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Festvortrag 2016 (PDF-Version) |
Mütter, Väter und verlorene SöhneGenerationenbeziehungen in den Bekenntnissen des Augustinus von HippoFestvortrag anlässlich der Jahresvollversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Augustinus-Forschung
Würzburg, Burkardushaus, 08.07.2016Von PD Dr. Jochen Schultheiß |
Generationenbeziehungen stellen eine grundlegende Lebenserfahrung aller Menschen dar [1]. In der modernen psychologisch-pädagogischen Forschung wird der Familie, und hier insbesondere der Eltern-Kind-Beziehung, eine elementare Bedeutung für die Identitätsbildung, die Entwicklung des subjektiven Selbstverständnisses und die Sozialisation des Menschen beigemessen: Grundlegende Prägungen vollziehen sich durch Tradierung von Generation zu Generation. Generationenbeziehungen verfügen über eine hohe Bindungsintensität und können von emotionaler Nähe und starker Solidarisierung bestimmt sein. Gleichzeitig ist ihnen auch ein großes Konfliktpotential inhärent, da sie in Konkurrenz zu anderen Formen sozialer und mentaler Bindung des Individuums stehen können.
Auch für das Altertum gilt, dass die Familie eine der wichtigsten sozialen Einheiten darstellte und man darf somit davon ausgehen, dass die Einbindung in familiäre Zusammenhänge sowie die daraus sich ergebenden sozialen und psychischen Konsequenzen elementare Lebenserfahrungen eines jeden Menschen in der Antike darstellten.
Generationenbeziehungen und religiöse Sprache
Das Christentum bezieht sich auf Generationenbeziehungen und Familienverhältnisse aber nicht nur in ihrem eigentlichen Sinn. Ein zentrales Merkmal religiösen Sprechens stellt die Metapher dar, die Rede im übertragenden Sinn, die unumgänglich ist, will man sich über Gott, der jenseits der menschlichen Erfahrung liegt, Vorstellungen bilden. Hierbei kommt dem Bildfeld der Familie und der Generationenbeziehungen eine bedeutende Stellung zu: In Generationenverhältnisse ist der Mensch durch seine Leiblichkeit in der empirischen Welt eingefügt, jedoch benutzt auch die Sprache der Bibel und der christlichen Tradition Metaphern aus dem Bereich der Generationenbeziehungen, um das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen sowie zu Gott oder der Kirche auszudrücken. Das Neue Testament entwickelt eine durch das Bild der Neugeburt in der Taufe begründete Konstruktion einer geistigen Verwandtschaft, wodurch neben die auf leiblicher Geburt beruhende Blutsverwandtschaft ein auf spiritueller Ebene definierter Zusammenhang zwischen den Individuen tritt. Bedeutend ist das Konzept der Gotteskindschaft, das insbesondere auf die Anrede Gottes als Vater im Vater unser zurückgeht [2]. Das als Generationenbeziehung bestimmte Verhältnis zwischen Mensch und Gott als eines zwischen Kind und Vater zieht die bildliche Auffassung von den Menschen als Geschwister nach sich. Die Vorstellung vom Menschen als ‚Kind Gottes‘ wird in der Bibel und der christlichen Tradition erweitert um die Vorstellung einer Kindschaft des Menschen im Sinne der Kindheit als Lebensaltersstufe. Auch die im Glauben jungen Christen können metaphorisch als Kinder bezeichnet werden.
Die Metaphorik, wenn sie auf das Verhältnis Gott – Mensch und Kirche – Mensch angewandt wird, kann eine Substituierung der verwandtschaftlichen Eltern-Kind-Beziehung bewirken. Metaphern aus dem Bildfeld der Generationenbeziehungen werden jedoch auch dazu verwendet, um interpersonale Beziehungen auf einer spirituellen Ebene neu zu bestimmen. Eine Person, die eine andere zum Glauben bringt, kann als geistige Mutter oder geistiger Vater bezeichnet werden.
Wenden wir uns Augustins Bekenntnissen zu, die eine auf neun Bücher sich erstreckende autobiographische Reflexion umfassen, in der der Erzähler seinen Lebensweg von der Geburt bis zum Tod seiner Mutter beschreibt und hierbei ein Bekenntnis seiner Sündhaftigkeit, aber auch seines Lobs und seines Glaubens ablegt. Auch Augustinus reflektiert hierin Eltern-Kind-Beziehungen, die auf zwei verschiedenen Sprach- und Vorstellungsebenen angesiedelt sind, wobei die eine die Ebene der empirisch-realen Welt darstellt, die andere die Ebene der religiös-metaphorischen Sinnstiftung.
Der Vater
Die Familie wird in den Confessiones zum Erfahrungsort, durch den sich die Trennlinie des kulturellen Umbruchs der Spätantike zieht. Dem Vater kann für die geistige Entwicklung des Sohnes keine Rolle beigemessen werden, so dass er gegenüber der Mutter deutlich zurücktritt. Dies zeigt sich bereits bei der Reflexion über die Geburt, wenn Augustinus schreibt: [siehe Text 1]. – Es ist Gott, von dem sich Augustinus aufgenommen fühlt. Hierbei ersetzt Augustinus gezielt die rituelle Aufnahme des Neugeborenen durch den leiblichen Vater, der dadurch das neugeborene Kind als Teil der Familie annimmt. Die vom römischen Vater ausgeführte Aufnahme des Kindes, eine Bestätigung der patria potestas, wird durch göttliches Wirken substituiert. Insgesamt verkörpert der Vater im Innerweltlichen begründete Wertvorstellungen, die Augustinus ablehnt. Er steht in paganer Tradition für ein auf beruflichen Erfolg ausgerichtetes Bildungsdenken und eine an Fortpflanzung interessierte Familienräson. Das wird deutlich an den verschiedenen Auffassungen, die er im Gegensatz zu Monnica und dem Erzähler Augustinus über Familie und Bildung vertritt, wobei der Vater für ein säkulares Familiendenken steht. Sein Interesse ist auf den Fortbestand der Familie gerichtet, – eine Ausrichtung, die in ihm die Bedeutung der Familie in der paganen römischen Kultur erkennen lässt. Der Vater beachtet bei seinem Interesse an der Fortpflanzung nicht die von seinem Sohn aus der nachträglichen Erzählerperspektive festgestellte moralische Bedrohung durch die Sexualität. Augustinus verurteilt diese Wertvorstellungen, denn darin zeige sich die Fehlorientierung auf die creatura, die den creator ignoriert.
Aber die Tröstungen deiner Barmherzigkeit haben mich aufgenommen. susceperunt me consolationes miserationum tuarumDie Familie wird auch zur Projektionsfläche für Augustins Kritik an der paganen Bildungstradition, die besonders in den ersten beiden Büchern einen weiten Raum einnimmt. Der Vater vertritt auf falsche Ziele ausgerichtete Werte. Seine Motivation, den Sohn den Weg der Bildung beschreiten zu lassen, bedenkt nicht Gott, ist stattdessen auf Eitelkeiten, inania, gerichtet, unter denen eine Fixierung auf beruflichen Erfolg zu verstehen ist. Letztendlich bringt hier Augustinus seine Bildungskritik auf den Punkt und weist zugleich den Weg für eine christliche Bildung, die dem Ziel dienen soll, das Gottesverständnis zu fördern [3].
Es wäre jedoch falsch, aus dieser negativen Darstellung den Schluss zu ziehen, der Vater diene Augustinus ausschließlich als Kontrastfigur, der nur Ablehnung entgegengebracht würde. Vom gnadentheologischen Standpunkt aus spiegelt sich im Vater eine allgemeine Condicio humana wider, der Augustinus auch selbst unterliegt. Der Vater ist also nicht bloß Kontrastfigur, schon gar keine Hassfigur, im Gegenteil gilt es, ein in diese Figur eingearbeitetes identifikatorisches Moment zu Augustinus zu bedenken, der sich auch selbst dafür anklagt, dass seine Aufmerksamkeit auf die Schöpfung gerichtet war.
Der verlorene Sohn
Neben die leibliche Vaterschaft treten metaphorische Konzepte. Eine wichtige Metaphorisierung von Vaterschaft bildet das als biblische Vorlage zum eigenen geistigen Entwicklungsweg wiederholt durch Zitate wachgerufene Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Identifikation mit dem verlorenen Sohn bildet eine grundlegende Denkfigur, mit der Augustinus seine eigene freiwillige Abwendung und spätere demütige Rückwendung zu Gott in der Vorstellungswelt der Bibel fassen kann. Bei der Darstellung seines Lebensweges folgt Augustinus von der philosophischen Tradition gespeisten Vorstellung, wonach die Sündhaftigkeit des Menschen in seiner Hinwendung zu äußerlichen Dingen, zu den Sinnen und zum Körper, gesehen wird. Der Verweis auf das biblische Gleichnis ist im ersten Buch eng verknüpft mit Anspielungen auf Plotin. Hier erzielt Augustinus eine Integration von neuplatonischem und christlichem Denken, was gerade durch die Verwendung gleicher Metaphernfelder in beiden Denkschulen ermöglicht wird. Plotin (205-270 n. Chr.) kann als entscheidender Impulsgeber der seit dem 3. Jahrhundert dominierenden Strömung des Neuplatonismus gelten. Im Zentrum seiner Ontologie steht die Vorstellung von dem Einen als die selbst jenseits des Seins stehende Spitze einer hierarchischen Seinsordnung, aus der alles Seiende hervorgeht. Das Seiende ergießt sich in sogenannten Hypostasen absteigend geordnet über Geist und Seele bis hin zur Materie als unterster Stufe. Niedere Hypostasen sind den übergeordneten gegenüber minderrangig, sie tragen jedoch ihren Ursprung stets in sich und streben nach der Vereinigung mit ihrer Ursache. Der Kosmos ist somit einerseits gekennzeichnet von Bewegungen, die aus dem Einen hervorgehen – πρόοδος oder lateinisch exitus,– andererseits von solchen Bewegungen, die zu dem Einen umkehren – ἐπιστροφή oder lateinisch reditus. Die menschliche Seele, die dieser ontologischen Dynamik unterliegt, muss für ihre Rückkehr sich vom Äußeren ab-, und sich selbst zuwenden, um auf einem Weg der inneren Läuterung zurück zu ihrem transzendenten, göttlichen Ursprung zu finden. Diese sehr abstrakte Philosophie findet in Augustins Lebensdeutung [siehe Text 2]: „Was wundert es aber, dass ich mich so Eitelkeiten zuwandte und von dir entfernt wurde, mein Gott, ich ging hinaus,“ dann folgen Konkretisierungen aus dem Schulleben mit der oben dargestellten Abwendung von einer Ausrichtung auf Gott. Er fährt fort: „Aber auch jetzt reißt du aus dieser gewaltigen Tiefe die Seele, die dich sucht und dürstet nach deinen Freuden und deren Herz dir sagt [siehe Text 3]: ‚Ich habe dein Antlitz gesucht; dein Antlitz, Herr, will ich suchen.‘ – weit entfernt nämlich von deinem Antlitz in dunkler Leidenschaft. Denn nicht mit Füßen und in räumlichen Abständen geht man von dir weg oder kehrt zu dir zurück, nicht hat dein jüngerer Sohn Pferde oder Wagen oder Schiffe gesucht oder ist mit sichtbarem Flügel davongeflogen oder hat unter Bewegung des Knies den Weg zurückgelegt, um in entfernterer Gegend lebend verschwenderisch zu vergeuden, was du ihm beim Aufbruch gegeben hattest. In dieser Gabe zeigte sich deine väterliche Milde; du warst dem bedürftigen Sohn gegenüber noch milder, als er zurückkehrte: Also in gieriger Leidenschaft zu sein, das heißt im Dunkeln zu sein, und das heißt, weit entfernt von deinem Antlitz zu sein.“
ganz konkrete Anwendung. Der Kirchenvater interpretiert sein falsch ausgerichtetes Denken in der Jugend als eine Entfernung von GottHierbei spielt Augustinus auf eine plotinische Textpassage an, die ebenfalls die Bildhaftigkeit der Heimat (πατρίς) kennt und herausstreicht, dass die Entfernung nicht räumlich zu verstehen sei. In der Enneade 1,6 Über das Schöne wird in der Schau des Schönen das Glück des Menschen und somit sein Daseinsziel erkannt. Im vorletzten Abschnitt der Schrift geht Plotin der Frage nach, wie und mit welcher Methode man zur Schau der unfassbaren Schönheit gelangen kann. Voraussetzung für die Schau ist die Wendung vom Äußeren zum Inneren. Diese Bewegung von den körperlichen Abbildern weg drückt Plotin bildhaft als eine Flucht aus. Er fasst diesen Aufstieg zum Schönen als eine metaphorische Rückkehr in die Heimat auf, wobei er sich auch unter Verwendung eines Zitas aus Ilias 2, 140 auf die Heimkehrhandlung der Odyssee bezieht: „Fliehen wir also in die liebe Heimat. (...) Dort haben wir also unsere Heimat, von wo wir hergekommen sind, und dort unseren Vater. Und was ist nun die Reise und die Flucht? Nicht mit den Füßen muss man sie hinter sich bringen, die Füße tragen einen ja immer nur von einem Stück Erde zum anderen; du musst dir auch keinen Pferdewagen oder irgendein Wasserfahrzeug besorgen, sondern auf all das verzichten und überhaupt nicht mehr sehen, sondern die Augen gleichsam schließen und dafür ein [4] Die exitus-reditus-Thematik wird bei Plotin also mit dem Bild des Verlassens und Wiederaufsuchens der πατρίς Ausdruck verliehen. Augustinus kann in seiner Lebensdeutung christliches und neuplatonisches Denken zusammenführen, da sie Bilder aus denselben Themenfeldern verwenden. Gleichzeitig erweitert er den Bildbereich um die konkrete Vater-Sohn-Beziehung des Gleichnisses und somit um ein spezifisch christliches Moment. In der Textpräsentation wird dies schön sichtbar: in roter Farbe sind die plotinischen Elemente im Augustinustext, in grüner die Entnahmen aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn und in oranger schließlich der Plotin und der Parabel gemeinsame ‚Vater‘ markiert [Text 4]:
anderes Sehvermögen eintauschen.“Denn nicht mit Füßen und in räumlichen Abständen geht man von dir weg oder kehrt zu dir zurück, nicht hat dein jüngerer Sohn Pferde oder Wagen oder Schiffe gesucht oder ist mit sichtbarem Flügel davongeflogen oder hat unter Bewegungen des Knies den Weg zurückgelegt, um in entfernter Gegend verschwenderisch zu vergeuden, was du ihm beim Aufbruch gegeben hattest. In dieser Gabe zeigte sich deine väterliche Milde; du warst dem bedürftigen Sohn gegenüber noch milder, als er zurückkehrte: Also in gieriger Leidenschaft zu sein, das heißt im Dunkeln zu sein, und das heißt, weit entfernt von deinem Antlitz zu sein. (1,18,28)
Die Mutter
Gänzlich anders gestaltet sich das Verhältnis zur Mutter Monnica. Indem sie als Korrektiv den Protagonisten auf seine Verirrungen hinweist, kann er ihre Funktion im erzählenden Rückblick als ein Instrument der göttlichen Gnade deuten. Augustinus interpretiert das Verhalten Monnicas als von Gott veranlasst, der mit Augustinus vermittels seiner Mutter kommuniziert. Die Reaktionen der Mutter werden für den Erzähler Augustinus zu göttlichen Ermahnungen – admonitiones – in der empirischen Welt. Erzählerisch gestaltet Augustinus dieses Verhältnis in einem Spannungsbogen, der im 3. Buch mit dem Traum der Monnica über Augustins Rückkehr zum rechten Glauben ansetzt und im Anschluss an die Konversionsszene im 8. Buch in Augustins Einsicht in seine Richtigkeit sich erfüllt. Der Figur [siehe Text 5]. Sie hat in ihm also das intuitive Moment des christlichen Glaubens begründet, das ihn bei der Lektüre der Cicero-Schrift Hortensius den Namen Christi vermissen lässt und das ihm somit auch bei größtem Irren eine Rückkehr zum Christentum ermöglicht. Auch die Bedeutung Monnicas für das gemeinsame Visionserlebnis von Ostia im 9. Buch ist im Zusammenhang mit ihrer Rolle im gesamten autobiographischen Teil zu sehen: bereits die Tatsache, dass es sich hierbei um einen gemeinschaftlichen Aufstieg handelt ist eine bemerkenswerte, von vergleichbaren Schilderungen abweichende Tatsache. Diesen geistigen Aufstieg erlebt Augustinus gerade gemeinsam mit der Mutter, der richtungweisenden Begleiterin auf seinem Weg zur richtigen Gotteserkenntnis.
der Mutter kommt somit eine strukturierende Funktion in der Darstellung der Abwendung und erneuten Zuwendung zu Gott zu. Durch seine Mutter habe er „den Namen Christi mit der Muttermilch getrunken“Durch ihre Funktion als Korrektiv bildet sie eine Kontrastfolie zu Augustinus, vor deren Hintergrund seine Abwendung von Gott hervortritt. Das Irren des Protagonisten wird mit Einstellungen Monnicas kontrastiert, die dieser erst später selbst teilen wird.
Dies manifestiert sich im Problem des rechten Trauerns. Monnica bildet einen Gegensatz zum Protagonisten Augustinus, insofern sie nicht um, sondern für ihren im Glauben gestorbenen Sohn weint und sich in dieser Trauer an Gott wendet. Hiermit setzt sie schon in ihrem Handeln die Erkenntnis um, zu der Augustinus erst noch gelangen wird.
Die Darstellung ihrer Trauer um den Sohn ermöglicht es, eine erweiterte Perspektive auf die Haupthandlung um den Protagonisten zu erlangen. Das Handeln der Figur Augustinus wird nicht bloß aus der nachträglichen Perspektive des Erzählers kritisiert, sondern erfährt eine Kontrastierung von einer moralisch höherstehenden Warte bereits in der erzählten Zeit durch die Figur der Monnica. Als Figur der Erzählung ist sie auf den Protagonisten Augustinus hin funktionalisiert: durch ihre Trauer wird seine Situation der Abwendung von Gott auch emotional bewertet.
In der Relation zwischen Monnica und Augustinus sind jedoch auch Momente der Identität angelegt. Neben anderen Figuren dient auch Monnica dem Erzähler Augustinus dazu, die am eigenen Beispiel festgestellte Sündhaftigkeit zu demonstrieren und diese so als ein allgemein menschliches Phänomen zu präsentieren. In der Erzählung eines Ereignisses aus der Kindheit der Mutter, bei dem sie sich trotz bester Erziehung nicht davon zurückhalten kann, von dem Wein zu kosten, den sie aus der Vorratskammer holen musste, eine Szene, auf die ich später nochmals näher zu sprechen komme, ergänzt Augustinus die Reflexionen über die falsche Willensausrichtung aufgrund der Erbsünde im 2. Buch, die Birnendiebstahlsszene, um den Aspekt der Erziehung und um die Frage, in welcher Beziehung sündhafter Wille und Erziehung zueinander stehen. Monnica dient hier als eine Figur, die eine Identifizierung mit Augustinus erlaubt. Augustins Vorstellung über den unter der Erbsünde depravierten Willen des Menschen, die er in der Birnendiebstahlsszene an sich selbst exemplifiziert hat, wird auf Monnica übertragen und somit verallgemeinert. Neben Monnica dienen auch andere Figuren besonders auch sein Sohn Adeodatus Augustinus dazu, an der Darstellung der eigenen Person entwickelte Erkenntnisse einerseits wieder aufzunehmen und ihnen dadurch eine größere Allgemeingültigkeit zu verleihen, andererseits aber auch um bisher noch nicht beleuchtete Aspekte zu erweitern.
Dies alles macht deutlich, dass Augustins Lebensdarstellung und -deutung darauf abzielt, Beispiele, exempla, darzustellen, indem sie Erfahrungszusammenhänge widerspiegelt, die ein Leser oder eine Leserin mit Augustinus oder seinen Figuren teilen kann. Die Figuren stellen dem Leser Identifikationsangebote bereit. Indem diese Beispiele den Leser zum christlichen Glauben und zu einer christlichen Lebensweise hinführen sollen, verfolgen die Confessiones eine protreptische Intention, d.h. die Absicht, den Leser oder die Leserin zum rechten Glauben hinzuführen.
Monnica als exemplum einer christlichen Ehefrau und Mutter
Dies gilt nicht nur für die Figur Augustinus und nicht nur für die Thematik der Sündhaftigkeit. Auch Monnica erfüllt die Funktion eines Exemplums, wobei sie beispielhaft für eine christliche Ehefrau und Mutter steht. Erzählerisch bietet sich für diesen Punkt vor allem der biographische Nachruf im 9. Buch an. Er ist in der Tradition einer römischen Leichenrede, einer laudatio funebris, verfasst. Augustinus erweist sich in der Verwendung literarischer Formen als Autor einer Umbruchszeit. Gattungen und Inhalte auch der paganen literarischen Tradition werden übernommen, aber in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt. So nimmt Augustinus beispielsweise mit seiner Anlehnung an die klassische Leichenrede ein Element der traditionellen familialen Memorialkultur auf. Lobestopoi der paganen laudatio funebris werden verwendet, jedoch christlich gedeutet, erweitert oder ersetzt. Augustinus nimmt also eine traditionelle Textgattung auf, ersetzt aber ein mit ihr verbundenes, jedoch als nicht mehr hinreichend erkanntes Denken durch ein christliches, das allein sinnstiftend für ihn sein kann.
Dieser Nachruf erlaubt es, durch einen Rückblick im Rückblick die zeitliche Dimension der Lebensbetrachtung zu erweitern. Der Rückblick auf Monnicas Leben, in die zeitliche Tiefendimension eines Lebens, gibt Augustinus ein erzähltechnisches Mittel an die Hand, mit dem er verschiedene Lebensalter, aber auch verschiedene mögliche Lebensformen einer Frau beleuchten kann. Neben der vidua casta, der keuschen Witwe, kann auch die christliche Ehefrau an dem einen Beispiel der Monnica beleuchtet werden.
An Monnica zeigt Augustinus auch für eine Ehefrau und Mutter die Möglichkeit auf, einer christlichen Lebensweise zu folgen. Hier wird an ihrem Beispiel die Möglichkeit einer christlichen Eheführung verdeutlicht, wobei gerade die topischen – also in der literarischen Tradition immer wiederkehrenden Beschwernisse der Ehe – molestiae nuptiarum – aufgenommen werden, die in der pro-asketischen Schriftstellerei gerade für die Wahl eines alternativen Lebensweges zur Ehe angeführt werden: so etwa die Unannehmlichkeiten der Schwangerschaft, die Mühen und Risiken der Kindergeburt, die Sorge um die Kinder, die Plackerei der Kindererziehung und der Hausarbeit, Probleme mit dem Gesinde, Familienstreitigkeiten, Tod von Familienmitgliedern, ausfällige, gewalttätige, eifersüchtige Ehemänner, Sorge um die Treue des Ehemannes, seine Gesundheit und Sicherheit und die Angst vor Witwenschaft. – All dies bewältigt Monnica.
Die Darstellung der Mutter als Ehefrau in der laudatio funebris darf somit als Rehabilitation der Ehe gegenüber einer besonders mit den Namen Hieronymus und Ambrosius verbundenen „Virginitätspropaganda“ angesehen werden [5]. In Differenzierung zu den asketischen Strömungen kann man für Augustinus hervorheben, dass er als einer der ersten bemüht war, allen Personengruppen eine Existenz in der Kirche zu ermöglichen. Somit ist Augustinus vor dem Hintergrund einer Entwicklung zur Universalkirche zu betrachten. Hierin erweist er sich als Pragmatiker, der die traditionellen Familienrollen und Geschlechterverhältnisse anerkennt.
[siehe Text 6]. Augustin sucht hier die Ambivalenz von klassischem und biblischem Ideal, indem er auf pagane Rollenbilder zurückgreift, sie aber gleichzeitig auch in den Kontext von Bibelzitaten rückt. Mag der Leser zunächst noch durch das Stichwort unius viri uxor an einen paganen Kontext denken, so wird die Einbettung des Begriffes in einem Bibelzitat nach und nach deutlicher. Ihre weltliche Rolle wird durch Bibelzitate gezielt in einen christlichen Kontext sublimiert. Das römische weibliche Rollenideal der univira erscheint nun eindeutig als ein christliches. Somit trägt Augustinus nicht nur in Hinblick auf die Mutterrolle der Monnica, sondern auch auf ihre Rolle als Frau zu der für die christliche Spätantike festgestellte Verinnerlichung der Wertebegründung bei. Es ist nun der Glaube, durch den soziale Moral bindend gemacht wird.
Dabei werden pagane Rollenideale mit Bibelzitaten untermauert und in einen christlichen Kontext eingefügt. Dies zeigt sich beispielshalber im Lob Monnicas als univira – als Frau eines einzigen MannesIn der Darstellung der Ekstase von Ostia wird dargelegt, dass der Aufstieg zu einer geistigen Schau und die dauerhafte Ausrichtung des Willens auf Gott auch für eine Frau von niedrigem Bildungsstand möglich ist. Damit lässt Augustinus sich in Monnica die Erkenntnis erfüllen, dass es auf eine auf dem Glauben beruhende Suche nach Gott ankomme.
In Augustins Darstellung Monnicas als vorbildhafter Christin entstehen jedoch auch Widersprüche, wenn einerseits der Frau die geistige Gleichheit mit dem Mann eingestanden wird, wenn anderseits aber die gesellschaftliche Unterordnung der Frau unter ihren Ehemann gefordert wird. Diese wird durch die Untermauerung mit Zitaten aus der Bibel auf christlicher Basis zementiert und erhält somit neue [6] [siehe Text 7]. Dieser Spagat ist der Absicht geschuldet, Akzeptanz bei der breiten Leserschaft zu schaffen, in der die traditionellen Werte tief verwurzelt sind. Man kann zwar Verständnis für Augustinus fordern, der hiermit der Festigung der Kirche in der spätantiken Gesellschaft entgegenarbeitete [7]. Man darf aber auch nicht vergessen, dass er ebenso dazu beigetragen hat, eine gesellschaftliche Unterordnung der Frau christlich zu legitimieren und damit ein Denken zu fördern, dessen Ablösung bis zum heutigen Tag noch nicht gänzlich überwunden ist.
Verbindlichkeit. Mit der Darstellung seiner Mutter als Ehefrau stützt Augustinus die traditionellen Werte der Unterordnung der Ehefrau unter ihren Mann, stellt sie aber als gottgewollt dar. Im Verhältnis von Monnica zu Patricius spiegeln sich Augustins theologische Ansichten über das Geschlechterverhältnis, die von Ambivalenzen geprägt sind, wider: auf der spirituellen Ebene ist Monnica ihrem Mann überlegen, im Rollenverständnis hingegen ordnet sie sich ihm, ebenfalls im Sinne der Bibel, unter. Als „die Bessere diente sie ihrem Mann“ – melior serviebatSpirituelle Generationenbeziehungen
Wie auf der väterlichen Seite verwendet Augustinus zur Beschreibung seiner Beziehung zu Monnica auch metaphorische Konzepte der Generationenbeziehung, wodurch er das interpersonale Verhältnis von einem leiblichen zu einem spirituellen erhöht. Von der Rolle der Mutter als der leiblichen Erzeugerin ihres Sohnes wird ihre Funktion für die innere Entwicklung abgehoben.
Monnica wird auch eine spirituelle Funktion für ihren Sohn, die sich ebenfalls in der Bildlichkeit einer Mutter-Kind-Beziehung ausdrückt, beigemessen. So bezieht sich im 1. Buch Monnicas mütterliche Sorge, cura, um ihren noch kleinen Sohn auch auf eine vorgezogene Taufe, die aufgrund einer gesundheitlicher Notlage erwogen wird. Mit der Sorge um das kranke Kind wird hier ein gängiges Rollenmuster einer Mutter aufgenommen, das im spirituellen Verhältnis als eine Sorge um das ewige Heil des Kindes verwendet wird. Die Mutterschaft Monnicas vollzieht sich somit auf zwei Ebenen, der fleischlichen und der geistigen. Das Bild einer spirituellen Schwangerschaft begegnet im 1., 5. und 9. Buch. Diese breite Streuung auf den gesamten autobiographischen Teil unterstreicht die Bedeutung des Bildes. Das metaphorische Konzept eines Gebärens im Geiste wird am Beginn, in der Mitte und am Ende des autobiographischen Teils angesprochen und auf diese Weise exponiert.
Erst in diesem letzten Abschnitt des augustinischen Lebensrückblicks erfolgt die einzige Nennung der Namen „Monnica“ und „Patricius“, wie auch Adeodatus erst etwas früher im 9. Buch zum ersten Mal namentlich genannt wird. Entgegen der Auffassung, dass der Verfasser dies wohl unbewusst so gemacht habe, kann eine Reihe von Motiven angeführt werden, die die namentliche Nennung der Eltern gerade an dieser Stelle erklären: Die Taufe ist mit der Namengebung verbunden. Zu den traditionellen Riten der Taufvorbereitung gehörte die Einschreibung (dare nomen). Im Rahmen des Katechumenats bestand die Sitte, mit dem Herannahen der Fastenzeit seinen Taufnamen anzugeben. Durch die Namennennung werden Monnica und Patricius als getaufte Christen in einer durch die Taufe gestifteten Gemeinschaft dargestellt.
Besonders das 9. Buch, das die Ereignisse zwischen der Konversion und dem Tod der Mutter berichtet, steht ganz im Zeichen der Errichtung einer neuen Form von Gemeinschaft. Die Taufe, in deren Zusammenhang der Rückblick auf Adeodatus, den früh verstorbenen Sohn Augustins, steht, hat bedeutende Folgen für die zwischenmenschliche Beziehung zwischen den Täuflingen. An Adeodatus demonstriert Augustinus die spirituelle Geburt, durch die natürliche Altersunterschiede überwunden werden. Hier nimmt Augustinus das frühchristliche Ideal der Alterstranszendenz auf. Mit diesem Konzept ist auch die Vorstellung einer „Erneuerung“ oder „Verjüngung“ infolge der Taufe verbunden. Durch die Taufe entsteht eine auf der Ebene des inneren Menschen neu definierte Altersstufe. Der neugeborene innere Mensch ist wieder Kind. Dies führt zu einer Neubestimmung der interpersonalen Beziehungen unter den Getauften. Im vorliegenden Fall wird das leibliche Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Augustinus und Adeodatus durch die Taufe überwunden zugunsten eines Verhältnisses zwischen Gleichaltrigen. Adeodatus und alle anderen Getauften sind ‚gleichaltrig’: Augustinus schreibt: „Wir haben ihn zu uns gesellt, ihn, der gleichaltrig ist mit uns in deiner Gnade“ [8].
Christliche Metaphern aus dem Bildfeld der Generationenbeziehungen werden aber nicht nur zum sprachlichen Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehungen verwendet. Vielmehr werden verschiedene Vorstellungen von Mutterschaft nebeneinandergestellt und bilden Analogien. Die mater ecclesia – die Mutter Kirche – wird im gesamten autobiographischen Teil an prägnanten Stellen erwähnt. Die Mutterrolle der Kirche zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht auf einen einzelnen Menschen bezieht, sondern auf die gesamte Christenheit. Bereits im 1. Buch wird der Leser zum ersten Mal auf dieses metaphorische Mutter-Sohn-Verhältnis verwiesen. An dieser frühen Stelle der Confessiones im 1. Buch wird durch die Parallelisierung der leiblichen Mutter Monnica mit der als geistige Mutter aufgefassten Kirche bereits ein Zielpunkt der autobiographischen Rückschau angedeutet: den Übergang in die spirituelle Familie am Ende des 9. Buches mit der Kirche als Mutter.
[siehe Text 8].
Daneben tritt die Vorstellung von Gott als dem Vater der Gläubigen. Am Ende des 9. Buches, wo die Darstellung der Entwicklung zu einem als richtig erkannten Gottesverständnis an ihrem Ziel angelangt, fasst Augustinus in seiner Fürbitte das Verhältnis zu seinen leiblichen Eltern als eine Geschwisterbeziehung gegenüber der Kirche als Mutter und Gott als Vater auf: sub te patre in matre catholica – unter dir als Vater innerhalb der katholischen MutterMit diesen Sätzen endet der autobiographische Teil der Confessiones. Ihnen muss demzufolge eine zentrale Bedeutung beigemessen werden. Erst hier setzt der Erzähler Augustinus einen Schlusspunkt, so dass er erst hier den Prozess der Konversion als abgeschlossen ansieht. Die Konversion ist nicht vollendet, bevor dieser Übergang von der Einordnung des Individuums in innerweltliche Zusammenhänge hin zu einer Eingliederung in den geistigen Zusammenhang mit Gott stattgefunden hat. Diesen Übergang vollzieht Augustinus an der Einordnung des Menschen in Generationenbeziehungen: der leibliche Generationenzusammenhang wird durch einen geistig-metaphorischen substituiert. So wird die durch den Tod eingetretene Trennung der Beziehung, die auf Leiblichkeit beruht, durch die substituierende Neubestimmung des Verhältnisses auf spiritueller Ebene überwunden.
Indem Augustinus die Leser zum Gedenken auffordert, wird das literarische Werk selbst zum Medium des Totengedenkens, in das die Leser einbezogen werden. Hiermit ist ein Totengedenken innerhalb der Familie, wie sie die pagane Antike kennt und wie sie Monnica explizit ablehnt, überwunden zugunsten einer Form des Gedenkens, an dem jeder Gläubige teilnehmen soll.
Hinter dieser Ersetzung von Generationenbeziehungen durch eine religiöse Definition interpersonaler Zusammenhänge steht nicht zuletzt der Autor der Confessiones Augustinus, der sich zum Zeitpunkt der Abfassung für ein zölibatäres Leben als Priester in der spirituellen Gemeinschaft unter der mater ecclesia entschlossen und somit sich einem Leben im Kreise der Blutsverwandten entzogen hat.
Der Blick der Renaissance auf die Generationenbeziehungen bei Augustinus
Zum Abschluss möchte ich noch einen Blick auf die Rezeption der Mütter, Väter und verlorenen Söhne in den Confessiones werfen. Augustinus erfreute sich während des Renaissance-Humanismus einer gesteigerten Aufmerksamkeit, die sich auch den Bekenntnissen und der Familie Augustins zuwandte. Auch Monnica erweckt in dieser Zeit neues Interesse. Man hat dies aus dem konkreten zeitgenössischen Ereignis der Überführung ihrer Gebeine erklärt. Aber die Erklärung ist wohl noch tiefer in dem Denken der Renaissance zu suchen. Kann man den Humanismus zurecht als eine Bildungsbewegung bezeichnen, so schlägt sich dieser Geist auch im Augustinusbild nieder. Der in Rom wirkende, aus Norditalien stammende Humanist Maffeo Vegio hat einen Traktat darüber verfasst, wie eine gute Schulbildung auszusehen hat, und hat dabei Monnica als Beispiel einer optimalen Erzieherin angeführt. Dabei stellt man aber fest, dass Maffeo Vegio die Confessiones mit einer eigenen, zeittypischen Brille liest [9]. Die Renaissance ist geprägt von einem wachsenden Vertrauen auf die menschliche Selbstverwirklichungskraft. Während Augustinus in den Confessiones das Thema Bildung stets problematisiert, indem er die Inhalte klassischer Bildung hinterfragt oder den Erfolg von Erziehung unter den Vorbehalt des Wirkens der göttlichen Gnade stellt, fallen diese Aspekte bei dem italienischen Humanisten kaum noch ins Gewicht. So bezieht er sich etwa auf die Stelle in den Confessiones, an der Augustinus eine Episode aus den jungen Jahren seiner Mutter erzählt [Text 9]. Diese war von einer Amme nach den besten erzieherischen Maximen erzogen worden. Dennoch schlich sich bei ihr die schlechte Gewohnheit ein, hin und wieder von dem Wein zu kosten, den sie aus dem Vorratsraum holen sollte. Eines Tages wird sie von einer Magd, die sie dabei ertappte, mit der Anrede meribibula – Säuferlein – geneckt. Daraufhin wird sie sich ihrer Verirrung bewusst und lässt vom Weingenuss fortan ab. Was Augustinus mit dieser Erzählung intendiert, ist die Formulierung eines gnadentheologischen Vorbehalts in Hinblick auf die Erziehung. Die Menschen können nach den besten Maximen erziehen, dass die moralische Entwicklung jedoch erfolgreich verläuft, hängt vom Wirken Gottes ab. Dieses kann sich auch durch Ereignisse vollziehen, die nicht in der Intention der Erziehung erfolgt sind, wie Augustinus in dieser Episode darstellt. Für einen solchen Vorbehalt hat der Humanist wenig Sinn und verweist auf diese Stelle ausschließlich mit der die Problematik überblendenden Bemerkung, dass auch die Bediensteten in der Erziehung von Kindern einbezogen werden sollten. Das Verhältnis von Monnica zu ihrem Sohn hat vielfachen Niederschlag auch in der Bildenden Kunst gefunden [10]. Der Renaissance-Maler Benozzo Gozzoli hat für den Chorraum der Kirche San Agostino in San Gimignano einen 17-teiligen Freskenzyklus geschaffen.
[11]. Das Bild mit der Schulszene [Bild 1] speist sich zwar grundsätzlich aus der Darstellung der Confessiones. Jedoch wird in der Szene der Übergabe des Jungen an einen Lehrer die in den Confessiones thematisierte Problematik einer Ausrichtung der Bildung nicht mehr erkennbar. Die Differenz zwischen der Motivation des Vaters und der Mutter kommen hier nicht zum Ausdruck.
Gelehrsamkeit ist ein zentraler Aspekt auch in diesem Werk. Monnica kommt in diesem Zyklus eine zentrale Stelle zu, denn sie erscheint in 5 der 17 Fresken und auf diesen insgesamt neunmalDie Bildunterschrift, die wahrscheinlich vom Auftraggeber des Zyklus stammt, gibt bestimmte Deutungen vor [12]. So steht unter diesem Fresko: „Wie der selige Augustinus im Kindheitsalter vom Vater Patricius und von der Mutter Monica einem Grammatiklehrer übergeben wird und in kurzer Zeit über das gewöhnliche Maß voranschreitet.” Diese Angabe gibt zunächst den Inhalt der linken Bildhälfte wieder, und unterstreicht dann für die rechte Bildhälfte das rasche schulische Voranschreiten [13]. Die rechte Seite mit der Züchtigungsszene geht eindeutig auf die Darstellung der Confessiones zurück [Bild 2]. Allerdings weicht das Bild deutlich von der Textbasis ab. Während in den Confessiones es der kleine Augustinus ist, der die Prügel zu seinem Unverständnis erhält und für den die Angst vor den Schlägen in der Schule sogar erste Veranlassung dazu ist, zu Gott zu beten, ist es hier ein anderes Kind, dem gegenüber Augustinus sogar als nachzuahmender Musterschüler dargestellt wird [14]. Reflektiert Augustinus in den Confessiones seinen eigenen Unwillen zu lernen, wird er hier zum Vorbild. Mit einer anderen Szene ebenfalls aus der Schulzeit, an der Augustinus sich selbst auch im Verhältnis zu Mitschülern reflektiert, sind durchaus Überschneidungen festzustellen [15]. Dort schildert er, wie er für eine von ihm als sinnlos dargestellte Übung, in der er eine Rede mit einem Stoff aus der Mythologie bearbeiten musste, mit einem höheren Lob bedacht wurde als andere. Er zeigt hierbei Unverständnis darüber, dass er für seinen Erfolg in Schulstoffen gelobt wurde, die er im Nachhinein nicht mehr billigen kann. Auch eine solche Problematisierung von Bildungsinhalten in den Confessiones wird bei Benozzo Gozzoli ausgeblendet. Der kleine Augustinus erscheint ausschließlich als vorbildhafter Schüler. Wie die Problematik des eingeschränkten Erkenntnishorizonts tritt auch die in den Confessiones durchwegs thematisierte Sündhaftigkeit zugunsten einer Präsentation Augustins als Gelehrter zurück. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass die Lebensdarstellung in diesem Fresko eine gänzlich andere Funktion erfüllt als in den Confessiones. Dient die Lebensbeschreibung in der augustinischen Schrift dazu, die Figur im Lichte der Gnadentheologie auch als fehlerhaft darzustellen, deren Willen sich häufig von Gott und dem im Nachhinein als gut erkannten Ziel abwendet, soll in der Darstellung des Freskenzyklus Augustinus als bewundernswertes und nachzuahmendes Vorbild dargestellt werden.
[Bild 3]. Während Augustinus links mit Ambrosius diskutiert, bittet Monnica den Bischof im Hintergrund um die geistige Förderung ihres Sohnes. Zugleich hört sie am rechten Bildrand einer Predigt des Bischofs zu. Aber auch die Anordnung verschiedener Bilder kann bedeutungstragend sein [Bild 4, 5 und 6]. So kommt etwa die Bekehrungsszene unmittelbar über der Trennungsszene zu stehen, in der die Fürbitten der Monnica auf der linken Bildhälfte dargestellt sind [16] – mit Sicherheit kein Zufall. Dem Aspekt der persönlichen Entwicklung und Augustins Umwege hin zur Heiligkeit trägt Benozzo Gozzoli dadurch Rechnung, dass Augustinus erst ab der Darstellung der Taufe einen Nimbus erhält – und natürlich auch das Gewand der Augustiner-Eremiten trägt [17].
Monnicas Rolle für Augustins Weg wird in mehreren Bildern herausgestrichen, so etwa auch, wenn sie sich bittend an Ambrosius wendet. Hierbei nutzt der Freskenmaler seine Gestaltungsmöglichkeiten, indem er die Bedeutung Monnicas für Augustins Weg durch die räumliche Anordnung hervortreten lässt, etwa wie hier durch die Vereinigung mehrerer Szenen innerhalb eines BildesWie Augustinus macht auch Monnica innerhalb des Gozzoli-Zyklus eine Entwicklung durch: Zwar wird sie von Anfang an mit dem Heiligenschein versehen, allerdings trägt sie in dem ersten Bild in Thagaste durchaus mondäne, ja luxuriöse Kleidung. Dies wandelt sich aber, und in den späteren trägt sie das Gewand einer Nonne und in der Sterbeszene ganz konkret das der Augustinerinnen. Auch sie stellt ein Vorbild für den Weg von einer weltlichen hin zu einer christlichen Lebensform dar.
Und wie wir schon bei der Darstellung der Inhalte eine sehr intensive, wenngleich mit spezifisch humanistischer Brille vollzogene Beschäftigung mit den Confessiones feststellen konnten, so wird doch ebenso deutlich, dass unser Renaissancemaler auch in der Intention, die er mit seinem Augustinuszyklus verfolgte, den Absichten, die Augustinus mit seinen Confessiones hatte, sehr nahe kommt: Nämlich sowohl für männliche als auch für weibliche Betrachter und Betrachterinnen bzw. Leser oder Leserinnen Identifikationspunkte zu schaffen, die sie anstiften sollten, den Weg hin zu Gott zu beschreiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Anmerkungen:
[1] Die Gedanken dieses Vortrages gehen im Wesentlichen auf meine Dissertationsschrift Schultheiß 2011 zurück. Konzise, gute Überblicke bieten auch die AL-Artikel „Monnica“, „Pater“, „Patricius“.
[2] Grundlegend zum Konzept der Gotteskindschaft Lutterbach 2003.
[3] Zu Augustinus’ Kritik an dem mit der paganen Bildungstradition verbundenen Wertehorizont vgl. Tornau 2002.
[4] Plotin, Enneade 1,6,8, Übers. aus Christian Tornau, Plotin, Ausgewählte Schriften, herausgegeben, übersetzt und kommentiert, Stuttgart 2001.
[5] Vgl. Feichtinger 1995, 13–86.
[6] Conf. 1,11,17.
[7] Vgl. Seelbach 2002, 242. Eine kritischere Position gegenüber Augustinus findet sich etwa bei Fuhrer 2004, 169.
[8] sociavimus eum coaevum nobis in gratia tua, educandum in disciplina tua.
[9] Ausführlicher hierzu Schultheiß 2010.
[10] Einen Überblick über die Augustinus-Rezeption in den Bildenden Künsten der Renaissance bietet Gill 2013.
[11] 1-mal im „Schulfresko“, 2-mal in „Trennung von Monnica“, 2-mal im „Ambrosiusfresko“, 1-mal in der „Taufe des Augustinus, 3-mal in „Tod der Monnica“. Mit höchster Wahrscheinlichkeit erscheint sie ebenfalls in dem heute völlig zerstörten Bild, in dem Augustins heimliche Abreise aus Nordafrika dargestellt war. Hinzu kommt noch eine einzelne Ganzkörperdarstellung unter anderen Heiligbildern auf der Laibung.
[12] Vgl. Gill 2005, 84–86.
[13] Nicht nachzuvollziehen ist die Aussage bei Strauss 2002, 60–61, wonach die Bildunterschrift ausschließlich den Inhalt der linken Bildhälfte wiedergebe.
[14] Conf. 1,9,14–15.
[15] Conf. 1,17,27.
[16] Vgl. Strauss 2002, 54–55.
[17] Vgl. Strauss 2002, 45.
Bibliographie
Bruning, B., s.v. Pater, in: AL 4 3/4, Basel 2014, 510–515.
Feichtinger, Barbara, Apostolae apostolorum. Frauenaskese als Befreiung und Zwang bei Hieronymus, Frankfurt a. M. u.a. 1995.
Fuhrer, Therese, Augustinus, Darmstadt 2004.
Gill, Meredith J., Augustine in the Italian Renaissance. Art and Philosophy from Petrarch to Michelangelo, Cambridge 2005.
Gill, Meredith J., s.v. Visual Arts. II: 1200–1600, in: Pollmann, Karla / Otten, Willemien (edd.), The Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine, Vol. 3, Oxford 2013, 1871–1873.
Lutterbach, Hubertus, Gotteskindschaft. Kultur- und Sozialgeschichte eines christlichen Ideals, Freiburg / Basel / Wien 2003.
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Schultheiß, Jochen, Generationenbeziehungen in den Confessiones des Augustinus. Theologie und literarische Form in der Spätantike, Stuttgart 2011.
Seelbach, Larissa Carina, “Das weibliche Geschlecht ist ja kein Gebrechen...”. Die Frau und ihre Gottebenbildlichkeit bei Augustin, Würzburg 2002.
Strauss, Matthias, Die Augustinusvita von Benozzo Gozzoli aus der Kirche S. Agostino in San Gimignano, Augustiniana 52, 2002, 5–171.
Tornau, Christian, Augustinus und das »hidden curriculum«, Hermes 130, 2002, 316–337.