Von PROF. DR. JUR. JOHANNES HELLEBRAND

Augustinus (354-430). A. ist als Theologe, Philosoph, Schriftsteller, Konvertit und Mensch mit einer interessanten Vita bekannt, ein Denker auf lebenslanger leidenschaftlicher Wahrheitssuche mit einer Wirkung bis heute.

  • Michael Pacher: Augustinus - Kirchenväteralter (Detail) - Bildquelle: wikimedia commonsAugustinus von Hippo. Detail aus dem Kirchenväteraltar von Michael Pacher (entstanden ca. 1471-1475). München, Alte Pinakothek. – Bildquelle: wikimedia commons ©

I. Vita

Von keinem antiken Menschen ist der Lebenslauf so bekannt wie von ihm:

  • 354 als Sohn eines Heiden und einer christlichen Mutter geboren,
  • ein Bruder (Navigius) und eine Schwester,
  • christlich erzogen, aber (nach damaliger Übung) nicht als Kind getauft
  • stark geprägt durch seine Mutter und ehrgeizig gefördert von ihr
  • ausgebildet in Grammatik, Literatur, Rhetorik, aber auch Autodidakt in vielerlei Hinsicht
  • vom Denken Römer, von Temperament und Akzent, evtl. auch vom Aussehen Berber.

Mit 19 Jahren begeisterte A. sich nach einem sehr ausschweifenden Studentenleben in Carthago bei der Lektüre des ciceronischen „Hortensius“ für die Philosophie und war über ein Jahrzehnt Manichäer, allerdings nur sog. Hörer in dieser Sekte. Zugleich ging er ein damals nicht unübliches Konkubinat ein; 371/372 wurde Sohn Adeodatus geboren.

Nach dem Studium war A. seit 375 als Rhetoriklehrer in Nordafrika, ab 383 in Rom tätig. Er entfremdete sich vom Manichäismus, wurde aber trotzdem durch Vermittlung manichäischer Freunde 384 „Rhetorikprofessor“ am kaiserlichen Hof in Mailand. Innerlich stand er damals dem Skeptizismus nahe, lernte in Mailand Bischof Ambrosius kennen und geriet so an einen christlich gefärbten Neuplatonismus, aber auch an die Paulus-Briefe; zudem hörte er von Menschen, die der Welt den Rücken gekehrt hatten und nun im Denken über Gott und die Welt sowie im Gebet ihr Leben gestalteten.

386 bekehrte A. sich zum Christentum, gab sein Amt am Hof auf, trennte sich von seiner Konkubine, wurde Ostern 387 in Mailand mit Freund Alypius und Sohn Adeodatus getauft und kehrte 388 nach Nordafrika zurück, wo er mit Gleichgesinnten lebte und publizierte, bis er 391 in Hippo entgegen seiner Lebensplanung zum Priester und 395 zum Bischof geweiht wurde; dazwischen beschäftigte er sich insb. mit Paulus. Zuvor war Adeodatus im jugendlichen Alter gestorben.

Als Bischof kämpfte A. gegen die gnostischen Manichäer, schismatischen Donatisten und häretischen Arianer, Paganen sowie Pelagianer mit ihrer Einstellung zu Natur, Gnade, freiem Willen, Prädestination und Erbsünde.

426/427 zog A. sich zur Sichtung seines Schrifttums [1] vom Bischofsamt zurück, ließ sich nur noch zu wenigen Schriften hinreißen und starb 430, als die arianischen Vandalen seine Stadt belagerten; Hippo geriet zunächst unter ihre Herrschaft, dann unter das Regime von Ostrom und schließlich für über 1.000 Jahre unter die Herrschaft des Islam.

II. Werk

A.’ Werk kurz darzustellen, ist schlicht unmöglich. Was er in 40 Jahren publiziert hat, ist einfach unvorstellbar. Er hatte brennende Fragen, die ihn zeitlebens immer wieder beschäftigten; ansonsten hat er sich nie gezielt Themen ausgesucht, sondern sie kamen meist einfach auf ihn zu; Leben, Kämpfen, Denken, Schreiben waren für ihn eins.

Wer sich näher mit A. beschäftigt, kennt ihn als „doctor gratiae“, als Verfasser des „Gottesstaats“, der – zuweilen missverstanden – eine starke Wirkung auf das Mittelalter hatte [2], und als Denker über die Dreifaltigkeit (Trinität) sowie als Verfasser der Confessiones. A. hat eine umstrittene, häufig fehlverstandene Gnaden-/Erbsündenlehre [3] und zuletzt eine überzogene Sexualfeindlichkeit vertreten, aber auch Bleibendes zu Zeit und menschlicher memoria publiziert; seine Gedanken zu Gnade, Sakramenten, Amt, Christologie, Kirchenverständnis sind bis heute aktuell; seine philosophischen Gedanken sind immer wieder aufgegriffen, aber auch heftig attackiert worden. [4]

Man wird A. indes nicht gerecht, wenn man sein Werk auf seine Schriften beschränkt; allmählich rücken auch seine Predigten und Briefe in den Focus des Interesses – und zwar zu Recht: A. war nicht nur Schriftsteller, sondern er betreute auch seine Gemeinde und unterhielt mit seinen Briefen ein regelrechtes Netzwerk. Die Ausübung des Bischofsamts (Verwaltung der Diözese, Kommunikation mit Mitbischöfen und Mitwirkung auf Konzilien, Korrespondenz mit den Bischöfen von Rom) [5] und insb. die mit dem Bischofsamt verbundene Richtertätigkeit [6] nahmen viel Zeit in Anspruch. Deshalb sollte sein „Werk“ keineswegs auf die bekannten Schriften beschränkt werden; nicht zuletzt im Hinblick auf das Kirchenrecht ist vielmehr ein umfassender Blick auf das gesamte „Lebenswerk“ des Kirchenvaters geboten.

A. war ein Mensch mit Brüchen in der Vita: vom lebenslustigen Studenten über den treuen Lebenspartner und stolzen Vater, vom Sektierer zum Christen bis hin zum Bischof, der (damals nicht zwingend) der Ehe entsagte, sie aber stets als hohes Gut betrachtete, bis er im Alter und im Streit mit den Pelagianern die Sexualität immer negativer beurteilte.

Bei der Lektüre der A.-Biographien – ausgenommen von Possidius’ Vita Augustini – tritt mit der Bekehrung und dem „Eintritt in den Kirchendienst“ der Mensch A. hinter das Werk zurück: Dies mag am Gewicht seines Werks über die folgenden mehr als 1.500 Jahre hinweg, aber auch daran liegen, dass A. nach den antiken Gepflogenheiten seine Persönlichkeit nicht so ausbreitete, wie es heute gang und gäbe ist: Ihm ging es um Sachthemen, bei deren Darstellung allerdings immer wieder seine Persönlichkeit und die ihm eigene Sicht der Dinge zum Ausdruck kam: A. schrieb nicht so abstrakt, so unpersönlich wie Aristoteles und die ihm im Mittelalter folgende Scholastik, etwa Thomas v. A. Man spürt in seinen Schriften immer den gelernten Rhetoriker und den feingeistigen Menschen, ohne dass seine Persönlichkeit die Sache in den Hintergrund drängt; wahrscheinlich ist dies einer der Gründe für seinen Erfolg.

Dass wir viel über den Menschen A. wissen, verdanken wir den Confessiones. Darin legt A. ein Bekenntnis zur Güte und Gnade Gottes ab, indem er seinen Weg bis zur Bekehrung und damit die göttliche Fügung aufzeigt. Nur indirekt verrät A. im X. Buch etwas über sein Inneres und in den Büchern XI bis XIII über sein theologisch-philosophisches Denken als Bischof mehr als 10 Jahre nach seiner Konversion. Ansonsten schweigen die Confessiones dazu, wer A. nach seiner Priester-/Bischofsweihe war, und A. selbst, der der menschlichen Person und dem subjektiven Weg zu Gott entscheidende Bedeutung beimaß, hielt es in den mehr als 30 Jahren seines Episkopats nicht für nötig, seine Persönlichkeit schriftlich auszubreiten.

Im Übrigen war A. trotz seiner Subjektivität kein Einzelgänger, sondern lebte von Freundschaften, Lebensgemeinschaften und Diskussionen mit Gleichgesinnten; diesen Lebensstil hielt er als Priester und Bischof bei: Er wohnte gemeinsam mit Priestern und Diakonen, baute ein Gästehaus und unternahm strapaziöse Reisen durch Nordafrika mit kirchenpolitischen Zielen, aber auch um sich mit Freunden zu treffen.

Der gelegentliche Vorwurf, A. habe mit Eintritt in den Kirchendienst die Philosophie der Theologie untergeordnet, trifft nicht zu: Er blieb nach seiner Bekehrung auch Philosoph und bemühte sich nach Kräften, Philosophie und Theologie, Vernunft und Glaube miteinander zu versöhnen; seine philosophische Wirkung bis heute beweist dies nachdrücklich. Dass er als Theologe nicht aristotelisch-systematisierend, sondern platonisch-spekulativ wirkte, war kein Nachteil, sondern sicherte ihm seine Wirkung bis heute: A. konnte mit ungelösten Fragen, mit Widersprüchen, mit Geheimnissen leben, weil er das beschränkte menschliche Erkenntnisvermögen und gegensätzlich dazu Gottes unerforschliche Allmacht einfach akzeptierte.

Im Übrigen war A. kein Theologe und Philosoph im Elfenbeinturm, sondern er stand als Bischof mit vielen Amtspflichten in einer großen Hafenstadt voll in der Realität; er war sogar vornehmlich Seelsorger [7] und nahm seine Pflichten gegenüber den ihm anvertrauten Gläubigen ernst: Dieses Pflichtbewusstein fußte einmal auf einem stark römisch-ciceronischen Verständnis der „officia“, zum anderen auf den Vorgaben der Evangelien, nach denen er „Hirte“ und „Menschenfischer“ zu sein hatte. Als Bischof musste A. sich zudem als Richter mit allen möglichen menschlichen Schwächen und Streitsüchten befassen. Diese Tätigkeit war sehr zeitaufwendig und psychisch belastend; A. nahm sie dennoch sorgfältig wahr.

A. ging erst dann seiner Passion zur theologisch/philosophischen Schriftstellerei nach, wenn er seine pastoralen Pflichten erfüllt hatte: Wieweit er dabei aus Theologie und Philosophie schöpfte, lässt sich eindrucksvoll seinen Predigten entnehmen; diese zeigen zudem, dass er selbst schwierigste Themen in verständlicher Form auch „normalen“ Christen nahebringen konnte. Dass er auf der anderen Seite voll aus der Ausübung des Bischofsamts, aus dem Umgang mit Menschen für seine schriftstellerische Tätigkeit schöpfte, liegt auf der Hand, ist aber noch nicht ausreichend erforscht.

III. Wirkung

In A.-Biographien findet man nichts zu seiner Bedeutung für das Kirchenrecht; ähnlich sieht es in den Darstellungen des Kirchenrechts und seiner Geschichte aus.

1. Wie kommt es, dass man A. in Theologie und Philosophie auf Schritt und Tritt begegnet, seinen Namen im Kirchenrecht aber kaum findet? Offenbar besteht ein tiefer Graben zwischen Augustinus-Forschung und Kanonistik; aber warum ist dies so?

  • Liegt der Grund darin, dass A. sich theologisch-philosophischen Fragen widmete und Juristisches seinem Freund Alypius, einem gelernten Juristen, sowie Organisatorisches seinem Freund Bischof Aurelius von Carthago überließ? [8]
  • Produzierte A. mit seiner kreativ-idealistischen, gelegentlich ketzerischen Denkweise nur wenig juristisch Interessantes? Sind Juristen und Theologen von ihrer Tätigkeit oder Denkweise her zu unterschiedlich, obwohl bei beiden Hermeneutik im Mittelpunkt steht?
  • Waren und sind sich Theologen und Philosophen zu schade, in die „Niederungen der Jurisprudenz“ zu gehen und neben der genialen Persönlichkeit und dem unüberschaubaren Werk von A. seine Bedeutung für das Kirchenrecht auszuloten?
  • Steht das Philosophisch/Theologische bei A. so sehr im Vordergrund, dass andere Aspekte vernachlässigt werden, etwa seine Amtsführung als Bischof in all ihren Facetten und insbesondere der Seelsorge?
  • Lag es daran, dass das augustinische Œuvre sieben Jahrhunderte eine feste Größe war, bevor sich erst im Mittelalter die Rechtswissenschaft und parallel dazu das Kirchenrecht bildete – dazu noch im Windschatten der Scholastik, die A. zwar als Autorität anerkannte, aber nicht dem Platonismus, sondern dem Aristotelismus anhing?

Die Fragen könnte man fortsetzen; zwingende Antworten gibt es nicht, nur Argumente pro und contra.

2. Wenden uns wir uns deshalb lieber der Frage zu, welche Bedeutung A. tatsächlich für das Kirchenrecht in seiner historischen Entwicklung bisher hatte.

a) Zu A.’ Zeit war das Kirchenrecht erst im Entstehen: Es basierte auf den Evangelien, den Apostelbriefen, der Praxis der ersten Christengemeinden, Entscheidungen frühchristlicher Bischöfe, Dekreten des (wegen Rom als Hauptstadt und wegen der Petrusnachfolge hervorgehobenen) Bischofs von Rom und Beschlüssen von universalen und regionalen Synoden/Konzilien, aber auch auf Gesetzen und Entscheidungen spätrömischer christlicher Kaiser. Durch seine Tätigkeit als Bischof in Hippo, aber auch auf nordafrikanischen Konzilien wirkte A. an vielen Entscheidungen mit [9], unterstützt von Alypius, einem gelernten Juristen und Bischof von A.’ Heimatstadt Thagaste. So trug A. zum Kirchenrecht bei, das sich parallel zum Römischen Recht entwickelte, viel von ihm übernahm, einiges modifizierte, nur weniges ablehnte.

b) Nach A.’ Tod flossen zudem noch seine theologische Gedanken zu einigen Themen in das Kirchenrecht ein, indem Päpste – wie etwa der A.-Verehrer Gregor d. G. – sie sich zu eigen machten, etwa für Ehe, Kirchenbegriff und Sakraments- sowie Amtsverständnis.

c) Um 1140 fasste der Mönch Gratian (später Vater des Kirchenrechts genannt) im Gefolge der jungen Rechtswissenschaft in Bologna das bisherige Kirchenrecht zusammen und ordnete es systematisch. Im „Decretum Gratiani“ [10] nehmen die Zitate aus dem augustinischen Œuvre und die Bezugnahmen auf afrikanische Konzilien einen breiten Raum ein, wie die Übersicht bei Friedberg [11] zeigt. Der augustinische Einfluss wurde aber durch den Zeitgeist mit der Vorherrschaft der Scholastik und die Begeisterung für die damals noch junge Rechtswissenschaft „gebremst“; trotzdem blieb er auch für das decretum Gratiani groß. [12]

d) In den folgenden Jahrhunderten liefen Kirchenrecht und theologischer/philosophischer Augustinismus durchweg ohne Bezüge nebeneinander her – wenn man einmal davon absieht, dass das augustinische „Compelle/cog(it)e intrare“ zur Begründung der Inquisition herangezogen wurde und so eine „verheerende Wirkung“ [13] hatte; dabei wurde allerdings verschwiegen, dass A. stets ein unerbittlicher Gegner der Todesstrafe gewesen war und in seinen letzten Lebensjahren die Folter nicht mehr als notgedrungen-unumgänglich, sondern als völlig ungeeignet zur Wahrheitsfindung angesehen hatte. [14]

e) Nach dem Konzil von Trient (1545-1563) erstellte eine päpstliche Kommission eine amtliche Sammlung des Kirchenrechts, die 1582 als „Corpus Iuris Canonici“ (CorpIC) publiziert wurde. [15]

f) Als in der Aufklärung die großen staatlichen Kodifikationen entstanden, setzten mit einer gewissen Verzögerung Bestrebungen ein, das Kirchenrecht mit päpstlicher Autorität und Gesetzeskraft ebenso niederzulegen: Der erste Codex auf der Basis des I. Vaticanum und dem Höhepunkt der Neuscholastik wurde 1917 promulgiert (CIC/1917); er wies ein dominantes Rechts- und Kirchenverständnis auf und lag auf der Linie des Neothomismus und der damaligen Sicht des Papsttums.

g) Mit dem II. Vaticanum wollte Johannes XXIII. Theologie, Pastoral und Kirchenrecht, dessen Geltungsgrund schon seit einiger Zeit umstritten war, den Erkenntnissen der Zeit anpassen. Auf dem Konzil gab es starke Kritik an der Verrechtlichung von Kirche und Glauben. In seiner letzten Phase, aber noch mehr in der nachkonziliaren Zeit sank die Euphorie, und der Modernisierungswille ließ nach, was sich auch auf den CIC/1983 [16] auswirkte. Immerhin trug er dem konziliaren Kirchen- und Sakramentenverständnis Rechnung [17], das stark augustinischem Gedankengut entsprach.

h) Der Frage, was der CIC/1983 gewissermaßen „de lege lata“ alles enthält, das unmittelbar oder mittelbar auf A. zurückgeht, ist bislang weder die Augustinusforschung noch die Kanonistik nachgegangen; es ließe sich auch nur unter Einschaltung der Theologie beantworten, da das Kirchenrecht dem Kirchenbegriff folgt.

3. Spannender als A.’ Wirkung auf das bisherige/geltende Kirchenrecht ist die Frage, welche Bedeutung er voraussichtlich auf Kirche und Kirchenrecht in den nächsten Jahren haben wird.

a) Nach Benedikt XVI., der nicht zu Unrecht als „Augustinus redivivus“ [18] bezeichnet wurde, kam mit Franziskus aus dem Jesuitenorden ein Mann an die Spitze der katholischen Kirche, der sich in Persönlichkeit und Auftreten deutlich von seinem Vorgänger unterscheidet, aber offenbar theologisch-dogmatisch voll auf seiner Linie steht. Er hat mit dem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ nicht nur eine Reform von Kurie und Papsttum zwecks Dezentralisierung und Aufwertung der Bischofskonferenzen, sondern auch eine „pastorale Neuausrichtung“ und mehr soziale Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Barmherzigkeit angekündigt.

b) Ob und wieweit dies zunächst theologisch und dann auch kirchenrechtlich umgesetzt wird, vermag heute niemand sicher zu sagen. Aber alles deutet darauf hin, dass A. für die Kirche und speziell auch für das Kirchenrecht wieder richtig interessant werden könnte:

  • Eine Linie führt über die insb. von Jesuiten und Dominikanern entwickelte Nouvelle Théologie der 40/50er Jahre des vorigen Jahrhunderts (Bouillard, Chenu, Congar, Daniélou, de Lubac, v. Balthasar) mit dem Motto: „zurück zu den Vätern!“, „Weg mit einer abstrakten Theologie!“ hin zu einer „menschengerechten Pastoral“ [19] über Johannes XXIII. bis hin zur Ernennung einiger Vorreiter dieser Richtung zu Kardinälen (Daniélou, de Lubac [20], Congar) durch Johannes Paul II.; zuletzt hat noch Franziskus den Privatseketär von Johannes XXIII., den 98-jährigen Capovilla, zum Kardinal ernannt. Darüber hinaus betont Franziskus nicht nur die wesentlichen Begriffe der Nouvelle Théologie und der von ihr favorisierten Kirchenväter, sondern erklärt auch ausdrücklich, einige ihrer führenden Köpfe (de Lubac, Certeau) besonders zu schätzen und von ihnen wesentlich beeinflusst worden zu sein.
  • Eine andere Linie beginnt bei Ratzinger mit seiner Dissertation („Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“) und Habilitation („Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras“), die zwar das Gefallen seines Doktorvaters Söhngen, aber nicht den Beifall des Mittelalterspezialisten Schmaus fand. Ratzinger wurde trotzdem Professor, Konzilsberater und Erzbischof von München-Freising, Präfekt der Glaubenskongregation und schließlich Papst: In dieser Eigenschaft war er bei der V. Generalkonferenz Aparecida vom 13. – 31. Mai 2007 anwesend, dessen Abschlussdokument das Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ von Franziskus vorwegnimmt, und er forderte bei seinem Besuch in Freiburg eine Entweltlichung der Kirche; dies und seinen Rücktritt vom Papstamt am 11.02.2013 haben damals allerdings die wenigsten in ihrer Bedeutung verstanden.
  • Eine dritte Linie führt über Herkunft, Persönlichkeit und Denkweise von Franziskus als Jesuit italienisch/lateinamerikanischer Provenienz, Ordensprovinzial in schwieriger politischer Situation und zuletzt Seelsorger mit großen Problembezirken, als Gegner einer „narzisstischen“ Schultheologie und als Anhänger seines Namenspatrons Franz von Assisi ins Mittelalter, wo der Streit zwischen Scholastik und Augustinismus „tobte“ und der Franziskaner Bonaventura das augustinische Erbe verteidigte; der Gegensatz zwischen Jesuiten und Augustinern im 16./17. Jahrhundert spielt bei Franziskus keine Rolle.

Es ließen sich unschwer weitere Aspekte dafür anführen, dass die Kirche sich unter Franziskus als Seelsorger/Macher nach Benedikt XVI. als Theologen/Denker wieder mehr an A. [21] orientieren wird: A. war Denker, Schriftsteller und Seelsorger, seine Predigten zeigen, dass er seine hochgeistigen Gedanken durchaus auch dem „einfachen Volk“ vermitteln konnte. Sein erster Biograph Possidius betont daher zu Recht, dass „diejenigen weitaus größeren Gewinn hatten, die ihn persönlich im Gottesdienst hören und sehen, und vor allem jene, die seinen Wandel unter den Menschen beobachten konnten,“ als die, „die aus der Lektüre seiner Schriften über die göttlichen Geheimnisse beträchtlichen Gewinn ziehen“ [22].

c) Es gehört keine große Phantasie dazu vorauszusagen, dass unter Franziskus die Pastoral in den Vordergrund rücken, die Theologie relativiert und beim Kirchenrecht seine Herkunft aus der Theologie und seine dienende Funktion gegenüber Theologie und Pastoral betont wird. Aber welche konkrete Bedeutung wird dies für das Kirchenrecht haben?

Dass eine Änderung der Stellung des Papstes, die Neuorganisation der Kurie und die Aufwertung der Bischofskonferenzen mit einer Anpassung des CIC/1983 in seinem kirchenverfassungsrechtlichen Teil [23] einhergehen muss, liegt auf der Hand; ähnliches gilt für die Emanzipation von Laien und Frauen in der Kirche. Das Kirchenrecht ist halt ein Teil der Ekklesiologie, was Mörsdorf als erster erkannt hat [24], oder anders ausgerückt: Das Kirchenrecht folgt dem Kirchenverständnis.[25]

Zudem muss die Betonung der Pastoral theologische und kirchenrechtliche Folgen haben: Theologie braucht kein geschlossenes System zu sein, Kirchenrecht muss noch mehr als bisher der „salus animarum“ und dem „bonum commune“ dienen. Dies hat – und hier schließen sich die aufgezeigten Kreise in beeindruckender Weise – Markus Graulich, Richter der Rota Romana, in seiner auch für Nichttheologen und Nichtkanonisten gut lesbaren Habilitationsschrift [26] überzeugend dargelegt; Basis seiner Untersuchung ist das Werk von Söhngen, bei dem Ratzinger über A. promoviert hatte.

Aus der Betonung der Pastoral, dem Bekenntnis zu „gratia“, „humilitas“,„infirmitas“, kurz: zur „conditio humana“ ergeben sich aber nicht nur Folgen für die Fassung, sondern auch für Auslegung und Anwendung des Kirchenrechts: Dass es i.S.d. Evangeliums auszulegen ist, hat bereits Benedikt XVI. ausgeführt. Zudem ist bei seiner Anwendung der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es durchaus menschlich ist, den grundsätzlichen Anforderungen nicht gerecht zu werden: Wie es juristisch verfehlt ist, etwas zwingend als nichtig/unwirksam anzusehen, wenn es die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, ist es auch nicht geboten, auf jeden Normverstoß mit voller Härte 1:1 zu reagieren: Gesetzesvollzug und auch die dahinterstehende Verwirklichung von Gerechtigkeit schließen Barmherzigkeit, die Franziskus unter Hinweis auf Kasper besonders betont hat [27], nicht aus – dies ist auch schon bei A. unter der Rubrik Gerechtigkeit/Barmherzigkeit/Milde zu lesen.[28]

Wer A. und seine Wirkung über die Jahrhunderte kennt, dürfte kaum Zweifel haben, dass er in der heutigen Schickssalsstunde der Kirche nicht nur für Pastoral und Theologie, sondern auch für das Kirchenrecht von enormer Bedeutung ist: Er hat anders als Thomas v. A. kein Lehrgebäude geschaffen; er konnte mit ungelösten Fragen, mit Geheimnissen leben. Er war ein Mensch, für den Ordnung, Recht und Gerechtigkeit, aber auch Seelsorge und Barmherzigkeit wichtig waren, der die „conditio humana“ ernst nahm. Er gehörte zwar nicht zu den Vätern des Kirchenrechts, aber er war ein überragender Kirchenvater und wird als solcher auch auf das Kirchenrecht weiterwirken.

Bibliographie

  • Frits van der Meer, Augustinus der Seelsorger, Köln 1951
  • Charles Munier, Audientia episcopalis, in: Cornelius Mayer (Hg.), Augustinus-Lexikon, Bd. 1, Basel 1986-1994, Sp. 511-515
  • Agostino Pugliese, Sant’Agostino Giudice, in: Johannes Hellebrand (Hg.), Augustinus als Richter, Würzburg 2009, S. 21 ff.
  • Mathias Schmoeckel, Die Jugend der Justitia, Tübingen 2013

Anmerkungen

[1] Das Ergebnis waren die sog. Retractationes.

[2] Vgl. dazu etwa Christoph Horn, Augustinus, München 1995, S. 111-127.

[3] Vgl. statt aller Norbert Fischer, Zum heutigen Streit um Augustinus – Sein Werk als Schatz, als Bürde und als Herausforderung des Denkens in: Dittrich u.A. (Hg.), Augustinus – ein Lehrer des Abendlandes, Wiesbaden 2009, S. 15-31.

[4] Zu den A.-Rezeptionen im Laufe der folgenden Jahrhunderte vgl. etwa Fischer, Norbert, Augustinus – Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Hamburg 2009, 2 Bände.

[5] Vgl. dazu Doyle in: Drecoll, Augustin Handbuch, Tübingen 2007, S. 218-222.

[6] Vgl. dazu Hellebrand, Johannes, Augustinus als Richter, Würzburg 2009.

[7] van der Meer, Frits, Augustinus der Seelsorger – Leben und Werk eines Kirchenvaters, Köln 1951

[8] Vgl. Wills, Garry, Augustinus, New York 1999, dt. Berlin 2004, 150

[9] dazu ausführlich Munier,Charles/ Sieben, Hermann-Josef, Concilium (concilia) in: Cornelius Mayer, Augustinus-Lexikon, Basel 1986-1994, Sp. 1085-1107; Zollitsch, Robert, “causa ueritatis et unitatis“(Contra Cresconium 4,3) – Augustinus zum Ziel von Bischofssynoden, Festrede zum 80. Geburtstag von Cornelius Mayer, www.augustinus.de /Förderverein/Jahrevollversammlung 2009; Maassen, Friedrich, Geschichte der Quellen und der Literatur des Canonischen Rechts im Abendlande I. Band, Graz 1870, unveränderter Abdruck Graz 1956.

[10] Näher dazu de Wall, Heinrich/Muckel, Stefan, Kirchenrecht, 3. Aufl., München, 2012, § 3 Rdnr. 5-7.

[11] Friedberg, Emil, Corpus Iuris Canonici – Pars prior: Decretum Magistri Gratiani, Leipzig 1879, 2. unveränderter Nachdruck Graz 1995, Sp. XIX-XXI, XXXIV-XXXVI.

[12] Vgl Mörsdorf, Klaus, Altkanonisches „Sakramentsrecht“ in: Winfried Aymans, Karl-Theodor Geringer, Heribert Schmitz: Klaus Mörsdorf, Schriften zum Kanonischen Recht, Paderborn 1989, passim; Mathias Schmoeckel, Die Jugend der Justitia – Archäologie der Gerechtigkeit im Prozessrecht der Patristik, Tübingen 2013.

[13] So Chelius, Karl-Heinz, Compelle intrare in: Cornelius Mayer, Augustinus-Lexikon, Basel 1986-1994, Sp. 1084 f.; vgl. aber auch Martin Ohst, Katholische Kirche und Toleranz, www.ev-theol.uni-bonn.de/fakultaet/dekanat/gedenken-haustein.

[14] Eingehend dazu Hellebrand, Johannes, Augustinus als Richter, dargestellt anhand von Zitaten aus dem Augustinischen Gesamtwerk, in: Cornelius Mayer, Augustinus – Recht und Gewalt, Würzburg 2010, 196-199, 201-203).

[15] Dazu de Wall/Muckel a.a.O. § 3 Rdnr. 12-15, 20.

[16] dazu eingehend Mörsdorf, Klaus, Erwägungen zur Anpassung des Codex Iuris Canonici/ Zur Neuordnung der Systematik des Codex Iuris Canonici, in: Winfried Aymans, Karl-Theodor Geringer, Heribert Schmitz, Klaus Mörsdorf, Schriften zum Kanonischen Recht, Paderborn 1989.

[17] Lederhilger, Severin, Kirchenrecht – Instrument oder Hindernis nachkonziliarer Pastoral? Kirchliches Selbstverständnis im Spiegel Kanonistischer Reflexion, KTU-Ringvorlesung „Das II. Vatikanische Konzil und die Wissenschaft der Theologie“ an der Universität Linz 12.06.2012.

[18] Dazu Mayer, Cornelius, Augustinus im Denken von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. in: Norbert Fischer, Augustinus – Spuren und Spiegelungen seines Denkens, Hamburg 2009, II 309 ff.; Quy, Joseph Lam C., Theologische Verwandtschaft – Augustinus von Hippo und Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI, Würzburg 2009.

[19] Näher dazu in LThK unter dem Stichwort „Nouvelle Théologie“.

[20] Vgl. insoweit insb. Henry de Lubac, Die Freiheit der Gnade – I. Das Erbe Augustins, II. Das Paradoxon des Menschen, Einsiedeln 1971; ders. Zwanzig Jahre danach, München, 1985, sowie Hans Urs v. Balthasar, Henry de Lubac – Sein Organisches Lebenswerk, Einsiedeln 1976.

[21] Zur Patrologie im 20. Jh. vgl. Henri Crouzel: „Die Patrologie und die Erneuerung der patristischen Studien“ in: Herbert Vorgrimler/Robert van der Gucht, Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert, Freiburg 1970, Bd. III, S. 504 ff.

[22] Geerlings, Wilhelm, Possidius, Vita Augustini, Paderborn 2005, 31,9.

[23] Zum Kirchenverfassungsrecht vgl. Hill in LThK unter dem gleichnamigen Stichwort.

[24] Vgl. Rüdiger, Andreas, Leitung und Macht in der Kirche – Eine ekklesiologische Studie zu „mundus regendi“ und „sacra potestas“ – ausgehend von der Kirchengewalt in den Frühschriften Klaus Mörsdorfs, Diss. Freiburg 2001, 39-43.

[25] Vgl. Weigand in LThK Stichwort „Kirchenrecht“ unter V 5 a.E.

[26] Graulich, Markus, Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts – Die Grundlegung des Rechts bei Gottlieb Söhngen (1892-1971) und die Konzepte der neueren Kirchenrechtswissenschaft, Paderborn 2006.

[27] Walter Kasper, Barmherzigkeit/Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg 2012.

[28] Vgl. dazu Drecoll in: Mayer, Augustinus-Lexikon, unter „misericordia“, und Hellebrand a.a.O., S. 211-216.

Vorabveröffentlichung aus dem Sammelband «60 Porträts aus dem Kirchenrecht. Leben und Werk bedeutender Kanonisten» (ISBN: 978-3-8306-7824-3 – Erscheinungstermin: Februar 2017). Für die freundliche Genehmigung sei dem Herausgeber Philipp Thull und dem EOS-Verlag St. Ottilien herzlich gedankt!

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