Prinzipien der Anthropologie Augustins
(Vortrag beim Augustinus-Studientag 2004, Würzburg, Toscanasaal der Residenz)

Von Cornelius Mayer

Die Fachwelt gedenkt in diesem Jahr nicht nur der 1650. Wiederkehr der Geburt Augustins, sondern auch der 200. des Todes Immanuel Kants, der von der Philosophie die vier Fragen beantwortet haben wollte: ‹Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?› – wobei er die letzte für die gewichtigste hielt[1].

Nun war die Frage nach dem Menschen stets schon Thema des philosophischen Denkens, wenngleich nicht dessen bedeutsamstes. Das Denken der Antike z.B. kreiste um den Kosmos und es interessierte sich für den Menschen nur als dessen Teil. Erst in der neueren Zeit wurde der Mensch Kernthema des Philosophierens, weshalb auch die Philosophie mehr oder minder in Anthropologie überging, nicht selten allerdings darin auch unterging[2].

Ganz anders bei Augustinus, der gerade im Hinblick auf seine Anthropologie als der erste moderne Mensch gilt[3]. Gleich in einer seiner ersten philosophischen Schriften, den Soliloquien, einem philosophischen Diskurs zwischen ihm und seiner Vernunft, der ‹ratio›, lässt er seine seltsame Gesprächspartnerin fragen: «Was willst du wissen?» Seine vielzitierte Antwort lautet: «Gott und die Seele will ich erkennen». Und auf die Nachfrage «Weiter nichts?» lautet die Antwort bündig: «Ganz und gar nichts[4]».

Selbstverständlich kann bezüglich der Verknüpfung ‹Gott und die Seele› von einer Bipolarität bei Augustin keine Rede sein. Denn nichts und niemand bildet eine Art Gegenpol zu Gott und darum ist auch der Mensch in seiner Relation ganz und gar auf Gott hin bzw. von Gott her zu verstehen.

Dennoch wirft die Erkenntnis der Seele innerhalb des Junktims ein helles Licht auf des Kirchenvaters Lehre vom Menschen, nicht zuletzt in bezug auf unser Rahmenthema ‹Würde und Rolle der Frau›. Erkenntnis der Seele als Programm der Soliloquia zielt nämlich intentional auf die Selbsterkenntnis der Person Augustins und über ihn auf die Person eines jeden und einer jeden.

Gewiss kennt der junge Augustin die gängigen Definitionen des aus einer Geistseele sowie aus einem Leib zusammengesetzten Menschen[5]; sie alle artikulieren den Vorrang der Seele über den Leib. In der Frühschrift Über die Sitten der Katholischen Kirche lesen wir: «Der Mensch ist ..., so wie er dem Menschen erscheint, eine vernunftbegabte Seele, die über einen sterblichen und irdischen Leib verfügt»[6]. Es ist also im Junktim ‹Gott und die Seele› die Ausklammerung der Leiblichkeit – was für den Gottesbegriff verständlich ist, aber für den Begriff Mensch mitnichten – kaum zu übersehen.

Des frühen Augustins Interesse an der Erkenntnis des Menschen konzentriert sich so gut wie ausschließlich auf dessen Geistseele[7]. Daraus darf man bereits im Blick auf unser Rahmenthema ‹die Würde der Frau› den Schluss ziehen: Ist die Frau per definitionem ein Mensch und ist sie dies aufgrund ihrer Geistseele, so müsste man sich über ihre Nichtgleichwertigkeit gegenüber dem Mann geradezu wundern. Treten demnach die Differenzen vorzüglich, wenn nicht ausschließlich, auf der Ebene der Leiblichkeit in Erscheinung, so vermag doch ihre ausschließlich daraus abgeleitete eventuelle Nichtgleichwertigkeit mit der in ihrer Geistseele angelegten Gleichwertigkeit kaum zu konkurrieren.

Zum besseren Verständnis des Themas Prinzipien der Anthropologie Augustins dürfte ein Blick auf dessen geistige Entwicklung bis zum Beginn seiner schriftstellerischen Aktivitäten hilfreich sein, denn aus seinen ein gutes Jahrzehnt später abgefassten Confessiones geht hervor, dass er sich die in seinen Frühschriften dargelegte Sicht über den Menschen kurz zuvor erst erworben hat.

Der hochbegabte Augustinus verlebte eine normale Jugend. Als Student genoss er die Freuden des Leibes. Er lebte mit einer Konkubine zusammen, von der er einen Sohn hatte. Er war 19 Jahre alt, als er Ciceros Hortensius, eine Werbeschrift für die Philosophie, las, die eine Wende in ihm auslöste[8]. Denn Glück, so war darin zu lesen, liege einzig und allein im Erwerb der Weisheit, die im Unterschied zu den materiellen Gütern und zu den Wonnen des Leibes dem Menschen nicht genommen werden könnte.

In einem gesicherten Fragment aus jener verloren gegangenen Schrift heißt es: «Denn eine heftige Lust des Leibes kann nicht mit vernünftigem Denken harmonieren. Wer ist nämlich imstande, wenn er jene Lust genießt, die größer ist als jede andere, sich mit dem Geist auf etwas anderes zu konzentrieren ... Wer, mit gutem Verstand ausgerüstet, würde es nicht vorziehen, dass uns von der Natur überhaupt keine Lust gegeben worden wäre?»[9].

Dieser Text spricht für sich und wie Augustin berichtet, hat er damals begonnen, sich zu erheben. Mit unglaublicher Heftigkeit habe sein Geist nach dem Erwerb unvergänglicher Weisheit verlangt. Er griff zur Bibel, weil sie ihn aber nicht befriedigte, geriet er unter den Einfluss der Manichäer, die ihm die Weisheit versprachen. Ihrem weltanschaulichen Dualismus zufolge stehen Gutes und Böses gleich zwei Prinzipien einander gegenüber. In konsequent dualistischer Deutung identifizierten sie auch im Menschen das Gute mit der Seele und das Böse mit dem Leib und stützten ihre Lehre sogar mit dem paulinischen Satz aus Gal 5,17, wonach ‹das Begehren des Fleisches› sich gegen ‹das Begehren des Geistes› richtet[10].

Abermals waren es philosophische Texte, mit deren Hilfe es Augustinus gelang, sich aus der Umklammerung der Manichäer zu lösen. Er war bereits Professor der Rhetorik in Mailand, als ihm um sein 30. Lebensjahr Bücher der Neuplatoniker in die Hände gespielt wurden, die, wie er in einem bald darauf geschriebenen Dialoge berichtet, «ein mächtig loderndes Feuer» in ihm entzündet hätten und die er deshalb «mit größter Aufmerksamkeit und Hingabe» durchgelesen habe[11].

Im Gegensatz zum Manichäismus vertraten die Neuplatoniker eine monistische Weltanschauung. Zwar unterschieden auch sie zwischen zwei Sphären des Seienden, einer dem Raum und der Zeit enthobenen geistigen (νοητὰ) sowie einer davon abhängigen, jedoch dem Raum und der Zeit unterworfenen, materiellen und veränderlichen (αἰσθητά). Sie fassten aber ihrer Ontologie, ihrer Lehre vom Sein des Seienden zufolge, diese an Seinsdichte nach oben zunehmenden, nach unten abnehmenden Sphären in einer einzigen, jedoch gestuften Wirklichkeit des κόσμος, des ‹ordo rerum›[12], zusammen. An seiner Spitze, so lehrten sie, stünde ein begrifflich nicht mehr fassbares Prinzip, das sie schlicht ‹das Eine› (ἕν) nannten[13], an dessen Ende die unstrukturierte Materie (μὴ ὄν).

In der Mitte der Skala befindet sich der Mensch, richtiger gesagt, die Geistseele des Menschen. Sie entstammt ebenfalls der Spitze des Seins, wurde aber aus bestimmtem Grunde zur Strafe auf jener Stufe an den materiellen Leib gebunden. Denn wie schon Platon lehrte, sind die Leiber Gefängnisse der Seelen. So ist die Seele zerrissen und gespalten. Die ἐπιθυμίαι, die Lüste, die Begierden und die Leidenschaften, die vom Leib ausgehen, hindern sie an der Schau (θεωρία) des über sie angesiedelten geistig Seienden und deren Spitze[14].

Umgekehrt, wendet die Geistseele sich den über sie liegenden Stufen des Seins zu, so erhebt sie sich; es kommt zur Überwindung ihres Zersplittertseins. Dieser Prozess der Selbstwerdung erfolgt aus eigener Kraft. Der anthropologische Imperativ Plotins, des Hauptes der Neuplatoniker, lautete: «Mensch werde Seele!» und: «Seele werde du selbst!»[15]. Selbstwerden meint Innewerden der Seele als geistig Seiendes und deren Ausrichtung auf ‹das Eine› hin[16]. Übrigens berichtet Porphyrios, Schüler und Biograph Plotins, dieser sei eine Art von Mensch gewesen, «die sich dessen schämt, im Leibe zu sein»[17].

Man erkennt in diesen Sätzen unschwer Argumentationsmuster aus den Soliloquien wieder. Die Geistseele in ihrer Beziehung zu Gott will Augustinus erkennen, denn für den christlichen Neuplatoniker war ‹das Eine› der offenbarte Gott, der Schöpfer, dessen immaterielles, rein geistiges Wesen außer Frage stand. Außer Frage stand ebenso die negative Sicht des Leiblichen sowie die Bevorzugung einer den Leib und dessen Bedürfnisse einschränkenden Ethik. Immerhin erteilt die ‹Vernunft› als Gesprächspartnerin Augustinus den Rat, wolle er in der Selbst- und Gotteserkenntnis Forschritte machen, müsse er diese Sinnenwelt von Grund auf fliehen – ‹penitus ista sensibilia fugienda›[18].

Eine Einbeziehung des Leibes und dessen Bedürfnissen in die philosophische Reflexion blieb also beim frühen Augustinus so gut wie ausgeschlossen. Der Leib gehört dem Bereich des ‹foris›, des ‹draußen› an. Noch in der vor der Übernahme kirchlicher Ämter verfassten Schrift Über die wahre Religion formulierte er die Maxime für die Suche nach der Wahrheit: «Geh nicht nach außen, in dich selbst kehre zurück, denn im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur als wandelbar empfindest, übersteige dich selbst»[19].

Der erwähnte Porphyrius war der Verfasser der Schrift Über die Rückkehr der Seele, die Augustinus höchst wahrscheinlich gelesen hat und in der er Parallelen zur christlichen Heilsverkündigung kaum übersehen haben dürfte. Von der darin propagierten ‹Um- und Rückkehr›, der ἐπιστροφή, der ‹conuersio› als Bedingung des Aufstiegs ‹zum Einen›[20], dem Ziel der ‹Rückkehr›, konnte er auch in den Evangelien – etwa Mk 1,15, wenngleich dort unter anderer Zielsetzung – lesen. Er las diese Aufforderung zur Umkehr wohl noch mit neuplatonischem Vorverständnis. Mit gleichem Vorverständnis konnte er in den Paulusbriefen von dem spannungsreichen Begriffspaar ‹Fleisch› und ‹Geist›, σάρξ und πνεῦμα, ‹caro› und ‹spiritus›[21], lesen. Beschreibt Paulus damit bei allen Divergenzen zum Neuplatonismus nicht den Riss, den Bruch, den Zwiespalt, der die an den materiellen Leib gekettete Seele von ihrem Ursprung entfremdet?

Wir können also in bezug auf unser Thema feststellen, dass der Leib und die Leiblichkeit des Menschen im Denken des frühen Augustinus so gut wie keine, und wenn ja, vorzüglich eine negative Rolle spielten. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auch auf seine frühe Christologie aufschlussreich. Nicht die paulinische, auf den ‹Mittler Christus› hin zentrierte Verkündigung stand im Vordergrund des Interesses in seinen Schriften aus jener Zeit, sondern ‹Gottes Mensch gewordenes Wort›, der als der ‹innere Lehrer›, als der ‹magister interior›, durch Einleuchtung das Erkennen alles Wahren im Menschen ermöglicht[22]. Diese christologische Perspektive sollte sich verschieben und dies hatte Folgen auch für die Anthropologie des Kirchenvaters.

In den gegen Ende seines Lebens verfassten Retractationes überprüfte der greise Bischof seine Schriften der Chronologie ihrer Abfassung nach. Darin erteilte er den Lesern den Rat, sie sollten seine Bücher der Reihe ihrer Entstehung nach lesen, damit sie sähen, ‹wie er im Schreiben Fortschritte machte›[23].

Dieser von Augustinus als Fortschritt interpretierte Wandel wird bereits in den ersten Jahren seiner Seelsorgstätigkeit deutlich. Im Jahr 391 wurde Augustinus Priester in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo und als solcher beauftragt, Gottes Wort zu verkünden. Kurz nach seiner Ordination ließ er sich daraufhin von seinem Bischof zum Zwecke «eines tieferen Eindringens in die heilige Schrift» für einige Monate beurlauben[24]. Er verfasste jetzt keine Dialoge mehr. In dichter Folge erschienen dagegen bibelexegetische Schriften, zu Paulusbriefen[25], zur Genesis[26] und zum Psalter[27].

Natürlich findet man in der Bibel keine Definition über den Menschen[28]. Dafür artikuliert sie dessen Größe und Würde, etwa im Psalm 8,5: «Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du seiner dich annimmst? –, häufiger jedoch artikuliert die Bibel dessen Niedrigkeit Gott gegenüber, etwa im Psalm 39,6sq.: «Nur wie ein Hauch steht jeder Mensch da, nur als Schattenbild wandelt er einher» (ähnlich 144,4). Diese überwiegend negative Sicht entging Augustinus freilich ebenfalls nicht.

In den auch sprachlich der Bibel angepassten Confessiones stößt der Leser wiederholt auf Sätze, in denen die Zwiespältigkeit und die Tragik des Menschseins unmissverständlich zur Sprache kommen. «Was ist der Mensch, wer er auch sei, als eben ein Mensch?», heißt es zum Beginn des 4. Buches und einige Kapitel weiter folgt der knappe Satz, der das Rätselhafte des Menschseins sozusagen auf den Punkt bringt: «Ein abgrundtiefes Geheimnis – grande profundum – ist der Mensch»[29]. Und im 10. Buch, in dem Augustinus den kühnen Versuch unternimmt, sein Innerstes vor Gott bis in die feinsten Ästelungen hinein bloßzulegen, stellt er fest, dass des Menschen Geist zu eng sei, sich selbst zu fassen, weshalb ihn auch ein Wundern und Staunen packe[30]. Im gleichen Buch folgt dann noch das Bekenntnis, er sei sich selbst zu einer ‹Frage› geworden, und eben dies sei sein Siechtum[31].

Nach wie vor wird indes der Mensch ausschließlich in seiner Bezogenheit auf Gott hin verstanden. Diese Sicht verbindet den Seelsorger mit dem Neuplatoniker. Daneben gibt es aber ein nicht zu übersehendes und auch nicht zu überbrückendes Neues, wovon die Bibel zu reden nicht müde wird: Gottes Interesse am Menschen, Gottes Eingreifen in des Menschen Geschick und Geschichte. Nach dem Neuplatonismus lebt der Mensch zwar ebenfalls in der Geschichte, aber zum Heil gelangt er gleichsam auf dem Weg seiner Emanzipation aus der Geschichte, kraft eigener und eigenständiger philosophischer Reflexion.

Nicht so nach dem Christentum. Dieses steht und fällt mit dem Wissen um die Ohnmacht des Menschen, sein Heil aus eigenem Wollen wirken zu können. Gott schafft Heil[32]. Ein grenzenlosen Vertrauen des sich als Sünder verstehenden und auf Gottes Erbarmen angewiesenen Menschen bestimmt nach dem Neuen Testament, speziell nach den Paulusbriefen, das christliche Heils- und Menschenverständnis.

In den Briefen des Apostels Paulus, der sich den Menschen ohne Leib weder im Diesseits noch im Jenseits vorstellen konnte[33], stößt der Leser auf eine ausgeprägte, auf das Erlösungswerk Christi hin konzipierte Anthropologie. In seinem Ersten Korintherbrief, Kap. 15, nennt der Apostel in der Perspektive der Heilsgeschichte und im Unterschied zu Adam, ‹dem ersten Menschen› (πρῶτος ἄνθρωπος), den verherrlichten Christus den ‹zweiten Menschen› (δεύτερος ἄνθρωπος) bzw. den ‹letzten Adam› (ἔσχατος Ἀδάμ). Kam durch den ‹ersten› der Tod, so durch den ‹letzten›, den er auch ‹lebendigmachenden Geist› (πνεῦμα ζωοποιοῦν) nennt, das ewige Leben. Besaß Adam nur einen psychischen Leib (σῶμα ψυχικόν), so Christus einen pneumatischen (σῶμα πνευματικόν). Der Mensch wird also von Paulus grundsätzlich in dessen Beziehung sowohl zu Adam wie zu Christus gesehen und gedeutet.

Um die Folgen dieser Doppelbeziehung zu illustrieren, verwendet Paulus das bereits erwähnte Begriffspaar ‹Fleisch› (σάρξ) und ‹Geist› (πνεῦμα) – so in Rm 7,14-25 und Gal 5,17. Beide Begriffe signalisieren nicht nur verschiedene, sondern einander ausschließende Daseinsmöglichkeiten. ‹Fleisch› meint nicht den Leib bzw. das Leben im Leib, sondern die Selbstbezogenheit, die Existenzweise des durch seine Begierden (ἐπιθυμίαι) von Gott entfremdeten, in der Sünde verwurzelten Menschen. Umgekehrt meint ‹Geist›, worunter primär der dem Menschen geschenkte ‹Geist Gottes› bzw. ‹Geist Christi› zu verstehen ist, negativ den Verzicht auf die Selbstherrlichkeit, positiv die Ausrichtung des Daseins auf Christus hin.

Die Existenzweise ‹dem Fleische nach› (κατὰ σάρκα) führt ins Verderben, die ‹dem Geist nach› (κατὰ πνεῦμα) zum ewigen Leben, an dem der Glaubende Anteil hat – wenngleich erst einen verheißenen. Die Anthropologie des Apostels ist deshalb ohne seine Eschatologie nicht zu verstehen. Es bleibt somit eine Spannung in der neuen, durch Christus vermittelten Existenz erhalten. Zum Indikativ des Christseins gehört der Imperativ des Christwerdens. «Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr nicht das Begehren des Fleisches erfüllen!», mahnt der Galaterbrief (5,16).

Obgleich Augustinus die paulinische Anthropologie sich weithin zu eigen machte, so blieb er doch zeitlebens ein in der Philosophie, insbesondere in der Ontologie der Neuplatoniker verankerter Intellektueller. Als Christ las er die Schriften der Neuplatoniker zunehmend mit christlicher Brille[34]. Man wird umgekehrt nicht behaupten können, Augustin las die Bibel zunehmend mit einer neuplatonischen Brille. Einiges aber las, verstand und interpretierte er so. Vielleicht ist gerade dieses hermeneutische Verfahren das Proprium, das Faszinierende, gelegentlich auch Schockierende an seinem Denken.

Augustin wurde Mitte der 90er Jahre des 4. Jahrhunderts zum Bischof seiner Diözese geweiht. Er war jetzt verantwortlich für den christlichen Unterricht im weitesten Sinn des Wortes. Wieder ging er sogleich daran, eines seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Werke zu schreiben, dem er den Titel gab: De doctrina christiana – Die christliche Wissenschaft[35]. In diesem vier Bücher umfassenden Opus geht es zwar um das rechte Verständnis der Bibelauslegung, diese ist aber eingebettet in eine Fundamentalhermeneutik, deren Regeln im ersten Buch ausführlich erörtert werden. Ihnen liegt eine Ontologie zugrunde, die der Auslegung den Weg weist. Auszulegen ist alles ‹Veränderliche› auf das mit dem dreieinigen Gott identische ‹Unveränderliche› hin.

Die Terminologie ‹veränderlich-unveränderlich› verrät abermals die platonische Herkunft dieser Ontologie, die auch der Ethik, dem Umgang des Menschen mit allem, den Weg weist. Gott allein, weil ‹unveränderlich›, bietet sich ‹zum Genuss› dar, ‹Veränderliches› hingegen ‹zum Gebrauch›. Das Begriffspaar ‹Genießen-Gebrauchen›, ‹frui-uti›[36] entstammt als Schema ebenfalls der Güterlehre der Philosophie. Sie setzte das ‹höchste Gut› von den übrigen Gütern ab und lehrte, allein jenes ‹Höchste›sei um seinetwillen zu erstreben. Alles andere sei so zu gebrauchen, dass das ‹Höchste› aller Güter, zugleich Inbegriff des Wahren, des Schönen und damit Inbegriff des wahren Glücks, erlangt werden könne.

Die Unverfänglichkeit, mit der die Bibel auch über irdisches Glück redet, begegnet einem bei Augustinus nur unter Vorbehalt. Glück ist bei ihm nichts Irdisches, weil Irdisches vergänglich und weil Vergängliches für die Geistseele verfänglich ist. Einer der ausgewiesensten Kenner der Anthropologie Augustins, Erich Dinkler, Verfasser der gleichnamigen Studie aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zeiht den Kirchenvater eines von Anfang an latenten, dann immer offensichtlicher gewordenen anthropologischen Dualismus. Dinkler spricht von einer förmlichen Antithetik. Der Mensch als Einheit werde bei Augustinus zerrissen, «die Seele mit Gott in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt und der Leib mit der Welt und der Sünde identifiziert»[37].

Ich habe Bedenken gegen eine solche angebliche Identifizierung des Leibes mit der Sünde, weil Sünde im Sinne von Sündigen eine Sache des Willens ist, dessen Primat unter der sonstigen Ausstattung des Menschen von Augustin wiederholt zur Sprache gebracht wird. Wie Dinkler selbst darlegt, hat Augustinus sich in seiner Anthropologie die Perspektive der Bibel zu eigen gemacht. Das heißt allerdings zugleich, dass er die Paradieseserzählung über Adam und Eva historisiert hat, so dass er deren Geschichte mit einem Dasein beginnen ließ, das keine Zersplitterung ihrer Geisteskräfte, keine Gegensätze in ihren Handlungsmotiven, vielmehr eine höchste Konzentration ihres Willens auf Gott hin kannte.

Natürlich historisierte Augustin die biblische Erzählung auch vom Sündenfall. Obgleich der Wille gravierende Einbußen erlitt, so blieb doch sein Primat im postlapsarischen Zustand des Menschen erhalten[38]. Was hindert nun aber den Willen an der Konzentration seiner Kräfte auf das höchste Gut hin? Ist es der materielle Leib, ist es die Welt? Gab es beide nicht schon vor dem Fall?

Ist aber der Wille weiterhin das dominierende Element der Geistseele, so folgt doch daraus, dass er verantwortlich ist für das, was er will wie auch für das, was er nicht will, ebenso aber auch für das, was er verkehrt will bzw. verkehrt nicht will. Was er aber verkehrt will bzw. verkehrt nicht will, verstößt gegen die ‹Ordnung›, die Gott will, und deshalb Sünde ist. Nach wie vor ist es somit der Wille, der sich auf die Affekte, Triebe und Regungen erstreckt, und diese sind ihrerseits wieder Willenskundgebungen[39].

Augustins Ethik stützt diesen seine Anthropologie kennzeichnenden Voluntarismus. Denn die Liebe als Fundament und Ziel der Ethik bildet mit dem Willen eine untrennbare Einheit[40]. Die christliche ‹caritas› bzw. ‹dilectio› ist ihrem Wesen nach nicht Gemüt, sondern Wille – auf das Gute gerichteter Wille. Der perverse Wille ist perverse Liebe, Begierde[41].

Augustin hat die Perversion eines gespaltenen Willens an sich schmerzlich wahrgenommen und in den Confessiones dramatisch beschrieben. «Woher dieses Monströse» – fragt er rhetorisch höchst wirkungsvoll gleich dreimal, die Widerstände seines eigenen Wollens beklagend –, «es befiehlt die Seele dem Leib und er gehorcht, es befiehlt die Seele sich selbst und sie stößt auf Widerstand?»[42]. So ist es die Geistseele, die mit sich selbst im Kampf liegt und gegen sich Krieg führt. «Wer hat diesen Krieg in mir angezettelt – quis in me seminavit hoc bellum?» fragt er noch in einer seiner späteren Schriften[43]. Die Antwort lautet nach wie vor: der Mensch. Er ist der Schuldige. Sein Siechtum resultiert aus der Schwäche seines Wollens.

In heilsgeschichtlicher Perspektive existiert der Mensch nach Augustinus in drei aufeinanderfolgenden Stadien, dem im Paradies bis zum Sündenfall, dem nach dem Sündenfall bis zum Ende der Zeiten mit der wichtigen Zäsur der Menschwerdung Christi und dem seiner Vollendung nach Christi Wiederkunft. Verständlicherweise richtete sich des Kirchenvaters anthropologisches Interesse auf das zweite Stadium, das er im Hinblick auf die Befindlichkeit des Menschen mit einer Krankheit vergleicht. «In diesem sterblichen Körper geboren zu werden, bedeutet, anfangen krank zu sein», heißt es in einer Predigt[44].

Der Mensch konnte sich zwar aus eigener Schuld ins Elend stürzen, befreien daraus vermag er sich nicht. Es fehlt zwar nicht an seinem Genesungswillen, dieser wird aber dann erst zu einem genesenden Willen, wenn ihm die Gnade zu Hilfe kommt[45]. Welche Rolle spielt sie, was vermag sie, und – dies ist von nicht geringerer anthropologischer Relevanz! – was vermag sie nicht? Um auch diese Fragen beantworten zu können, ist abermals ein Blick in die Biographie Augustins aufschlussreich, der sich in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens gezwungen sah, sich mit der pelagianischen Häresie auseinander zu setzen. Dabei ging es erneut um das Verständnis des Menschen als Gottes Geschöpf.

Pelagius und dessen Anhänger lehrten bezüglich der Gnade Christi, diese bestünde vorzüglich, wenn nicht gar ausschließlich in der Aufforderung Jesu zu einer Lebensführung nach den sittlichen Vorschriften des Evangeliums. Augustinus erkannte darin die Gefahr einer Aushöhlung der vom Apostel Paulus so eindringlich verkündeten, in Christi Kreuz und Auferstehung gründenden Bedeutung der Gnade, die den Glaubenden negativ die Sündenvergebung, positiv die Gotteskindschaft schenkt. Zwar leugneten die Pelagianer die Verführbarkeit der Adamskinder nicht, aber von einer Adamssünde, die sich vererbt, wollten sie nichts wissen. Sie verwiesen auf Personen, deren Vollkommenheit wie z.B. die Hiobs die Bibel selbst rühmend hervorhebt.

Augustin hingegen kam es in seiner Gnadenlehre auf den Sündenstatus aller vor Gott an. Er übersetzte den Kausalsatz in Röm 5,12: «weil alle sündigten», ἐφ᾿ ᾧ πάντες ἥμαρτον, grammatikalisch zwar inkorrekt mit «in quo omnes peccaverunt», «in dem (nämlich Adam) alle sündigten», aber intentional gab er Paulus korrekt wieder. Denn wenn der Apostel im Kontext dieser Stelle betont, dass es ‹durch die Übertretung eines einzigen›, nämlich Adam, ‹für alle Menschen zur Verurteilung› kam, ‹so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen›, nämlich Christus ‹für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen› (Röm 5,18).

Adams Sünde, ein ‹debitum hereditarium›[46], erbt sich von Generation zu Generation fort. Da Vererbung ein leiblicher Vorgang ist, rückte verständlicherweise der Leib und mit ihm die Geschlechtlichkeit mehr und mehr ins Blickfeld der anthropologischen Reflexion der Kontrahenten. Dabei stieß Augustin auf den erbittertsten Widerstand des Pelagianers Julian von Aeclanum. Dieser, Sohn eines katholischen Bischofs und selbst verheirateter Bischof, ein ebenso dialektisch wie rhetorisch brillanter Intellektueller, vermochte am Zeugungsvorgang als solchem keinen Makel zu entdecken und er fand auch genügend Stellen in der Bibel, die seine Ansicht stützten. Außerdem hatte er physiologische Einsichten anerkannter Autoritäten auf seiner Seite[47].

Augustin hingegen, der in bezug auf die Bewertung des Leibes zwar eine beachtliche Entwicklung durchlief[48], hielt seine Reserve allem Sexuellen gegenüber bis ins hohe Alter aufrecht[49]. Er nahm z.B. den aus den Soliloquien bereits zitierten Satz, «die Sinnenwelt» sei «ganz und gar zu fliehen», in seinen Retractationes nur einschränkend zurück. Er wolle nunmehr allein jene ‹Sinnenwelt› ausgenommen wissen, die es «in einem neuen Himmel und einer neuen Erde» geben werde[50]. Bis zum Eintreffen des Endzustandes bleibt somit im Menschen, auch in dem bereits Gerechtfertigten, die ‹concupiscentia carnalis› wirksam. Denn die Gnade der Rechtfertigung hebe lediglich den Zustand des Angeklagtseins, den ‹reatus›, auf, die Begierlichkeit des Menschen beseitige sie nicht.

Augustins Lehre von der Konkupiszenz gehört deshalb zum integrierenden Bestand seiner Lehre sowohl über den gefallenen als auch über den schon gerechtfertigten Menschen. Nach dem gut recherchierten Artikel im Augustinus-Lexikon von Gerard Bonner ist ‹concupiscentia›[51] (aequivalent mit ἐπιθυμία) ein Terminus technicus des Begehrens, der je nach dem Objekt, das er begehrt, positiv oder negativ konnotiert. Wie Augustinus ausdrücklich feststellt, dominiert das negative Konnotat im Sprachgebrauch auch dann, wenn das Objekt des Begehrens fehlt[52]. Die Bibel selbst und mit ihr die christlichen Schriftsteller verwenden ihn vorrangig in diesem pejorativem Sinn.

Bei Augustin deckt der Begriff in seiner negativen Konnotation die ganze Skala sündhafter Begierden ab wie, um nur ein Beispiel zu nennen, die Herrschsucht[53]. Spricht demnach der Bischof von der ‹concupiscentia carnis›, so ist Subjekt der Begierlichkeit nicht die ‹caro›, sondern, wie schon wiederholt gesagt, die Geistseele. Dennoch scheint Augustin die Konkupiszenz sofern auch an den Leib zu binden, als er sie physiologisch an den Sexualorganen signifikant wahrnehmen zu müssen glaubte. Diese Sicht der ‹concupiscentia carnis› erlaubte es ihm, sich die Erbsünde zu erklären, zumal er sie, wie bereits erwähnt, als eine Wunde betrachtete, die dem ganzen Menschengeschlecht durch die Adamssünde hinzugefügt wurde[54].

In De ciuitate dei legte der Kirchenvater diese seine Auffassung anhand der Erzählung vom Sündenfall aus Gn 3 ausführlich dar. Der bestimmende Gesichtspunkt seiner Exegese ist der Ungehorsam. Das Vergehen der Stammeltern bestand in ihrer aus Stolz motivierten Abwendung von Gott bzw. in der Hinwendung zu niederen Gütern oder, um in der Terminologie Augustins zu sprechen, im ‹Genießen› (frui) dessen, was zum ‹Gebrauch› (uti) bestimmt ist. ‹Ab- und Hinwendung› ist Sache des Willens. Deshalb traf auch die Strafe primär den Willensbereich der Geistseele. Der Wille ging seiner Herrschaft speziell der über die Sexualorgane verlustig, denn «Ungehorsam war durch Ungehorsam vergolten»[55].

Die Unbotmäßigkeit der Sexualorgane manifestiert sich in dem von der Lust begleiteten und in dem mit dem Verlust der Kontrolle darüber einhergehenden Geschlechtsverkehr. «Sie aber (sc. libido) nimmt den ganzen Leib innerlich wie äußerlich in Anspruch und da das Verlangen der Seele sich mit dem sinnlichen Verlangen vereinigt, bringt sie den ganzen Menschen in Wallung. Darauf folgt jene Sinnenlust, mit deren Intensität keine andere körperliche Lust zu vergleichen ist. Auf ihrem Höhepunkt angelangt, löscht sie so gut wie alle Schärfe und Wachsamkeit des Denkens aus»[56].

Wer erkennt in diesen Sätzen nicht Gedanken aus dem eingangs zitierten Hortensiustext wieder? War nicht dort schon von jener Lust die Rede, ‹die größer ist als jede andere› und ‹den Geist hindert, sich auf etwas anderes zu konzentrieren›? Und fragte Cicero nicht: «Wer mit gutem Verstand ausgerüstet, würde es nicht vorziehen, dass uns von der Natur überhaupt keine Lust gegeben worden wäre?» In De civitate dei wird die Frage auf den Ehestand gezielt so formuliert: «Welcher Freund der Weisheit ... der im Ehestand lebt, ... möchte nicht lieber, wenn es möglich wäre, Kinder ohne Wollust erzeugen?»[57] Freilich erfährt der Wille Widerstand über die Sexualorgane selbst, die gelegentlich ihren Dienst versagen, wenn der Mensch sie in den Dienst nehmen will.

Wie seriöse Forschungen zeigen, entnahm Augustinus die Auffassung von der Ausschaltung der Geisteskräfte angesichts der in den Sexualorganen gleichsam lokalisiert gedachten Lust (voluptas) der Philosophie der Stoiker und Neuplatoniker[58]. Er fand indes auch in der Bibel Texte, die ihm solche Auffassungen zu bestätigen schienen, wie den von ihm des öfteren zitierten Vers aus Sap 9,15: «Der gebrechliche Leib belastet die Seele und die irdische Behausung drückt den vieles erwägenden Geist nieder»[59].

Ziehen wir ein Resümee, so muss zunächst auf die weite Übereinstimmung zwischen der Anthropologie Augustins und seiner Biographie hingewiesen werden. Biographische Details in den Confessiones liefern sozusagen den Verstehensschlüssel auch zu seiner Anthropologie. Treffend bemerkte schon Dinkler: «Augustin war sich selbst Paradigma ... seine Lehre vom Menschen war die abstrahierte Erkenntnis vom eigenen Sein, das Ergebnis des γνῶθι σεαυτόν. Hier lagen die großen Gefahren für seine Lehre, aber hier wurzelt auch andererseits die Tiefe seines Blickes und die Lebendigkeit seiner Konzeption. ... der augustinische Mensch ist wenig verschieden vom Menschen Augustin»[60].

Seriöse Studien über die psycho-physiologische Konstitution Augustins, auf die wir hier nicht eingehen konnten, machen auf dessen leichte Affizierbarkeit und hohe Sensibilität sowohl in der Jugend wie auch noch im Alter aufmerksam. Den Leib und dessen Bedürfnisse im Schach zu halten, war Augustinus seit der Hortensiuslektüre ein Herzensanliegen, aber auch eine Herausforderung.

Zwar hat der späte Augustin auf den Wandel in seiner geistigen Entwicklung hingewiesen. Dennoch fällt in bezug auf seine Anthropologie bei allem Wechsel in seiner Biographie angefangen von der Hortensiuslektüre bis ins hohe Alter eine Konstante ins Auge, die sich als Spannung zwischen der Geistseele und dem Leib manifestierte. Im pelagianischen Streit trat diese Spannung auch literarisch in ein helles Licht. Der Pelagianer Julian versuchte vergebens, Augustin auf die Defizite in seiner Anthropologie hinzuweisen, indem er die Sexualität in der Ehe und die damit notwendig gegebene Konkupiszenz als gottgewollt verteidigte. Wegen der Verurteilung der die Gnade dem freien Willen hintansetzenden Häresie der Pelagianer konnte sich ihre Auffassung von einer gottgewollten Sexualität in der Kirche nicht durchsetzen.

Augustin ließ sich auf rein biologisch-physiologische Argumente in seiner Anthropologie nicht ein. Er hielt die Prinzipien seiner Anthropologie sowohl für philosophisch-metaphysisch sowie auch für theologisch abgesichert und deshalb für schlüssig. Seine Reflexionen über den Menschen beschränken sich, wie gezeigt, nicht auf dessen gegenwärtigen Status. Sie überschreiten heilsgeschichtlich betrachtet zwei Grenzen, einmal rückwärts ins Paradies, sodann vorwärts in den Zustand am Ende der Zeiten. Die ganze Menschheit existiert gegenwärtig ‹als eine von Gott entfremdete Masse›[61]. Der wahre Mensch ist nicht der entfremdete, sondern der von aller Entfremdung befreite, der Erlöste. Deshalb ist auch der nicht auf dem Wege der ‹concupiscentia carnis› inkarnierte Christus der wahre Mensch – Gottes Ebenbild, die ‹imago dei› schlechthin.

Nun sind es gerade diese in der Ontologie wie in der Offenbarungstheologie gründenden Prinzipien, die, um nochmals auf unser Rahmenthema zu sprechen zu kommen, eine Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau schlicht verunmöglichen. Solche Möglichkeiten gab es gewiss bei einer vorzüglich die Leiblichkeit des Menschen und die jeweils geltenden sozialen Verhältnisse als Prinzipien reflektierenden Anthropologie. Belege dafür gibt es tausendfach in allen Religionen und in allen Weltanschauungen – auch in den christlichen der ausgehenden Spätantike.

Die Kritik an der Anthropologie Augustins richtet sich heutzutage mehr den je auf die von ihm empfohlene Enthaltsamkeit. Dazu ist zu sagen, dass er wie übrigens auch andere christliche Schriftsteller seiner Zeit die nicht zuletzt in der Verkündigung von der Naherwartung der Wiederkunft Christi gründenden Motive zur Enthaltsamkeit nicht mehr deutlich sah. Deutlich sah er aber deren Präferenz in seiner auch ontologisch fundierten und von einer Naherwartung unabhängigen Theozentrik. Aufschlussreich dafür ist sein berühmtes Gebet in den Soliloquien. Es artikuliert aufs Schönste sein auf Gott hin ausgerichtetes Selbst- und Daseinsverständnis.

«Lass mich dich suchen, Vater, befreie mich vom Irrtum. Mir, dem dich Suchenden begegne nichts an Stelle deiner. ... Wenn aber in mir die Sehnsucht nach Überflüssigem ist, dann läutere du selbst mich; mach, dass ich fähig werde, dich zu schauen. Was im übrigen das Heil meines sterblichen Leibes betrifft, so überantworte ich ihn, wie lange er mir auch zum Nutzen ist, dir, weisester und bester Vater, ebenso, die ich liebe. Für den Leib will ich erbitten, was du zur gegebenen Zeit mir nahe legen wirst. Nur um das Eine bitte ich deine allerhöchste Barmherzigkeit: kehre du mich vollends zu dir hin und lass nicht zu, dass sich mir, indem ich zu dir hin strebe, irgendetwas daran hindere. Befiehl du mir, dass ich solange ich meinen Leib trage und schleppe, rein, mutig, gerecht und klug sei, ein Mensch, vollendet in der Liebe und im Empfang deiner Weisheit, würdig, dass du in mir wohnest und ich selbst ein Bewohner deines glückseligsten Reiches sei. Amen, Amen»[62].

An diesen Sätzen wie übrigens auch an dem Eingangs zitierten ‹Gott und die Seele will ich erkennen› hatte der greise Augustin nichts auszusetzen.

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[1] Kritik der reinen Vernunft, A. 805; B. 833.

[2] Siehe dazu das aufschlussreiche Vorwort zum Sammelband Philosophische Anthropologie heute, Hrsg. R. Roček/O. Schatz, München 21974, 7-18.

[3] P. Ricœur, Liberté in: Encyclopedia Universalis 9 (1971) 979-985, 984 mit Bezug auf G.W.F. Hegel, Philosophie des Rechts § 124.

[4] Sol. 1,7.

[5] Beata u. 7: «uidetur ex anima et corpore nos esse compositos»; ord. 2,31: «homo est animal rationale mortale».

[6] Mor. 1,52: «homo igitur ut homini apparet, anima rationalis est mortali atque terreno utens corpore».

[7] Um diese Zeit verfasst er auch die Schriften De immortalitate animae sowie De animae quantitate.

[8] Conf. 3,7.

[9] Siehe dazu den Text, Cic. Hort. frg. 84 ed. Grilli (Milano 1962) in deutscher Übersetzung zitiert bei E. Feldmann, Das augustinische Menschenbild, in: Was ist der Mensch? Aktuelle Fragen der Theologischen Anthropologie (Hrsg. G. Lange), Bochum 1993, 49-72, 65.

[10] Augustin spricht davon in cont. 18.

[11] Acad. 2,5.

[12] Zum Terminus bei Augustinus: ciu. 5,9. Siehe auch J. Rief, Der Ordobegriff des jungen Augustinus, Paderborn 1962.

[13] Plot. 3,8 Περὶ φύσεως καὶ θεωρίας καὶ τοῦ ἑνός. Text und Übersetzung in der Ausgabe R. Harder, Plotins Schriften, Bd. IIIa., S. 1-33 mit Anmerkungen in IIIb., S. 363-380. Nach A. Richter, Plotins Lehre vom Sein und die metaphysische Grundlage seiner Philosophie, Halle 1867, Neudruck Aalen 1968, S. 23 bietet die Enneade 3,8 gleichsam das Grundgerüst der Philosophie der Neuplatoniker.

[14] Siehe Plot. 4,8.

[15] E. Dinkler, Die Anthropologie Augustins, Stuttgart 1933, S. 29 mit Verweis auf Plot. 5,9,5.

[16] Es gilt also «Geist zu werden», das will sagen: «die eigene Seele dem Geiste anzuvertrauen», Plot. 6,9,3, zitiert bei Dinkler, op. cit., S. 31, Anm. 1.

[17] Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften 1,1. Plotins Schriften, Bd. Ve: Anhang, Hamburg 1958.

[18] Sol. 1,24: «Unum est quod tibi possum praecipere; nihil plus novi: penitus esse ista sensibilia fugienda ...».

[19] Vera rel. 72.

[20] Zur Adaptation dieser Aufstiegslehre bei Augustinus: G. Madec, Ascensio, ascensus: AL 1 (1986-1994) 465-475.

[21] C. Mayer, Caro-spiritus: AL 1 (1986-1994) 743-759.

[22] Siehe dazu auch conf. 7,25.

[23] Retr. prol. 3.

[24] Siehe den Brief an Bischof Valerius Epistula 21; dort 3: «debeo scripturarum eius medicamenta omnia perscrutari».

[25] Zur Datierung dieser Briefe: T. G. Ring, Aurelius Augustinus. Schriften über die Gnade. Prolegomena I: Die Auslegung einiger Fragen aus dem Brief an die Römer (eingeleitet, übertragen und erläutert), Würzburg 1989, S. 11sq.; Id., Prolegomena II: Die Auslegung des Briefes an die Galater. Die angefangene Auslegung des Briefes an die Römer. Über dreiundachtzig verschiedene Fragen: Fragen 66-68 (eingeleitet, übertragen und erläutert), Würzburg 1997, S. 25sq., 47sq., 62sq.

[26] Zu den ersten beiden Auslegungen Augustins über die Genesis: D. Weber, De Genesi aduersus Manichaeos sowie De Genesi ad litteram imperfectus liber: AL 3 (2004) sub prelo.

[27] Zur Datierung einiger Enarrationes in die Presbyterzeit Augustins: H. Müller, Enarrationes in Psalmos. A. Philologische Aspekte: AL 2 (1996-2002) 804-838, S. 806sq.

[28] J. Bauer, Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz/Wien/Köln 21962, 828-842, S. 829.

[29] Conf. 4,1.22.

[30] Conf. 10,15: «ergo animus ad habendum se ipsum angustus est, ... multa mihi super hoc oboritur admiratio, stupor adprehendit me».

[31] Ib. 10,50: «... in cuius oculis mihi quaestio factus sum, et ipse est languor meus».

[32] Zu Plotin und Augustin siehe J. Trouillard, L’anthropologie et son histoire, in: Revue des sciences religieuses 28 (1954) 286-291.

[33] Dinkler, op. cit., S. 20. Zum Folgenden ebd., S. 10-22 sowie C. Mayer, Caro-spiritus.

[34] In den Confessiones hebt Augustinus im Nachhinein all das gebührend und kritisch ans Licht, was er dort an zentralen Inhalten christlicher Verkündigung nicht zu lesen bekam. Cf. conf. 7,13sq. mit den wiederholten «legi ibi, ... non ibi legi».

[35] K. Pollmann, Doctrina christiana (De-): AL 2 (1996-2002) 551-575.

[36] H. Chadwick, Frui-uti: AL 3 (2004) sub prelo.

[37] Op. cit. 247.

[38] Zum Primat des Willens B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, München/Berlin 1928, S. 82.

[39] Ciu. 14,6: «Voluntas est quippe in omnibus: imo omnes nihil aliud quam voluntates sunt».

[40] Cf. trin. 14,10.

[41] G. Bonner, Cupiditas: AL 2 (1996-2002) 166-171.

[42] Conf. 8,21.

[43] C. Iul. 5,26.

[44] En. Ps. 102,6.

[45] Siehe den Artikel von V.H. Drecoll, Gratia: AL 3 (2004) sub prelo.

[46] S. Guelf. 9,2: « debitores omnes eramus, cum debito hereditario omnes nascuntur».

[47] Zur Sache Vererbung aufschlussreich: E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Wiesbaden 1951; zu Julian F. Refoule, Julien d’Eclane, théologien et philosophe: Rech SR 52 (1964) 42-84.233-247.

[48] Siehe M.R. Miles, Augustine on the Body, Mossoula, Mont. 1979; ead., Corpus: AL 2 (1996-2002) 6-20.

[49] R. Goeden, Zur Stellung von Mann und Frau, Ehe und Sexualität im Hinblick auf Bibel und Alte Kirche, (Dissertation) Göttingen 1969, für Augustinus S. 122-132.

[50] Retr. 1,4.3: «... ne putaremur illam Porphyrii falsi philosophi tenere sententiam, qua dixit omne corpus esse fugiendum. non autem dixi ego: omnia sensibilia, sed ‹ista›, hoc est corruptibilia; sed hoc potius dicendum fuit, non autem talia sensibilia futura sunt in futuri saeculi caelo novo et terra nova».

[51] 1 (1986-1994) 1113-1122; id., Libido and Concupiscentia in St. Augustine: God’s Decree and Man’s Destiny. Studies on the Thought of Augustine of Hipppo, London 1987, XI 303-314.

[52] En. Ps. 118,8,3: « ... cum autem non additur quid concupiscatur, sed sola ponitur, nonnisi mala intellegitur».

[53] Cf. ciu. 1, praef.; 3,14.

[54] Nupt. et conc. 1,26: «hoc generi humano inflictum vulnus a diabolo quidquid per illud nascitur cogit esse sub diabolo».

[55] Ciu. 14,15: «denique, ut breviter dicatur, in illius peccati poena quid inoboedientiae nisi inoboedientia retributa est? nam quae hominis est alia miseria nisi adversus eum ipsum inoboedientia eius ipsius, ut, quoniam noluit quod potuit, quod non potest velit?»

[56] Ciu. 14,16: «haec autem non solum extrinsecus, verum etiam intrinsecus vindicat totumque commovet hominem animi simul affectu cum carnis appetitu coniuncto atque permixto, ut ea voluptas sequatur, qua maior in corporis voluptatibus nulla est; ita ut momento ipso temporis, quo ad eius pervenitur extremum, paene omnis acies et quasi vigilia cogitationis obruatur».

[57] Ib.

[58] G. Bonner, Concupiscentia 1119 mit Verweis auf ciu. 14,8sq., ferner E. Dinkler, op. cit., S. 249; H. Chadwick, Enkrateia: RAC 5 (1962) 343-365, S. 364.

[59] Etwa ein halbes Dutzend mal zitiert, so in ciu. 14,3: «et tunc enim erit, sed quia corruptibile non erit, non gravabit. ‹adgravat› ergo nunc ‹animam corpus corruptibile, et deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem› [Sap 9,15]. verum tamen quia omnia mala animae ex corpore putant accidisse, in errore sunt».

[60] Op. cit., S. 251f.

[61] S. 293,8 «massa ab illo (sc. deo) per Adam alienata», cf. C. Mayer, Alienatio: AL 1 (1986-1994) 228-233, S. 230.

[62] Sol. 1,6: «fac et me, pater, vindica me ab errore; quaerenti te mihi nihil aliud pro te occurrat. si nihil aliud desidero quam te, inueniam te iam, quaeso, pater. si autem est in me superflui alicuius adpetitio, tu ipse me munda et fac idoneum ad videndum te. ceterum de salute huius mortalis corporis mei, quamdiu nescio, quid mihi ex eo utile sit vel eis, quos diligo, tibi illud conmitto, pater sapientissime atque optime, et pro eo, quod ad tempus admonueris, deprecabor. tantum oro excellentissimam clementiam tuam, ut me penitus ad te convertas nihilque mihi repugnare facias tendenti ad te iubeasque me, dum hoc ipsum corpus ago atque porto, purum, magnanimum, iustum prudentemque esse perfectumque amatorem perceptoremque sapientiae tuae et dignum habitatione atque habitatorem beatissimi regni tui. amen, amen».