intervention neigendes Verhalten Honorius’. Das war keineswegs zwingend, wie die Forschung lange dem angeblich entrückt von allen Begegnungen herrschenden spätantiken Kaiser unterstellte. Daß es ganz anders ging, zeigte im sechsten Jahrhundert Justinian, der einen ausgeprägten Edmund Stoiber-Regierungsstil pflegte. Auch nachts fand er keinen Schlaf, keine Akte war vor ihm sicher, der Instanzenzug der Verwaltung wurde übergangen, Bürgermeister mußten sich plötzlich wegen irgendwelcher Einzelfälle verantworten, und Beamte aus entfernten Landstrichen wurden in die Hauptstadt einbestellt. Die Regel war so etwas nicht, aber möglich wäre es gewesen. Augustinus aber wurde nie aus dem Schlaf geklingelt. Letztlich führte keiner der antiken Kirchenväter auf Reichsebene eine derart obskure Existenz wie er. Selbst der Nichtbischof Hieronymus fand in seinem Bethlehemer Exil dank eines prominenten Bekanntenkreises mehr Aufmerksamkeit.

Ich komme zum dritten Teil, Augustinus’ Perspektive. Auch in der Obskurität und nicht selten gerade wegen ihr kann man zu den schärfsten Beobachtungen gelangen. Geht man aber Augustinus’ Äußerungen zu Honorius durch, so verraten sie eine eher enge Perspektive. Abgesehen von der eingangs zitierten Stelle kommt der Kaiser immer dann ins Spiel, wenn es um Maßnahmen gegen Augustins christliche Hauptfeinde geht: die Donatisten und die Pelagianer. Die Donatisten hatten sich schon vor einem Jahrhundert gebildet, im Protest gegen den ihrer Meinung nach zu großzügigen Umgang der meisten Bischöfe mit den lapsi, den während der Verfolgungen abgefallenen Christen. Diese Gruppe war auf Africa beschränkt. Pelagius war ein Zeitgenosse, der durch moralischen Rigorismus viele Anhänger gewann, Augustinus aber wegen seiner Ablehnung der Erbsünde ein Dorn im Auge war. Weil Pelagius sich einige Zeit in Afrika aufgehalten hatte, war seine Bewegung dort besonders stark. Dem Kampf gegen beide Strömungen widmete Augustinus alle Kraft, und er war letztlich auch sehr erfolgreich, obwohl der Bischof von Rom eine Zeitlang Pelagius gefördert hatte. Auf Honorius aber konnte Augustinus zählen. Manchmal gab es aus machtpolitischen Erwägungen Verzögerungen, manchmal mußten die nordafrikanischen Bischöfe insistieren, aber immer kamen aus Ravenna letztlich die gewünschten Gesetze und die notwendigen Direktiven an die Statthalter vor Ort. Manchmal mit derartiger Härte, daß Augustinus, der an sich nichts gegen Gewalt im Dienst der ihm gut scheinenden Sache hatte, warnen mußte, daß man nicht gleich zu Hinrichtungen greifen müsse. Kein Wunder, daß Augustinus mit seinem Herrn sehr zufrieden war. Honorius war für ihn ein imperator piissimus et fidelissimus, ein clementissimus et religiosissimus princeps [6]. Auf ein rühmendes Portrait im Gottesstaat, nach dem Muster Konstantins und Theodosius’, mußte Honorius vermutlich nur deshalb verzichten, weil er zum Zeitpunkt der Niederschrift noch lebte.

Sucht man aber nach Äußerungen zu den großen Herausforderungen, die Honorius in Europa zu meistern hatte, so herrscht Schweigen. Richard Klein eröffnet im Augustinus-Lexikon seinen Honorius-Artikel mit den Worten: „Die allgemeine Reichspolitik des H. [...] spielt bei A. so gut wie keine Rolle“ [7]. Dem mag man entgegnen, daß Augustinus doch sein Hauptwerk wegen der Einnahme Roms durch Alarich geschrieben habe. Doch es war nicht die Einnahme selbst, die Augustinus umtrieb, sondern die Reaktionen darauf, und zwar diejenigen, die dem Christentum die Schuld gaben. Ein wesentliches Ziel des Gottesstaates ist zu zeigen, daß der Fall Roms für den großen Lauf der Dinge gar keine Rolle spielt. Ich möchte wieder Hieronymus zum Kontrast heranziehen, der kommentierte: „Es stockt mir die Stimme, ich kann vor Schluchzen nicht weiterdiktieren: Die Stadt wird eingenommen, die den gesamten Erdkreis erobert hat“ [8]. Obwohl Hieronymus am anderen Ende der Welt wohnte, nahm er kontinuierlich lebhaften Anteil an den Entwicklungen in Europa. Ereignisse wie massive Rheinüberschreitungen durch die Germanen machten ihm Angst und ließen ihn um das Reich fürchten.

Viel ruhiger erscheint der Zeitenfluß, wenn man durch Augustinus blättert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Bischof von Hippo im Grunde ein unpolitischer Mensch gewesen zu sein scheint. Unpolitisch in dem Sinne, daß er nicht morgens zur Zeitung griff und sich nicht für die Dinge der weiten Welt um ihrer selbst willen interessierte. Nur schwer kann man sich einen Augustinus vorstellen, der sich über Trumps Twittereien geärgert oder eine Bemerkung zum Tod Helmut Kohls gemacht hätte.

Ich glaube, daß eine solche Einschätzung nicht bloß vom theologisch-philosophischen Schwerpunkt seines Oeuvres hervorgerufen wird und deshalb in die Irre geht. Es ist schon auffällig, daß der junge Valentinian II. bei ihm kaum eine Rolle spielt, daß er nie seinen Anblick des Kindherrschers beschreibt, das groteske Mißverhältnis von kaiserlicher Ideologie und Ohnmacht des Teenagers. Ansatzpunkte für solche Exempel hätte es in Augustinus’ Werk in Hülle und Fülle gegeben, er nutzte sie nicht. Offenbar hat ihn der junge Valentinian schon in den 380ern nicht zu politischen Überlegungen inspiriert, sondern war ihm als Arbeitgeber genug. Merkwürdig auch, daß der Zusammenstoß zwischen Ambrosius und dem Hof wegen der homöischen Kirche Augustinus so kalt ließ. Er erzählt davon überhaupt nur und außerhalb der Chronologie, weil bei dieser Gelegenheit das Hymnensingen in die Kirche von Mailand eingeführt wurde. Ob nun Christ oder nicht – bei dem monatelangen Kräftemessen handelte es sich um den mit Abstand heftigsten Zusammenprall, den es bis dahin zwischen einem Bischof und einem christlichen Kaiser gegeben hatte. Das wäre, wenn man sich während dieses Kampfes in der Stadt aufhielt – was bei Augustinus der Fall war –, doch ein idealer Ausgangspunkt für Überlegungen zu den Grenzen kaiserlicher Macht gewesen. Augustinus bemerkt aber nur, daß die Unruhe der Stadt sich auch auf ihn und seine Gefährten übertrug.

Diese Neigung zum Unpolitischen korreliert mit Augustins theologischem Bild von Reich und Kaiser. Er modelliert den himmlischen Hof Gottes, anders als viele seiner Zeitgenossen, nicht nach dem irdischen des Kaisers. Und er hält den Kaiser auch nicht für die Entsprechung Christi – was auch vorkam – und nähert ihn diesem auch nicht an. Die so populäre Weltreichelehre spielt bei Augustinus eine untergeordnete Rolle, und das Imperium Romanum ist ihm nicht das Katechon, das den Antichrist für den Moment aufhält. Das Reich hat keine eschatologische Aufgabe. Es ist umgekehrt auch nicht identisch mit der civitas terrena, Reich und Kaiser sind keine Agenten des Teufels. Für den Weg zur civitas Dei aber spielen letztlich ganz andere Kriterien die wesentliche Rolle.

Dem widerspricht auf den ersten Blick, wenn Augustinus die Hinwendung Konstantins zum Christentum als Segen betrachtet. Im Kampf gegen Häretiker und Pagane sind die christlichen Kaiser Werkzeuge Gottes. So können sie wesentlich zur Verbesserung der Zustände auf dieser Welt beitragen – aber eben dieser Welt, in der es keine Vollkommenheit geben kann. Auch für den Kaiser kommt es, wie für jeden Menschen, auf Frömmigkeit, rechten Glauben und christliche Tugenden an. Der politische Erfolg wird davon aber entkoppelt. In seinem Fürstenspiegel im Gottesstaat sagt Augustinus: „Denn wir preisen manche christlichen Kaiser nicht darum glücklich, weil sie länger regierten oder eines sanften Todes starben und ihren Söhnen die Herrschaft hinterließen oder weil sie die Feinde des Staates bezwangen oder weil sie Bürgerkriege verhindern und unterdrücken konnten. Solche und andere Gaben und Tröstungen dieses mühsamen Lebens konnten auch manche Dämonenverehrer empfangen, die nicht zum Reich Gottes gehören, wie es jene tun. Dies geschieht allein durch Gottes Barmherzigkeit, nicht daß etwa die an ihn Glaubenden derlei von ihm ersehnen – als ob das die höchsten Güter seien“ [9].

Wohlfahrt der Gemeinschaft, innerer Friede, äußere Siege – die wesentlichen Kennzeichen politischen Erfolgs – all dies bringt nicht nur keinen in den Himmel, es wird auch nicht als Belohnung für den Glauben vergeben. Auch der christliche Kaiser ist ein sündhafter, fehlbarer, höchst unvollkommener Mensch.

Äußerungen, die auf den ersten Blick ganz anders klingen, relativieren sich bei näherer Betrachtung. So schreibt Augustinus einmal in einem Brief: „Dies befehlen die Kaiser, das auch Christus befiehlt.“ Das scheinbare Ineinanderfallen von Kaiser und Gott wird im nächsten Satz aber sofort qualifiziert: „Wenn die Kaiser nämlich Gutes befehlen, befiehlt durch sie kein anderer als Christus“ [10]. Der Kaiser ist also nur das Werkzeug des Herrn, und auch das nur, wenn er Gutes anordnet. Wer darüber befindet, was gut ist, ist auch klar: niemand anderer als der Verfasser selbst. Der Brief ist nämlich geschrieben im Kontext des Kampfes gegen die Donatisten und rechtfertigt Honorius’ Maßnahmen, die Augustinus nur recht waren.

Kurt Flasch hat zur Stelle bemerkt, daß hier ein Keim zum Widerstandsrecht liegen könnte, den Augustinus aber nicht entfaltet [11]. Flasch mag schon recht haben. Aber theoretische Konzepte zum Widerstand entwickelt man nur, wenn auch praktisch Bedarf zum Widerstand gegeben ist. Das war für Augustinus nie der Fall. Er lebte in der glücklichen Situation, daß er vielleicht nicht immer mit seinem Schöpfer, stets aber mit seinem Kaiser im Reinen war. Der Staat war ihm ein willkommenes, willfähriges und bald auch selbstverständliches Instrument. Augustinus lernte den Staat nie aus der Perspektive des Verfolgten kennen, wie die Donatisten, und auch nicht aus derjenigen des Mißachteten, wie Ambrosius. Statt dessen profitierte er von den kaiserlichen Maßnahmen und auch, wohl ohne es sich recht klarzumachen, von dem Ordnungsrahmen, den das Imperium Romanum ihm bot. Was ich mit letzterem meine, will ich zum Abschluß kurz zeigen.

Augustinus lebte von 354 bis 430. Setzen wir einmal kontrafaktisch sein Leben zwanzig Jahre früher an, mit einer Geburt 334. Der reife, schon getaufte Augustinus hätte die Auseinandersetzungen zwischen Nizänern und Homöern als Beteiligter, vielleicht auch als Leidender erfahren müssen und dabei gelernt, daß die Unterstützung eines Kaisers ein sehr flüchtiges Gut sein kann. Setzen wir sein Leben zwanzig Jahre später an. Dann hätte Augustinus als alter Mann miterlebt, wie schwach das westliche Imperium geworden war. Er hätte unter vandalischer Herrschaft leben müssen, hätte Hippo irgendwann verlassen oder zum Opfer der homöerfreundlichen Politik Geiserichs werden müssen. So aber blieb sein Leiden auf die letzten Monate seines Lebens beschränkt – er starb bekanntlich im belagerten Hippo.

Jetzt wechseln wir den Ort. Hätte Augustinus auf dem Balkan gelebt – Goten, Hunnen und andere Barbaren kamen immer wieder über die Donau, plünderten oder ließen sich gar nieder, unter Vertreibung der ansässigen Bevölkerung. Hätte er in Britannien gelebt – die Römer räumten die Insel Anfang des Jahrhunderts und überließen die Bevölkerung den Angeln und Sachsen. Hätte er in Gallien, Spanien oder auch Norditalien gelebt – nicht enden wollende Einfälle über den Rhein, die Goten, Vandalen, Burgunder und viele andere über ganz Westeuropa brachten. Das heißt nun nicht, daß es in Afrika nie einen Aufstand, eine Plünderung, eine Meuterei gab. Derartiges war in vormodernen Zeiten, als es um die öffentliche Sicherheit weit schlechter bestellt war als heute, aber ganz normal. Im Vergleich mit den anderen Regionen blieben diese Erschütterungen der Ordnung aber gering und kurzlebig. Honorius setzte sich immer wieder durch, und das Leben ging seinen gewohnten Gang weiter, wenn es überhaupt gestört worden war. Meine Damen und Herren, wenn ich gezwungen gewesen wäre, mir in der Spätantike einen Ort und eine Zeit für ein langes und möglichst unbeschwertes Leben auszusuchen, dann hätte ich Nordafrika zur Zeit des Augustinus gewählt.

So kamen Augustinus’ Lebensumstände seinem unpolitischen Naturell entgegen. Er wurde durch keine negative Erfahrung politisiert. Ich will nun nicht etwa darauf hinaus, daß dieser Kontext etwa schon die Augustinische Theologie determiniert habe. Das wäre töricht. Es waren auch andere Faktoren am Werk, und ich zumindest schätze den freien Willen nicht so gering ein. Ich will aber schon behaupten, daß diese günstigen Lebensumstände eine notwendige (nicht hinreichende) Bedingung für die Rolle von Kaiser, Reich und Staat in Augustins Werk darstellten. Augustinus erlebte das Imperium nicht als Feind. Ansonsten hätte er es und seine Herrscher wohl ungünstiger gezeichnet, das Widerstandsrecht, das Flasch vermißt, doch entwickelt und es nicht für letztlich vernachlässigbar gehalten, ob ein orthodoxer Kaiser herrschte oder nicht. Augustinus erlebte das Imperium auch nicht als Verlierer. Dieser zweite Punkt scheint mir noch wichtiger. Das Römische Reich war über lange Zeit derart erfolgreich in seinen Sicherheits- und Ordnungsleistungen, daß das Ausmaß und die Erfüllung dieser Aufgabe aus dem Blick gerieten und für selbstverständlich gehalten wurden – bis zu dem Tag, an dem die Barbaren dann doch kamen. Das passierte Augustinus erst, als es auf sein Werk keinen Einfluß mehr haben konnte. Wäre es früher geschehen, hätte er die Errungenschaften der Römer nicht nur höher geschätzt, sondern sich auch anders mit ihnen identifiziert, mehr in den Bahnen eines Hieronymus.

Statt dessen verteufelte Augustinus den Staat nicht, und er vergötterte ihn nicht. Kaiser und Reich blieben blaß, für sein Welt- und Gottesbild spielten sie keine wesentliche Rolle. Und wir können einen dieser gar nicht so seltenen Scherze der Geschichte konstatieren: Effizienz und Effektivität des Imperium Romanum sicherten einem afrikanischen Denker einen Freiraum, den er zum Entwurf eines Ordnungsmodells nutzte, das ohne dieses Imperium auskam. So schuf Augustinus eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die lateinische Kirche recht unbeschadet den Untergang dieses Imperiums überlebte.

Anmerkungen

[*] Das gesprochene Wort des Vortrags, den ich am 30. Juni 2017 vor der Jahresvollversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V. gehalten habe, ist weitgehend gewahrt. Die Anmerkungen beschränken sich auf die nötigsten Nachweise. Für den historischen Hintergrund verweise ich auf mein Buch Die Spätantike. Der eine Gott und die vielen Herrscher (C. H. Beck Geschichte der Antike), München 2014.

[1] Claud. Hon. VI cos. 520-581; 603-610.

[2] Aug. s. Dolbeau 22,4 (Dolbeau p. 557); 25,26 (Dolbeau p. 266). Zur Datierung François Dolbeau (Hrsg.), Augustin, Vingt-six sermons au peuple d’Afrique (Collection des Études Augustiniennes, Série Antiquité 147), Paris 1996, 245-247, 543-546.

[3] Paolo Liverani, Victors and Pilgrims in Late Anitquity and the Early Middle Ages, Fragmenta 1 (2007), 83-102, hier 83-85.

[4] Aug. civ. V 26.

[5] Aug. conf. IX 15: nos adhuc frigidi a calore spiritus tui [...] (Übersetzung von Kurt Flasch).

[6] Aug. ep. 97,2f.

[7] Richard Klein, Augustinus-Lexikon 3 (2010), 423-425, hier s. v. Honorius imperator.

[8] Hier. epist. 127,12: haeret uox et singultus intercipiunt verba dictantis. capitur urbs, quae totum cepit orbem [...].

[9] Aug. civ. V 24: neque enim nos Christianos quosdam imperatores ideo felices dicimus, quia vel diutius imperarunt vel imperantes filios morte placida reliquerunt, vel hostes rei publicae domuerunt vel inimicos cives adversus se insurgentes et cavere et opprimere potuerunt. haec et alia vitae huius aerumnosae vel munera vel solacia quidam etiam cultores daemonum accipere meruerunt, qui non pertinent ad regnum Dei, quo pertinent isti. et hoc ipsius misericordia factum est, ne ab illo ista qui in eum crederent velut summa bona desiderarent (Übersetzung nach Wilhelm Thimme).

[10] Aug. ep. 105,11: hoc iubent imperatores, quod iubet et Christus, quia, cum bonum iubent, per illos non iubet nisi Christus.

[11] Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken (Universal-Bibliothek 9962), Stuttgart 1994², 171.