ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

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Fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.

Confessiones 1,1

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.

Bekenntnisse 1,1

Jahresvollversammlung der

Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V.

Würzburg, Exerzitienhaus Himmelspforten, 19. Juni 2015

  • Die Predigten Augustins als „Dokumente prallen Lebens“

     

    Die Festrede anlässlich der Jahresvollversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V. vom 19. Juni 2015 im Würzburger Exerzitienhaus Himmelspforten. Von Professor Dr. mult. Hubertus R. Drobner

     

    Vortrag von Prof. Dr. mult. Hubertus R. Drobner: Die Predigten Augustins als Dokumente "prallen Lebens" Prof. Dr. mult. Hubertus R. Drobner bei der Festrede. - Foto: ZAFPeter BROWN beurteilte im Jahr 2001 das Überlieferungsschicksal der 1990 in Mainz neu aufgefundenden Augustinuspredigten, der Sermones Dolbeau, folgendermaßen [1]: „Die ... Sermones Dolbeau wurden, wie ich vermute, im Mittelalter eben wegen der Qualitäten weniger als andere ... Predigten Augustins kopiert, die sie für einen modernen Historiker so aufregend machen: Sie waren zu reich an Details des täglichen Lebens, zu wenig mit den zeitlosen theologischen Themen befaßt, zu tief im Boden des weit entfernten Afrika des 5. Jh. verwurzelt. Die Mönche und Kleriker Nordeuropas, die noch immer eifrig die formalen Werke Augustins lasen und abschrieben, schenkten diesen Dokumenten prallen Lebens wenig Beachtung. Sie waren zu reich an Details einer Welt, die das mittelalterliche Christentum hinter sich gelassen hatte. Was Augustinus selbst betrifft, hat François Dolbeau, der Entdecker der Mainzer Predigten, genau die rechten Worte gefunden: Die Lektüre solcher Predigten ist eine Erfahrung, die man nur mit dem Gefühl vergleichen kann, wenn eine Bandaufnahme die Stimme eines lange abwesenden Freundes zurückbringt. Aber was ist genau der Tonfall dieser Stimme? Wir müssen uns über einen Punkt im klaren sein. Es ist nicht die Stimme des Philosophen Augustinus und nur gelegentlich die des Theologen. Es ist die Stimme des Bischofs Augustinus.“

    Man kann interpretierend hinzufügen: Es ist die Stimme Augustins als Mitmensch, Mitchrist und Seelsorger, der nicht nur hohe Theologie verkündet, sondern immer auch zupackend und praktisch predigt, dabei deutliche Worte findet und immer die konkrete Situation seiner Hörer und Zeit im Auge hat. Davon legen freilich nicht nur die Sermones Dolbeau, sondern sein gesamtes Predigtcorpus lebendiges Zeugnis ab.

     

    I. Das „heiße Pflaster“ von Karthago
    (Sermo Dolbeau 2)

    So heiß das Klima Nordafrikas ist, so heiß wallte auch das Blut seiner Bewohner, wie Augustinus bei einer Predigt in Karthago am eigenen Leibe erfahren mußte (sermo Dolbeau 2) [2].

    Aurelius, der Bischof von Karthago, hatte Augustinus mitten im Winter dringend zu einer Reihe von Predigten eingeladen. So ungern Augustinus im Winter auch reiste, folgte er doch um ihrer Freundschaft willen dieser Einladung. Nun war eine öffentliche Rede eines so berühmten Predigers wie Augustinus ein Ereignis, zu dem Menschen damals wie zu einem Popkonzert strömten. Augustinus selbst bescheinigt seinen Hörern in derselben Predigt „großen Eifer“ und „offensichtliche Begierde, etwas zu hören“.

    Sitzplätze oder gar Platzkarten gab es für die Hörer freilich nicht. Man stand in der Kirche. Nur der Prediger, der Bischof, saß üblicherweise im Zentrum der Apsisrückwand. Wer ihn also gut hören wollte, mußte frühzeitig in die Kirche kommen, um einen der besten Plätze vor der Apsis zu ergattern. Das war besonders im Fall Augustins nötig. Denn so glänzend seine Predigten inhaltlich und stilistisch auch waren, er hatte keine kraftvolle, weittragende Stimme wie Abraham a Sancta Clara, der die Piazza Navona in Rom beschallen konnte. Gerade im Winter klagt er immer wieder über Erkältungen, Heiserkeit, Hals- und Brustschmerzen, die ihm das Reden erschwerten. Dementsprechend war eine ganze Reihe von Gläubigen am 22. Januar in einem der Jahre zwischen 401-411, dem Festtag des in Nordafrika hochverehrten Martyrerdiakons Vinzenz von Saragossa, frühzeitig zur Kirche gekommen und warteten an der Apsisschwelle gespannt auf Augustins Worte.

    Gerade wegen seiner schwachen Stimme hatte sich aber Augustinus an diesem Tage dazu entschlossen, sich an einen beweglichen Ambo in die Mitte der Kirche zu stellen, um auch von den weiter hinten Stehenden besser gehört zu werden. Dabei hatte er freilich „die Rechnung ohne den Wirt gemacht“, d.h. ohne die Heißblütigkeit seiner Hörer.

    „Komm zurück“, riefen die an der Apsis.
    „Kommt doch näher zu mir, hier ist doch noch genug Platz“, lud sie Augustinus ein.
    „Nein, Du mußt zu uns kommen, sonst brauchst Du gar nicht zu predigen“, schallte es ihm daraufhin entgegen.
    Und als er nicht kam, skandierten die Unzufriedenen: „Zeit zur Entlassung, Zeit zur Entlassung“ (nämlich der Katechumenen), d.h. Zeit, die Eucharistiefeier zu beginnen.
    Sie veranstalteten einen solchen Aufruhr, daß es Augustinus tatsächlich unmöglich war, an diesem Tag eine Predigt zu halten.

    Wir wissen das alles, weil Augustinus in seiner Predigt am Tag darauf, am 23. Januar, davon erzählt und als Thema seiner Predigt deshalb den Gehorsam wählt.

    Dabei erwähnt er noch einen anderen Zwischenfall aus seiner eigenen Jugendzeit:

    „Wir wissen doch alle, welche Zügellosigkeit und Unordnung es hier früher zwischen Frauen und Männern gab, denn auch wir nahmen in der Vergangenheit daran teil. ... Als ich als junger Mann in dieser Stadt studierte, verbrachte ich die Vigilien mitten unter Frauen, und sie waren den Frechheiten der Männer so ausgesetzt, daß vielleicht sogar ihre Keuschheit auf die Probe gestellt wurde.“

    Wenn man an die damals im Theater üblichen Obszönitäten denkt, darf man sich diese „Frechheiten“, die sich die Männer gegenüber den Frauen herausnahmen, wohl mehr als nur anzüglich vorstellen, sondern durchaus plastisch, vielleicht sogar handgreiflich.

    Derselbe Bischof Aurelius, der Augustinus eingeladen hatte, war zwischen 390 und 393 Bischof von Karthago geworden und hatte dem Spuk umgehend ein Ende bereitet, indem er die Geschlechter dadurch räumlich trennte, daß er separate Wege, Eingänge und Plätze in der Kirche einrichtete, „damit diese schlechten und schamlosen Knechte nicht am engen Eingang mit dem anfingen, was sie später zu Ende bringen wollten, nämlich das, was sie den an ihnen vorübergehenden Matronen üblicherweise zuriefen“.

    Da der Bischof sicher keine getrennten Wege außerhalb des Kirchengeländes bestimmen konnte, wird man sich die „separaten Wege“ vor dem Eingang in die Kirche wohl als die Pfade durch das vorgelagerte Atrium vorstellen müssen. Die in Karthago ergrabene Basilica Maiorum würde dem entsprechen. Augustinus hat dort nachweislich mehrfach gepredigt, vielleicht auch diesen Sermo.

    In nordafrikanischen Basiliken finden sich auch große auf dem Fußboden markierte Rechtecke, die wohl den verschiedenen Gruppen ihre Plätze anwiesen.

    Nun könnte man diese Vorfälle als Kuriositäten eines weit entfernten Alltags abtun ohne theologische Relevanz, wie es die mittelalterlichen Redaktoren ja offenbar getan haben.

    An der Tatsache freilich, daß Augustinus den Aufruhr seiner Zuhörer nicht einfachhin kritisiert, sondern theologisch-moralisch deutet und nutzt, um seine Hörerschaft das rechte Verhalten aus christlichem Geiste zu lehren, gibt schon den ersten Hinweis auf eine durchaus theologisch und spirituelle Relevanz dieser Dinge.

    Das gilt in noch höherem Maße für das zweite Beispiel aus Augustins eigener – durchaus nicht immer vorbildlicher – Jugendzeit. Warum erwähnt das Augustinus überhaupt? Er hätte es ja mit vornehmem Schweigen übergehen können, auch wenn sich in Karthago genügend Gemeindemitglieder daran erinnerten, vielleicht sogar manch einer seiner ehemaligen Kumpane bei seiner Predigt anwesend war.

    Es genügt auch nicht, es als Teil des rhetorischen delectare einzuordnen, womit ein Redner sich nach den Regeln der Kunst Aufmerksamkeit und Wohlwollen seiner Hörerschaft erhält. Und Anbiederung durch Erinnerung an gemeinsame Streiche kann schon gar nicht Augustins Ziel gewesen sein. Denn er präsentiert es als Beispiel, daß sich die Betreffenden, er selbst eingeschlossen, gegenwärtig völlig geändert hätten und auf diese Jugendstreiche mit Abscheu und Reue zurückblickten. Warum erwähnt er es also?

    Der Grund scheint mir ein theologischer und gleichzeitig pastoraler zu sein. Karthago ist ja Ursprungsort und Hochburg der Donatisten. Von dort ist während der Diokletianischen Verfolgung (311) das Schisma ausgegangen, in der Tradition des nordafrikanischen Rigorismus, der sich schon bei Tertullian und Cyprian gezeigt hatte. Der Donatismus interpretierte den Glaubensartikel der „einen heiligen Kirche“ im Sinne der Anforderung persönlicher, praktischer Heiligkeit der Christen, insbesondere der Amtsträger. Ein sündiger Amtsträger galt ihnen als unwürdig und unfähig, weiterhin sein Amt wirksam auszuüben und die Sakramente gültig zu spenden.

    Nun war spätestens seit der Publikation der Confessiones (um 400) Augustins keineswegs heiligmäßiges Vorleben allgemein bekannt, was für die Donatisten – um es umgangssprachlich zu formulieren – „ein gefundenes Fressen“ war, wie aus der Enarratio in Psalmum 36/3,19-20 hervorgeht. In den Augen der Donatisten machte Augustins früheres, durchaus nicht heiligmäßiges Leben ihn unwürdig und damit unfähig, gültig Sakramente zu empfangen.

    Folgerichtig bezweifelten die Donatisten, daß Augustinus in Mailand überhaupt gültig getauft worden war. Dann war er aber auch in Hippo nicht gültig zum Priester und Bischof geweiht worden. Er war weder Christ noch Amtsträger, und damit waren nicht nur seine Amtshandlungen, sondern auch alle seine Argumente gegen sie hinfällig – und sie zögerten nicht, dies öffentlich zu betonen.

    Gewiß, Augustinus tut diese Vorwürfe schlichtweg als Verleumdung ab, geboren aus purer Verzweiflung. Weil die Donatisten theologisch nichts gegen seine überzeugenden Argumente vorzubringen wüßten, griffen sie zu dem billigen rhetorischen Trick, stattdessen seine Person zu verunglimpfen. Aber damit allein ist es auch nicht getan, denn nicht nur er persönlich, sondern auch die Gemeindemitglieder werden mit diesem Vorwurf konfrontiert. Was sollen sie darauf antworten?
    Sie sollen – das will Augustinus sie lehren – am Beispiel seiner und ihrer eigenen Konversion die Nichtigkeit der donatistischen Heiligkeitstheologie aufzeigen und nach dem Beispiel ihres Bischofs selbst weiter an ihrer eigenen Vervollkommnung arbeiten. Letzlich geht es also bei diesem plastischen Beispiel um nichts Geringeres als fundamentale Ekklesiologie.

     

    II. Seltsame Bräuche
    (Sermo Dolbeau 26)

    Nicht nur gegen die Donatisten, auch gegen die Heiden mußte Augustinus apologetisch tätig werden, wie sermo Dolbeau 26 zeigt [3]. Bei Sermo Dolbeau 26 handelt es sich um die einzige am 1. Januar gehaltene Predigt, die überliefert ist. Sie ist die längste aller erhaltenen Sermones Augustins und umfaßt 17.000 Wörter. François DOLBEAU und Peter BROWN schätzen, daß ihr Vortrag über zwei Stunden gedauert habe, Edmund HILL sogar bis zu drei Stunden oder mehr [4]. Sie interpretieren die außerordentliche Länge der Predigt damit, daß Augustinus seine Zuhörer möglichst lange in der Kirche halten wollte, um sie davon abzuhalten, an den öffentlichen heidnischen Neujahrsfeierlichkeiten teilzunehmen, die wie er in seiner Predigt selbst sagt, mit „Würfelspiel, Trinkgelagen, Absingen von obszönen Liedern, Geilheit, unnützem Lärm auf den Straßen, Schamlosigkeiten im Theater, Tollheiten im Zirkus, zügellose Possen, üblen Scherzen und anderen vielfältigen Tollheiten“ einhergingen.

    Hauptthema der Predigt ist daher die Nichtigkeit der heidnischen Götter und der Bräuche zu ihren Ehren. Er geißelt die Unsinnigkeit und Wertlosigkeit der Verehrung von materiellen Götterstatuen und Bildern, muß dabei aber einen merkwürdigen Gegenvorwurf der Heiden abwehren (§ 10-11):

    „10. ... Du machst jemandem den Vorwurf, er verehre Götzenbilder ... Aber was sagt der anscheinend verständigere und gebildetere Heide zu dir? „Das tun nur die unverständigen Heiden, daß sie ein Götterbild als solches anbeten, so wie es auch bei euch welche gibt, die die Säulen in der Kirche verehren.“
    11. Deshalb sage ich euch, Brüder: Tut nichts, wofür uns die Heiden verspotten können; tretet so in die Kirche ein, daß ihr den Heiden keinen Vorwand bietet, nicht in die Kirche einzutreten.“
    (Man beachte das feine Wortspiel mit „eintreten“ und „Kirche“. Die Christen betreten das Kirchengebäude, die Heiden treten der Organisation der Kirchengemeinschaft bei. Vgl. auch util. ieiun. 10.)

    In § 16 kommt er noch einmal darauf zurück:

    „Wir hatten begonnen, über die gleichsam gebildeteren Heiden zu sprechen ..., weil sie zu uns sagen: ‚Auch ihr habt unter euch Anbeter von Säulen und manchmal sogar von Bildern‛. O wenn wir sie doch nicht hätten, und Gott gebe, daß wir sie nicht haben! Jedenfalls aber lehrt dich das die Kirche nicht. Welcher von ihren Priestern wäre nämlich je auf die Kanzel gestiegen und hätte von dort oben dem Volk verboten, Götzenbilder anzubeten, so wie wir in Christus öffentlich predigen, daß man keine Säulen oder Steine von Gebäuden an heiligen Orten oder sogar Bilder anbeten darf?“

    Wenn also die Verhältnisse so klar wären, wie kommt dann der Gegenvorwurf der Heiden zustande? Es muß doch zumindest den äußeren Anschein von Säulen- und Bilderverehrung gegeben haben. Das belegen auch weitere Quellen.
    Johannes Chrysostomus sagt in einer Predigt zum 2. Korintherbrief im Jahre 392/93 (Hom in II Cor 30,1-2 – PG 61, 606-607):

    „Siehst du nicht, wie viele von euch die Vorhalle dieses Tempels küssen? Manche bücken sich nieder, manche berühren sie mit der Hand und führen dann die Hand zum Mund.“

    Paulinus von Nola schreibt um 400 in seinem Carmen 18, 247-250 (CSEL 30, 108):

    „Er eilte raschen Laufes zum heiligen Wohnort des Felix
    und betrat mit reichen Tränen die heilige Halle.
    An den Türen machte er halt
    und bedeckte die Türpfosten mit Küssen (postibus oscula figit).“

    Die Tatsache, daß Paulinus dabei auf Vergil, Aeneis 2, 490 anspielt: amplexaeque tenent postes atque oscula figunt, zeigt nicht nur das hohe Alter des Supplikationsgestus, sondern auch, daß beide Bräuche für einen Außenstehenden – insbesondere den gebildeten Heiden – als identisch erscheinen mußten.

    Wie soll man das erklären?

    Die monumentale Ausstattung von Kirchen wies oft Säulen am oder vor dem Haupteingang im Narthex auf, insbesondere die Martyrialkirchen wie z. B. in Tebessa (Theveste) und die Cypriansbasilika in Karthago selbst.

    Epiphanius von Salamis (310/20-402/03) berichtete, daß er in einem Dorf in Palästina namens Anautha Kirchentüren mit Vorhängen gerahmt gesehen habe, die Heiligenbilder trugen [5].

    Der offene Doppelportikus der Basilika S. Vitale in Rom bietet ebenfalls ein solche Beispiel; auch er wurde wohl mit schweren Vorhängen geschlossen.

    Noël DUVAL hält für die wahrscheinlichste Erklärung, daß Säulen in der Kirche mit Kreuzen geschmückt waren, wie man sie aus der Kirche des alexandrinischen Pa-triarchen Theonas (281/2-300) kennt [6]: Die eine trägt ein Kreuz, die andere das Christusmonogramm, jeweils gerahmt von einem Kranz und einem Schrein mit zwei Säulen und Architrav. Der Kuß galt also dem Kreuz, nicht der Säule.

    Peter BROWN verweist darauf, daß der Säulenkuß im Zusammenhang mit der Martyrerverehrung stehen könnte [7], und der Kontext der §§ 15-16 der Predigt Augustins, wo er eben von der Verehrung von Martyrern spricht, würde diese Interpretation unterstützen.

    Das Petrusgrab war schon in konstantinischer Zeit mit einem auf vier Säulen ruhenden Baldachin monumentalisiert worden. Seit dem Ende des 4. Jh. (Papst Damasus) wurde diese Ausstattung auf viele Martyrergräber und auf Altäre in Kirchen übertragen, die über Martyrergräbern errichtet worden waren. Auch Heiligenbilder existierten.

    Es würde einleuchten, daß sowohl die Bilder als auch die Säulen der Gräber ehrfürchtig durch einen Kuß verehrt wurden. Säulen und Bilder konnten dabei identisch sein, wenn die Säulen mit Darstellungen von Heiligen geschmückt waren, wie z.B. im Fall der erhaltenen Säule des Altarciboriums in der Domitillakatakombe mit dem Relief des Martyriums des hl. Achilleus.

    Kontext und Predigtabsicht Augustins sind aber auch hier pastoral geprägt, wie die Erwähnung von periti (Gebildete, Aufgeklärte) und imperiti (Ungebildete, Ignoranten) zeigt. Denn es sind überraschenderweise ja gerade die aufgeklärten Heiden, diejenigen, die – wie die Christen – als intelligente Menschen selbstverständlich nicht mehr an den mythologischen homerischen Götterhimmel glaubten, sondern an eine rein geistige Gottheit, die den Christen den Vorwurf machen, selbst Bilderverehrer zu sein.

    Das Problem zu Lebzeiten Augustins besteht, wie dieser sermo zeigt, darin, daß die Fronten zwischen periti und imperiti bei weitem nicht mehr eindeutig sind. Nicht alle Heiden verehren Götterbilder, aber auch nicht alle Christen sind frei von abergläubischen Praktiken. Auf beiden Seiten gibt es periti und imperiti. Während sich aber im heidnischen Kontext die periti scharf von den imperiti abgrenzten, kann die Kirche das nicht tun, weil ja auch (und sogar in besonderem Maße) die imperiti zum universalen Heil berufen sind.

    Augustinus benutzt also den Gegenvorwurf der Heiden, um seine Gemeindemitglieder zu einem geistigen, sprituellen Verständnis ihrer volksfrommen Praktiken und einem entsprechenden Verhalten zu führen, das keinen Anstoß erregen kann.

     

    III. „Du sollst nicht die Ehe brechen“
    (Sermo 9) [8]

    Wenn Sie diese Überschrift hören, meine Damen und Herren, werden Sie schmunzelnd, aber vielleicht auch etwas wehmütig denken: „An den grundlegenden Problemen der Menschen in der Kirche hat sich in 1500 Jahren auch nichts geändert“. In der Tat, Augustinus bezeugt es selbst gegenüber seinen Hörern: „Darin sehe ich praktisch das gesamte Menschengeschlecht darniederliegen, damit, sehe ich, hat man die meisten Schwierigkeiten“ (§ 11). Die Häufigkeit, mit der Augustinus auf dieses Thema in seinen Predigten zurückkommt, bestätigt es. Er spricht nach Ausweis des Corpus Augustinianum Gissense in seinen Sermones ad populum 93 Mal von Ehebruch und 60 Mal von Unzucht (fornicatio).
    Dabei geht es freilich nicht so sehr um pikante Details oder daß Augustinus kein Blatt vor den Mund nimmt – das tut er nie. Bei diesem Thema zeigt sich besonders eindrücklich eine charakteristische Methode Augustins, die Perspektive zu wechseln und so zu überraschend neuen Ergebnissen zu kommen.

    Im Falle von Ehebruch legte nämlich das römische Recht bei Männern und Frauen verschiedene Maßstäbe an. Jeder außereheliche Verkehr einer „ehrenhaften“ (honorata) Ehefrau war strafbar. Beim Mann jedoch nur der Ehebruch mit einer solchen „ehrenwerten“ Ehefrau, weil er das Verfügungsrecht ihres Ehemannes über seine Frau beeinträchtigte. Sklaven und Frauen, die aufgrund ihres Lebenswandels nicht als „ehrenhaft“ galten, begingen keinen Ehebruch.

    So ist es auch Augustinus und seiner Gemeinde geläufig:

    „Die Gewohnheit ist in allem so eingerissen und wird wie ein Gesetz befolgt, so daß vielleicht sogar schon die Frauen davon überzeugt sind, daß das zwar den Männern, nicht aber den Frauen erlaubt sei. Sie hören nämlich üblicherweise, daß Frauen, die etwa mit ihren Sklaven ertappt wurden, auf dem Forum vor Gericht gestellt werden. Daß ein Mann vor Gericht gestellt worden wäre, weil er mit seiner Magd ertappt wurde, haben sie niemals gehört.“ (§ 4)

    Es geht sogar noch weiter – man fühlt sich dabei an männliche Stammtischrunden erinnert, und vielleicht sind sie das auch:
    „So groß ist die Verkehrtheit des Menschengeschlechtes, daß man befürchten muß, daß sich ein keuscher Mann unter unkeuschen schämt. ... Wenn einer unter euch einen Mord begeht, was Gott verhüten möge, wollt ihr ihn aus seinem Vaterland vertreiben. Wenn einer einen Diebstahl begeht, haßt ihr ihn und wollt ihn nicht mehr sehen. Wenn einer falsches Zeugnis gibt, verabscheut ihr ihn. Wenn einer fremdes Hab und Gut begehrt, wird er für einen Räuber und Gesetzesbrecher gehalten. Wenn sich einer aber mit seinen Mägden gewälzt hat, wird er geliebt, freundlich empfangen, Wunden in Scherze verwandelt.
    Wenn es aber jemanden gibt, der sagt, er sei keusch, er begehe keinen Ehebruch, und bekannt ist, daß er das nicht tut, schämt er sich, sich zu denen zu gesellen, die nicht von seinem Schlage sind, damit sie ihn nicht beleidigen, nicht verspotten und nicht sagen, er sei kein Mann.“ (§ 12)

    Das sind die zwei Hauptargumente seitens der Männer, mit denen sich Augustinus pastoral konfrontiert sieht:

    (1) „Das geht nicht“. Da packt Augustinus seine männlichen Zuhörer bei ihrem Stolz, ihrer angeblich so überlegenen Männlichkeit und dreht die Perspektive vom angeblich Nicht-Können zum Nicht-Wollen:

    „Sagt nicht: Das geht nicht. Es ist abscheulich, meine Brüder, es ist schändlich, daß der Mann sagt, das, was seine Frau doch tut, sei unmöglich. Es ist ein Verbrechen, daß der Mann sagt: Ich kann nicht. Was die Frau kann, kann der Mann nicht? Was denn, hat sie denn keinen Körper? ... Die keuschen Frauen beweisen euch, daß sehr wohl geht, was ihr nicht tun wollt, und sagt, es ginge nicht.
    Aber vielleicht meinst du, jene könne es leichter tun, weil sie stark geschützt werde: die eheliche Fürsorge, auch die Abschreckung durch die öffentlichen Gesetze. ... Viele Wachen machen die Frau keuscher, den Mann aber soll eben seine Männlichkeit dazu machen. ... Du bist freier, weil du stärker bist. ... Über dir ist Gott, nur Gott.“ (§ 12)

    (2) Argument: „Ich begehe ja gar keinen Ehebruch, ich gehe ja zu meiner Magd, meiner Sklavin im Haus, nicht zu einer fremden Frau.“

    Hier bringt Augustinus eine Auffassung ins Spiel, die der nicht-christlichen Antike völlig fremd war: die Gleichheit eines jeden Menschen vor Gott, ohne Unterschied des Geschlechtes. (Wenn man heute für Gleichberechtigung kämpft, vergißt man üblicherweise, daß es das Christentum war, das diesen Gedanken überhaupt erst in unsere Kultur eingeführt hat.)

    „Geht nicht dorthin, wohin sie euch nicht folgen sollen. ... Willst du etwa, daß deine Frau zu dir sagt: ‚Gehe ich etwa zu einem fremden Mann? Ich gehe zu meinem Sklaven.‛ .. Du sagst: ‚Es ist keine fremde Frau, zu der ich gehe‛. Willst du etwa, daß zu dir gesagt wird: ‚Es ist kein fremder Mann, zu dem ich gehe‛? Nein, das soll sie nicht sagen.“ (§ 11)

    Daß sich Augustinus damit keine Freunde unter seinen männlichen Zuhörern machte, liegt auf der Hand. Er geht sogar davon aus, daß es seine Predigt Konflikte unter Eheleuten hervorrufen wird:

    „Wenn etwa heute jemand seine Frau energischer erlebt und offener murrend, der es bisher schien, daß es dem Mann erlaubt sei, aber in der Kirche hörte, daß es auch dem Mann nicht erlaubt ist ... und sagt: ‚Es ist nicht erlaubt, was du tust. Das haben wir beide zusammen gehört. Wir sind Christen. ... Ich schulde dir die Treue, du schuldest mir die Treue, und wir beide zusammen schulden Christus die Treue. Auch wenn du mich hintergehst, den, zu dem wir gehören, kannst du nicht hintergehen, du kannst den nicht hintergehen, der uns losgekauft hat.‛
    Wenn der Mann dieses und ähnliches hört, was er nicht gewohnt ist, wird er auf mich wütend, weil er für sich nicht vernünftig werden will. Er wird zornig, er flucht. Vielleicht sagt er sogar: ‚Wieso ist der denn überhaupt hierher gekommen, oder warum ist meine Frau gerade an diesem Tag in die Kirche gegangen?‛ Aber das, glaube ich, sagt er nur in Gedanken, denn das offen auszusprechen, wagt er nicht einmal, wenn er mit seiner Frau allein ist. Wenn er nämlich herausplatzen und das sagen würde, könnte ihm jene womöglich antworten und sagen: ‚Warum fluchst du über den, dem du noch vor kurzem Beifall gespendet hast? Wir sind doch Eheleute. Wenn du mit deiner eigenen Zunge in Zwietracht lebst, wie wirst du mit mir einträchtig leben können?‛“ (§ 4)

    Freilich, das sechste Gebot (bei Augustinus übrigens das fünfte) spricht zwar nur von Ehebruch (adulterium), umfaßt aber auch generell die Unzucht (fornicatio), wie Augustinus unmißverständlich deutlich macht. Denn offensichtlich halten ihm die Junggesellen entgegen:

    „Ich habe ja keine Ehefrau, ich kann machen, was ich will, denn ich sündige ja nicht hinter dem Rücken meiner Frau. ... Ich gehe in ein Bordell, ich halte mich bei einem Freudenmädchen auf, ich gehe zu einer Pro-stituierten und verletze jenes Gebot nicht, das da heißt: Du sollst nicht ehebrechen (Ex 20,14/Deut 5,18) ... Ich verletze auch jenes Gebot nicht, wo es heißt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib (Ex 20,17a/Deut 5,21a). Wenn ich an einen öffentlichen Ort gehe, gegen welches Gebot verstoße ich?“ (§ 14)

    Augustins Antwort sieht die zehn Gebote auf den zwei Tafeln (drei auf Gott bezogen, sieben auf den Mitmenschen) im Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten enthalten, das Doppelgebot aber in der allumfassenden „Goldenen Regel“: „Was du nicht willst was dir getan, das tu’ auch keinem andern an“ (Tob 4,16; vgl. Mt 7,12; Lk 6,31).

    „Du aber sagst: ... Wenn ich zu einem Freudenmädchen gehe, wem tue ich etwas an, was mir nicht widerfahren soll?“
    Antwort: „Gott selbst, was viel schwerer wiegt.“ Jetzt wickelt Augustinus seine Reduktion von zehn auf zwei auf ein Gebot rückwärts ab: Wenn in der Goldenen Regel das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe enthalten ist und die beiden Tafeln des Gesetzes, sagt die Goldene Regel, recht verstanden: „Tue weder Gott noch deinen Mitmenschen an, was dir nicht angetan werden soll“.

    Wenn man freilich glauben würde, daß eine solch grundlegende Argumentation den Widerredner schon überzeugen würde, irrt man sich:

    „Was tue ich denn Gott an?“, antwortet er.
    Du verdirbst dich selbst.
    „Und wieso beleidige ich Gott dadurch, daß ich mich selbst verderbe?“
    Aus demselben Grund, weshalb dich einer beleidigt, der etwa ein Porträt von dir steinigen will, worauf du abgebildet bist und das selbstgefällig in deinem Hause zu deiner eitlen Ehre hängt und weder etwas fühlt, noch sagt, noch sieht. Wenn einer es steinigt, richtet sich die Kränkung etwa nicht gegen dich?
    Wenn du aber das Bild Gottes ... in dir durch unzüchtige Handlungen und durch die Ausschweifungen der Fleischeslust verdirbst, legst du Wert darauf, daß du zu niemandes Ehefrau gegangen bist, und legst Wert darauf, daß du nichts hinter dem Rücken deiner eigenen Ehefrau getan hast, denn du hast ja keine Ehefrau. Aber wessen Bild du durch deine unerlaubten Lüste der Unzucht verletzt hast, das interessiert dich nicht? ...
    Hört auf den Apostel: ... Wißt ihr nicht, daß ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn einer den Tempel Gottes verdirbt, wird Gott ihn verderben (1 Kor 3,16-17). Seht ihr, wie er droht? Du willst nicht, daß dein Haus verdorben wird, wieso verdirbst du das Haus Gottes?“

    Diese Argumentationsmethode, die Augustinus hier am Beispiel des sechsten (bzw. bei ihm: fünften Gebotes) durchführt, darf für seine Predigten als typisch und grundlegend gelten.

    (1) Er theoretisiert nicht, sondern greift ein praktisches pastorales Problem „mitten aus dem prallen Leben“.

    (2) Er nimmt kein Blatt vor den Mund, seine Schilderung ist konkret und plastisch, aber nicht brutal oder verletzend (was gerade bei einem so heiklen Thema wie der Sexualität leicht passieren könnte).

    (3) Er tritt mit dem Hörer in einen Dialog ein, der nicht nur angemessene rhetorische Prosopopoiie ist, sondern offensichtlich den Dialog wiederspiegelt, den er mit seinen Schäflein im Alltag führt. Er erhält sich damit nicht nur das Interesse seiner Hörer (was das Ziel einwandfreier Rhetorik noch nicht übersteigen würde), sondern zeigt ihnen, daß er ihre Probleme gründlich kennt, versteht und ernst nimmt.

    (4) Auf der Grundlage dieser intimen Kenntnis des Menschen wendet er dann auf das Problem seinen äußerst scharfen analytischen Verstand an, der nicht einfachhin kritisiert, sondern in überraschender Weise die übliche Perspektive, aus der seine Hörer das Problem sehen, neu ausrichtet, und zwar nicht, indem er es nur in absurder oder unverständlicher Weise verdrehen würde, sondern indem er auf biblisch-theologischer Grundlage eine verblüffende und gleichzeitig überzeugende praktische Lösung anbietet.

    Es ist, wie wir am Anfang Peter BROWN zitiert haben „die Stimme des Bischofs Augustinus“, des Seelsorgers, der – und das darf man als grundlegenden Charakterzug seines Wesens und seiner Pastoral definieren – profunde Kenntnis und Verständnis des Menschseins mit all seinen Höhen und Tiefen mit einer ungemein scharf analysierenden Auffassungsgabe und klarem Denken verbindet, das zu ganz neuen Perspektiven und überzeugenden Lösungen führt.
    Eines der frappierendsten Beispiele dafür ist außerhalb der Predigttätigkeit Augustins sein unmittelbares Urteil über den Pelagianismus. Niemand hatte zuvor davor daran Anstoß genommen. Als Augustinus das erste Mal davon hört, urteilt er spontan: Das ist christologische Häresie, „evacuatur crux Christi“ – sie macht den Kreuzestod Christi überflüssig.

     

    Epilog

    Die Reihe der Beispiele aus den 567 erhaltenen Predigten Augustins ließe sich hundertfach, ja wohl sogar tausendfach fortsetzen. 25 Jahre sind seit der Entdeckung der Sermones Moguntini vergangen, und sie haben in vielfältiger Hinsicht die Forschungslandschaft radikal verändert. Nicht so sehr, weil sie umwälzende neue Erkenntnisse zur Theologie Augustins enthielten, sondern weil sie den Anstoß gaben, seine Predigten mit neuen Augen zu lesen, auch in Hinsicht auf das Alltagsleben seiner Zeit.

    Denn, wenn man den mittelalterlichen Redaktoren anlastet, nur an den „zeitlosen theologischen Themen“ interessiert gewesen zu sein, nicht an den „Details des täglichen Lebens“, kann man auch die Moderne nicht ganz davon freisprechen, und man kann sich nur wünschen, daß die aktuelle Forschung mehr und mehr die Predigten Augustins als das liest, was sie sind: nicht nur Quellen für Augustins Denken, sondern „Dokumente prallen Lebens“ seiner Zeit.

     

    Anmerkungen:

    [1] Peter BROWN, Augustine the Bishop in the Light of New Documents: Patristica. Proceedings of the Colloquia of the Japanese Society for Patristic Studies, Supple-mentary Volume 1 (2001) 131-152, hier: 134 f.

    [2] Augustin d’Hippone, Vingt-six sermons au peuple d’Afrique. Retrouvés à Mayence, édités et commentés par François DOLBEAU (= Collection des Études Augustiennes, Série Antiquité 147), Paris 1996/22009, 328-344.

    [3] Ebd. 345-417; Hubertus R. DROBNER, Augustinus von Hippo, Predigten zu Neujahr und Epiphanie (Sermones 196/A-204/A). Einleitung, Text, Übersetzung und Anmerkungen (= Patrologia 22), Frankfurt 2010, 107-297.

    [4] DOLBEAU (Anm. 2) 352; BROWN (Anm. 1) 134; The Works of Saint Augustine. A Translation for the 21st Century. Sermones III/11: Newly Discovered Sermons. Translation and Notes Edmund HILL, editor John E. ROTELLE, Hyde Park/NY 1997, 180-237, hier: 229 Anm. 1.

    [5] Epistula ad Iohannem Hierosolymitanum, ed. Georg OSTROGORSKY, Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilderstreits, Breslau 1929 (= Amsterdam 1964), 74 [frg. 31].

    [6] Vgl. Noël DUVAL, Commentaire topographique et archéologique de sept dossier des nouveaux sermons: Augustin prédicateur (395-411). Actes du Colloque International de Chantilly (5-7 septembre 1996), édités par Goulven MADEC (= Collection des Études Augustiennes, Série Antiquité 159), Paris 1998, 194-196.

    [7] Vgl. Peter BROWN, Augustine and a practice of the imperiti. Qui adorant columnas in ecclesia (S. Dolbeau 26.10.232/Mayence 62): ebd. 370-375.

    [8] Ed. Cyrille LAMBOT: CCL 41 (1961) 105-151; Hubertus R. DROBNER, Augustinus von Hippo, Predigten zu den Büchern Exodus, Könige und Job (Sermones 6-12). Einleitung, Text, Übersetzung und Anmerkungen (= Patrologia 10), Frankfurt 2003, 153-220.

  • Die Stimme des fernen Freundes

    Hubertus Drobner skizziert den Bischof Augustinus als prinzipienfesten und lebenserfahrenen Seelsorger. Ein Bericht der überregionalen katholischen Zeitung «Die Tagespost» über den öffentlichen Vortrag anlässlich der Jahresvollversammlung 2015 der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V. Von Regina Einig

    Würzburg (DT) Die Lebensweise der Christen fügt sich selten schnurgerade in den im Evangelium vorgezeichneten Weg ein. Dass das bischöfliche Lehramt als Korrektiv zu Verflachungserscheinungen und Irrtümern in Kirchenkreisen nötig ist, veranschaulichte der Paderborner Patrologe Hubertus Drobner am Samstag in Würzburg in einem glänzenden Vortrag über die Predigten des Kirchenvaters Augustinus (354–430). Anlass war die Jahresvollversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung e.V.

    Als „Dokumente prallen Lebens“ stellte Drobner Augustins Predigten vor. Die Trefferquote im digitalen Nachschlagewerk „Corpus Augustinum Gissense“ bestätigt diese Einschätzung: 93 Mal spricht der Bischof von Hippo in seinen „Sermones ad populum“ von Ehebruch, 60 Mal von Unzucht. Mit der ehelichen Treue hatten die Gläubigen nach Einschätzung des heiligen Augustinus die meisten Schwierigkeiten. Konsequenterweise verkündete der Seelsorger Augustinus nicht nur hohe Theologie, sondern predigte zupackend und praktisch. Deutliche Worte paaren sich in den Texten mit persönlichen Erinnerungen und überraschenden Argumenten. „Die Lektüre solcher Predigten ist eine Erfahrung, die man nur mit dem Gefühl vergleichen kann, wenn eine Bandaufnahme die Stimme eines lange abwesenden Freundes zurückbringt“, zitierte Drobner François Dolbeau, der 1990 in Mainz Augustinuspredigten entdeckt hatte. Am Beispiel der „Sermones Dolbeau“ machte der Patrologe fest, dass die Begeisterung zeitgenössischer Historiker für den Verkündigungsstil des Bischofs von Hippo nicht immer geteilt worden sei. Im Mittelalter habe das Interesse der Wissenschaft eher den zeitlosen theologischen Themen gegolten, weniger dem Gesellschaftspanorama Afrikas in der Spätantike.

    Die Mainzer Predigten vermitteln dem Leser aufschlussreiche, zuweilen auch unterhaltsame Eindrücke vom binnenkirchlichen Klima Afrikas im fünften Jahrhundert. Predigen bedeutete auch für einen glänzenden Rhetor wie Augustinus harte Arbeit und Konfliktpotenzial. Im Brauchtum seiner Zeit verschwammen die Grenzen zwischen Gebildeten und schlichten Gemütern. Drobner führte als Beispiel für eines der geistlichen Minenfelder der Spätantike die Bilderverehrung an: Während aufgeklärte Heiden den Glauben an den mythologischen homerischen Götterhimmel aufgegeben hätten, seien Christen nicht immer frei von abergläubischen Praktiken gewesen.

    Auf die Probe gestellt wurde Augustinus auch in Karthago. Dort reagierten die Kirchenbesucher in den vorderen Reihen ungehalten, als der nicht allzu stimmgewaltige Gastprediger anders als zu seiner Zeit üblich statt in der Apsis mitten in der Kirche sprechen wollte, um von den entfernt stehenden Zuhörern besser verstanden zu werden. Zufall oder nicht, das Thema der Predigt am folgenden Tag lautete Gehorsam. Allerdings flocht Augustinus in dieselbe Predigt auch Erinnerungen an seine alles andere als sittlich vorbildliche Jugend in Karthago ein und vermied damit den Eindruck eines moralinsauren Mahners. Drobner erinnerte in diesem Zusammenhang an Karthago als Hochburg der Donatisten, gegen deren Irrlehren sich der Amtsträger Augustinus durch den Verweis auf Jugendsünden abgrenzte. Der Donatismus habe den Glaubensartikel „der einen heiligen Kirche“ im Sinne der Anforderung persönlicher Heiligkeit der Christen interpretiert. Ein sündiger Amtsträger habe sowohl als unwürdig gegolten als auch als unfähig, die Sakramente gültig zu spenden. Nach Darstellung Drobners verband Augustinus mit seiner Predigt ein pastorales und zugleich theologisches Motiv. Die Gemeinde solle „am Beispiel seiner und ihrer eigenen Konversion die Nichtigkeit der donatistischen Heiligkeitstheologie aufzeigen und nach dem Beispiel ihres Bischofs selbst weiter an ihrer eigenen Vervollkommnung arbeiten“, so der Referent. Letztlich gehe es bei diesem Beispiel um „fundamentale Ekklesiologie“.

    Augustins Predigt über das sechste Gebot weist ihn darüber hinaus als nüchternen Beobachter aus. Seiner Zeit war er weit voraus und verfocht einen seiner Epoche vollkommen fremden Gedanken: die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das römische Recht legte für die Geschlechter verschiedene Maßstäbe an und begünstigte damit ein Klima des Wohlwollens gegenüber männlichen Ehebrechern. Während sich eine Frau mit jedem außerehelichen Verkehr strafbar machte, verstieß der Mann nur gegen das Recht, wenn er sich mit einer „ehrenwerten“ Ehefrau einließ, nicht aber mit Sklavinnen und Prostituierten. Gegen männliche Bequemlichkeit predigte Augustinus unmissverständlich: „Sagt nicht: das geht nicht. (...) Viele Wachen machen die Frau keuscher, den Mann aber soll eben seine Männlichkeit dazu machen. ... Du bist freier, weil du stärker bist ... über dir ist Gott, nur Gott.“ (Sermo 9). Treue und Selbstbeherrschung erklärt er zur Willensfrage und damit zum Indiz echter Männlichkeit.

    Augustins Predigten zeichnen sich Drobner zufolge durch ihre Nähe zur Gemeinde aus: Der Bischof trete mit den Hörern in einen Dialog ein, der offensichtlich den Dialog wiederspiegele, den er mit seinen Schäflein im Alltag führt.

    Der auch optisch gelungene Vortrag (» siehe auch den vollen Wortlaut des Vortrags) schlug mühelos die Brücke zwischen der Gegenwart und der Spätantike. Analytische Kraft und Kenntnis von Schrift und Tradition der Kirche paaren sich bei Augustinus zu einer authentisch barmherzigen Seelsorge. Wie eine menschennahe Pastoral aussieht, lässt sich in den Predigten hervorragend nachlesen. Wäre die Kirche der Öffentlichkeit im 21. Jahrhunderts einen Beweis schuldig, dass sie sich im Lauf ihrer Geschichte immer wieder aufmerksam mit den Nöten der Menschen befasste, hätte der Bischof Augustinus ihn neben anderen überzeugend erbracht.

    Regina Einig

    Quelle: © Die Tagespost vom 25.06.2015, Seite 6 - http://www.die-tagespost.de

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