ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

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Fecisti nos ad te, domine, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.

Confessiones 1,1

Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.

Bekenntnisse 1,1

The Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine. Edited by Karla Pollmann in collaboration with Willemien Otten and others. 3 Volumes, Oxford: Oxford University Press, 2013. 2000 p. ISBN 978-0-19-929916-4. Price: GBP 450.00 | U$D 895.00

‹... ein allzu weites Feld› urbar machen zu wollen – dies mag, um mit Fontanes ‹Briest› zu sprechen, in den Augen so manchen Betrachters das nachgerade als Hybris erscheinende Programm des Projekts ‹After Augustine› zu sein, das die gleichermaßen in Deutschland wie in England beheimatete und weit über diese Achse hinaus wirkende Altphilologin und Theologin Prof. Karla Pollmann mit einem stattlichen ‹Staff› seit geraumer Zeit zu realisieren versucht. Dieses interdisziplinäre und internationale Unterfangen scheint nunmehr nach Jahren der harten Feldarbeit auf dem in der Tat gewaltigen Acker der Aufarbeitung der augustinischen Rezeptionsgeschichte aller Skepsis zum Trotz erste Erträge hervorgebracht zu haben: dem Augenschein nach sogar gewaltige Erträge in Form dreier voluminöser Bände mit dem Titel «The Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine», von Herausgebern und Verlag, der renommierten Oxford University Press, sogleich mit dem zitierfreundlichen Kürzel ‹OGHRA› ausgestattet. Das stolze personelle und formelle Gefüge des seit 2013 zu einem nicht minder stolzen Preis beziehbaren OGHRA weiß durchaus zu imponieren und präsentiert sich in pyramidaler Gestalt: Als ‹Editor-in-Chief› an der Spitze figuriert Karla Pollmann (St. Andrews, Schottland; mittlerweile Canterbury, Kent), als zweiter ‹Editor› Willemien Otten (Chicago, Illinois); als ‹Co-Editors› zeichnen weitere 20 Gelehrte verantwortlich, darunter einige renommierte Augustinist(inn)en, jedoch auch so manche(r) Nachwuchswissenschaftler(in) – eine Zusammensetzung, deren Struktur gleichfalls für die rund 400 Autor(inn)en aus 20 Nationen gilt, deren ca. 600 Beiträge auf fast 2.000 Seiten zum Großteil bereits in Englisch verfasst oder, zum kleineren Teil, ins Englische übertragen wurden.

Wer sich anheischig macht, das ‹weite Feld› der Augustinus-Rezeption zu bearbeiten, wird zunächst sein Gelände abstecken und abgrenzen müssen. Dass die Expedition ‹After Augustine› sich dieser Notwendigkeit bewusst war, davon zeugen die ausführlichen methodischen Präliminiarien der ‹Chef-Herausgeberin› (‹The Proteanism of Authority. ... Mapping an International and Interdisciplinary Investigation›, Vol. 1,3-14): Außerhalb des Projektzaunes liegen demnach nicht-textuelle (d.h. vor allem ikonographische) Verarbeitungen augustinischer Motive, aber auch allzu indirekte, subkutane oder gar spekulative Verbindungen der nachaugustinischen Geistesgeschichte zu jenem spätantiken Bischof von Hippo. Insofern das von diesen Grenzen umrissene Gebiet nach wie vor kaum überschaubar, geschweige denn kultivierbar erscheint, wurden zunächst in Vol. 1 zwei Arten von ‹Schneisen› in das unwegsame Gelände geschlagen:

(a) 14 Beiträge konturieren jeweils die Rezeption augustinischen Denkens und Schreibens in einer bestimmten Epoche oder Phase, wobei trotz der primär chronologischen Struktur dieser Durchblicke jeweils schon inhaltlich-systematische Schwerpunkte und Interpretationen mitgesetzt werden (z.B. ‹Confessionalization›, 1,74-82), besonders deutlich in den vier letzten Beiträgen, die vom Bemühen der Expedition zeugen, ja keinen möglicherweise wichtigen Winkel des augustinischen Urwalds unerschlossen zu lassen – Winkel, zu denen der gegenwärtige wissenschaftliche Zeitgeist eine besondere Affinität pflegt: Moderne Literatur, Schwarzafrikanische Theologie, Gender Studies (von der ‹Ur-Mutter› des Augustinus-Feminismus’ K.E. Børresen) und Islam. Die diachrone, aber auch synchrone Omnipräsenz des – durchaus unterschiedlich gewerteten – augustinischen Erbes, die in dieser ersten Vermessung zum Vorschein kommt, lässt deutlich werden, wie vielfältig Augustins Autorität in der Geistesgeschichte gebraucht, aber auch missbraucht wurde – eine Einsicht, die laut Pollmann zum kalkulierten Kollateralnutzen von ‹After Augustine› gehört (1,10-13).

b) Eine weitere und in sich filigran differenzierte ‹Schneise› schlagen sodann die knapp 100 Artikel, die sich mit der Rezeptionsgeschichte im allgemeinen je einer Schrift Augustins quer durch die 1600 Jahre seit ihrer Entstehung beschäftigen und deren Horizont stark variiert: von den souveränen und geistesgeschichtlich gehaltvollen Blickachsen der ‹Augustinus-Profis› Weber (‹Confessiones›, 1,167-174) und Kany (‹De trinitate›, 1,387-399) bis hin zur vor allem die Überlieferungs-Historie skizzierenden Chronologie von Galynina (‹De diversis quaestionibus ad Simplicianum›, 1,277-279).

Während Vol. 1 des OGHRA bei der Kartographierung und Kultivierung des ‹weiten Feldes› der augustinischen Rezeptionsgeschichte stärkeres Gewicht auf Perspektiven legt, präsentieren sich die Vol. 2 und 3 als eine alphabetisch gereihte Fülle verschiedenster punktueller Schnappschüsse auf das zu untersuchende Gelände bzw. – um die diachrone Binnenstruktur etlicher Lemmata zu veranschaulichen – verschiedenkalibriger Bohrungen quer durch die teils ganz jungen, teils jahrhundertealten Erd- und Gesteinsschichten (Pollmann spricht daher vom OGHRA als einem ‹hybrid› (1,5)). Faktisch handelt es sich um ein Hunderte von Stichworten umfassendes Lexikon der Augustinus-Rezeption, wobei Gattung und Art der Stichworte äußerst heterogen ausfallen. Zu einem größeren Teil handelt es sich um Prosopographien, die teils von einer intensiveren (von ‹Julian of Eclanum› und ‹Thomas Aquinas› über ‹Kierkegaard ...› bis hin zu ‹Marrou ...›), teils von einer äußerst mittelbaren (Hegel) oder allenfalls marginalen Rezeption, ja einer Nicht-Wahrnehmung Augustins durch die jeweilige Person zeugen, z.B. durch ‹Goethe› – ein Lemma, dessen Legitimation sich unter inhaltlichem Gesichtspunkt nicht recht erschließen mag.

Zum anderen Teil handelt es sich bei den Beiträgen von Vol. 2 und 3 um Begriffs- oder Sachartikel, deren Intension und Extension derart unterschiedlich sind, dass man gerne mehr über die Entstehung der zugrundeliegenden Lemmata-Liste erfahren hätte, für die man vergeblich einen Index, geschweige denn eine Systematik findet. Einige Begriffsartikel gehen auf Augustins eigene Diktion zurück (z.B. ‹Curiosity›, ‹Grace›, ‹Original Sin›), andere sind abstrakterer oder modernerer Terminologie entlehnt (z.B. ‹Anthropology›, ‹Darwinism›, ‹Eschatology›, ‹Ethics›, ‹Sex›); einige Sachartikel beziehen sich enger auf Augustins Umwelt (z.B. ‹Donatism›, ‹Manichaeism›), andere auf neuzeitliche (z.B. ‹French Literature›) oder moderne Phänomene (z.B. ‹Digital Augustine›); ein Teil der Beiträge fällt durch die Schärfe seines jeweiligen Inhalts auf (z.B. ‹Franciscan Order›, ‹Glossa ordinaria›), ein anderer durch die Breite (z.B. ‹Hermeneutics›, ‹Platonic and Neo-Platonic Tradition›) oder gar Vagheit (z.B. ‹Postcolonialism›) des jeweiligen Lemmas, die gelegentlich zum geistigen Schwadronieren verleiten.

Die Qualität der lexikalischen Beiträge schwankt natürlich von Autor(in) zu Autor(in), ist im Mittel aber durchaus zufriedenstellend – wohl ein Erfolg der je zweifachen Begutachtung durch die Herausgeber(innen). Als hilfreich empfindet der an schneller Information interessierte Leser die Zusammenfassung (‹Evaluation›) eines jeden Artikels an dessen Ende, der/die an gründlicher Vertiefung interessierte Wissenschaftler(in) die jeweilige ausführliche Auflistung von Primär- und Sekundärliteratur sowie weiterführender Lemmata.

Was ist ‹summa summarum› von unserem gigantischen Projekt ‹After Augustine› und seiner ersten großen Ernte, dem OGHRA, zu halten? Haben die horrenden Mühen (und Kosten!) der Erschließung des ‹weiten Feldes› der Rezeption Augustins – häufig auch seiner darüber hinaus gehenden Wirkung – gelohnt und eine ertragreiche Kultivierung dieses gewaltigen Biotops vorgelegt? Der Rezensent glaubt, mit einem ‹Yes› und einem ‹No› antworten zu müssen. ‹Ja›, die Mühen haben sich gelohnt: jedoch weniger im Sinne einer Kultivierung denn vielmehr im Sinne einer ersten Kartographierung des Geländes. ‹Nein›, der ‹Oxford Guide› ist kein autoritativer Führer durch eine systematisch erschlossene Kulturlandschaft, sondern eine mosaikartige Sammlung von Reisetips mit zahlreichen Miniaturen reizvoller Lokalitäten und Winkel, mit etlichen perspektivischen Landschaftsbeschreibungen sowie mit einigen wenigen Wegweisern und Wegerklärungen.

Was unser ‹Guide› nicht zu leisten vermag bzw. wozu er – um es ressourcen- und zukunftsorientiert zu formulieren – einlädt und Lust macht, ist ‹Vertiefung›: Vertiefung in die historischen Details, aber auch Vertiefung ins Systematische. Der OGHRA ist somit ein typisches Produkt einer aktuellen angelsächsisch geprägten Wissenschaftskultur mit ausgeprägt pragmatischem Ansatz und zügig evaluierbarem Nutzen, jedoch mit dem ebenso hohen Desiderat des vertiefenden Weiterfragens und Weiterforschens. Der einem eher – um das ein Quäntchen Wahrheit beinhaltende Klischee zu bemühen – ‹traditionell-deutschen› Typus von geisteswissenschaftlicher Projektarbeit entstammende Rezensent würde an dem in weiten Teilen bewundernswerten Pollmann-Projekt eine gewisse ‹Oberflächlichkeit› kritisieren wollen, die sich unter anderem in der Unterzahl und Umfangsschwäche der systematischen Beiträge (lediglich im ersten Teil von Vol. 1), in der offensichtlichen Kontingenz (auch Defizienz: wo bleibt z.B. das Stichwort ‹History›?) der lexikalischen Lemmata-Liste und im Fehlen von Originalzitaten (alle nichtenglischen Primärquellen sind ins Englische übertragen) niederschlägt, ganz zu schweigen von der grundlegenden Problematik, dass die Rezeptionsgeschichte Augustins kaum angemessen dargestellt, geschweige denn interpretiert und gewertet werden kann, wenn die zugrundeliegende Originallehre Augustins selbst nicht zuvor präsent gemacht wurde (was keineswegs bei allen Beiträgen unseres ‹Guide› der Fall ist).

Insofern der OGHRA also (erklärtermaßen: siehe Pollmann, z.B. 1,5) kein klassischer Fundus von ‹sapientia› und Gegenstand des ‹frui›, sondern ein modernes ‹machinamentum› im Bereich des ‹uti› sein möchte, ist es umso dringender erforderlich, dieses – ungeachtet aller Kritik – fürderhin unverzichtbare Instrument der Augustinus- und zumal der Augustinusrezeptions-Forschung auf digitalen Medien bzw. internet-basiert anzubieten, besonders angesichts des schmerzhaft erfahrenen Fehlens jedweder Register.

Lange könnte man nun darüber reflektieren, inwieweit die typisch postmoderne Verfahrensweise des OGHRA, einen ‹Klassiker des Denkens› vorrangig im Medium seiner Zitation und Rezeption und damit auf dem Wege des Meta-Diskurses zu präsentieren, zum tieferen Verständnis dieses Denkers beizutragen vermag, doch möchte sich der Rezensent auf eine solche Reflexion an dieser Stelle nicht einlassen, handelt es sich dabei doch – erneut sei Fontanes ‹Briest› in Anspruch genommen – um ‹... ein allzu weites Feld›.

Christof Müller

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