Für das Internationale Symposion im Erbacher Hof, der Akademie des Bistums Mainz, vom 18.-20. Januar 2008 mit dem Thema: "Augustinus - ein Lehrer des Abendlandes. Spuren und Spiegelungen seines Denkens von der Frühscholastik bis in die Gegenwart" sollten sich die vorgesehenen Referate im Unterschied zu deren Veröffentlichung zeitlich auf 30 Minuten beschränken. Wir bieten auf der Homepage des ZAF den Text des von Cornelius Mayer gehaltenen Referates. Die umfangreichere Fassung erschien 2009 mit den übrigen 28 Referaten in der von Norbert Fischer besorgten Publikation im Felix Meiner Verlag (Augustinus – Spuren und Spiegelungen seines Denkens, 2 Bände, hrsg. von Norbert Fischer, Hamburg: Felix Meiner, 2009, 283+358 p., ISBN 978-3-7873-1929-9, EUR 96,00).

Augustinus im Denken von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI.
Von Professor Dr. Cornelius Petrus Mayer OSA

In den Erinnerungen aus seinem Leben [1] kommt Joseph Kardinal Ratzinger bei den Schilderungen seines Studiums der Theologie des öfteren auf Augustinus zu sprechen. Bereits im Seminar zu Freising las er dessen Confessiones, in denen ihm die ganze Leidenschaft und Tiefe des augustinischen Denkens begegnete. Dagegen hatte er Schwierigkeiten mit Thomas von Aquin, «dessen kristallene Logik» ihm als zu unpersönlich erschien.[2]

In seinen Studienjahren in München prägte ihn am meisten der Fundamentaltheologe Gottlieb Söhngen, der die Theologie «von den Quellen selbst her» betrieb.[3] Im Jahr 1950 war Söhngen in der Fakultät an der Reihe, die Preisaufgabe zu stellen, die bei erfolgreicher Bearbeitung mit der Zuerkennung des Preises zugleich als Dissertation mit dem Prädikat summa cum laude angenommen wurde. Das von Söhngen gestellte Thema lautete: Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche.[4] Ratzinger fühlte sich in die Pflicht genommen, zumal Söhngen selbst ihn zur Bearbeitung überredete. An ihn fördernden Begegnungen erwähnt Ratzinger noch die Lektüre von Henri de Lubacs Catholicisme, die ihm «ein neues Verstehen der Einheit von Kirche und Eucharistie» eröffnete. So «konnte ich in das geforderte Gespräch mit Augustinus eintreten, das ich auf vielerlei Weise schon seit langem versucht hatte».[5]

Die Berufung zur Dozententätigkeit in das Freisinger Priesterseminar im Jahr 1952 führte ihn zur Habilitation über den Offenbarungsbegriff bei Bonaventura, einem Theologen des Mittelalters, dem Augustinus alles andere als fremd war.[6] Ratzinger bezeichnet zwar seine Habilitation als Drama, aber die Arbeit über Bonaventura dürfte seine Beziehung zum Kirchenvater nochmals vertieft haben. Mit der Ernennung zum Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik in Freising zum 1. Januar 1958 begann seine aufsehenerregende Karriere an deutschen Universitäten.

Noch im Sommer 1958 erreichte ihn der Ruf nach Bonn, wo Kardinal Frings auf ihn aufmerksam wurde. Inzwischen hatte nämlich Johannes XXIII. das Konzil angekündigt, und Frings, der in der Katholischen Akademie in Bensberg einen Vortrag über die Theologie des Konzils von Ratzinger angehört hatte, nahm diesen als seinen Berater mit nach Rom, wo er noch vor dem Ende der ersten Sitzungsperiode zum Konzilstheologen (Peritus) ernannt wurde. Schon im Hinblick auf das abgebrochene I. Vatikanische Konzil bestand allgemeine Übereinstimmung darüber, dass die Kirche das eigentliche Thema der Versammlung sein werde. Der ‹Peritus› Ratzinger war nicht zuletzt dank seiner Promotionsarbeit aufs Beste darauf vorbereitet. Auf sie müssen wir in gebotener Kürze eingehen.

«Es gehört schon einiger Mut dazu, ein in der Vergangenheit so viel erörtertes Thema, wie es der Kirchenbegriff des heiligen Augustinus nun einmal ist, erneut aufzugreifen und über bloße Wiederholungen hinaus neue Gesichtspunkte und Ergebnisse anzustreben. J. Ratzinger unternimmt das Wagnis, indem er vom Haus- und Volk-Gottes-Begriff ausgeht und von hier in das Herz des augustinischen Kirchenverständnisses vorstößt». Mit diesen Sätzen begann Fritz Hofmann seine 1958 in der Theologischen Revue erschienene Rezension.[7]

Was Hofmann an Ratzinger rühmt, ist die Einbeziehung des 391 durch die Übernahme des kirchlichen Amtes bedingten Paradigmenwechsels in der Ekklesiologie Augustins, in der nicht mehr die durch Bildung erworbene Innerlichkeit, sondern die durch die Kirche verkündeten Haltungen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe die konstitutiven Elemente der Gottesverehrung bildeten.

Zugleich zeigt Ratzinger, dass ekklesiologische Reflexionen schon in der voraugustinisch-afrikanischen Theologie – bei Tertullian, bei Cyprian und bei Optatus von Mileve – einen breiten Raum einnahmen.[8] Darauf konnte Augustin seine eigene Ekklesiologie aufbauen. Er tat dies sozusagen in einer doppelten Frontstellung: in der Kontroverse mit den schismatischen Donatisten [9] und in der Auseinandersetzung mit den das Christentum bekämpfenden Heiden.[10]

Bei der Kontroverse mit den Donatisten ging es Augustinus um den Nachweis der von diesen Schismatikern bestrittenen Integrität der katholischen Kirche. Seine Kernthese lautete: Die wahre Kirche ist die katholische, weil sie die Kirche nicht nur der Bewohner Afrikas, sondern aller Völker ist.[11] Hinzukommt als weiterer wichtiger ekklesiologischer Aspekt die Rolle und die Bedeutung der Caritas. ‹Caritas› meint bei Augustin gewiss auch ein sittliches, vorzüglich jedoch ein innerkirchliches Verhalten. Die Caritas ist – dies hält der Bischof den Donatisten wiederholt vor –, «was die nicht haben, die von der katholischen Kirche getrennt sind».[12] Die Inhaber der Caritas allein sind die wahre Kirche, ‹Christi Leib›, durch den die Sündenvergebung erteilt wird, und in denen sich die Eucharistie darstellt. Als die Glieder des Leibes sind sie zusammen mit dem Haupt zugleich jene Kirche, außerhalb derer es kein Heil gibt.[13]

«Die Catholica», so fasst Ratzinger Augustins Kontroverse mit den Donatisten zusammen, «ist die Weltkirche, die durch die Gemeinschaft des Herrenleibes sich als die eine erweist. Die Vielzahl der Völker in ihr ist geeint in Christus und auf diese Weise das eine Volk Gottes».[14]

Weil dieses eine Volk Gottes in einer Vielzahl von Staaten lebt, musste Augustinus seine Ekklesiologie auch im Hinblick auf das Verhältnis der Kirche zum Staat, in dem das Volk Gottes in der Zeit existiert, präzisieren. Ratzinger bezog also auch Augustins ‹civitas›-Lehre in seine Untersuchung mit ein, indem er den irdischen Staat und die Kirche von ihrem je eigenen Kult her in den Blick nahm. Im Kult, so führt er aus, manifestiere sich das Wesen beider. Denn «jede ciuitas», so schreibt er, «ist Kultstaat ihrer Götter, und jedes Volk ist Kultvolk seiner Gottheiten».[15]

Weil sich der religiöse Kult vorzüglich im Opfer artikuliert, lehrt Augustin in Bezug auf das Opfer der Kirche: «Ein wahres Opfer ist ... jedes Werk, das dazu beiträgt, dass wir in heiliger Gemeinschaft Gott anhangen».[16] ‹Wahres Opfer› nennt er im Anschluss an Röm 12,1 einen ‹vernünftigen Gottesdienst›, ein ‹rationale obsequium›.[17] Was die Kirche als ‹ciuitas dei› kennzeichnet und zugleich auszeichnet, ist dieser ihr ‹vernünftiger Gottesdienst›, den sie als ‹Leib Christi› zusammen mit ihrem Haupt, dem ‹verherrlichten Christus› in der Eucharistie feiert.

Auf den Opfercharakter der Eucharistie wird denkbar großer Wert gelegt, vollbrachte doch Christus in seiner Knechtsgestalt das Werk der Erlösung als Opfer. Er brachte sich dar und er wurde zugleich dargebracht. Als ‹Mittler zwischen Gott und den Menschen› war er opfernder Priester und Opfer zugleich. «Das ist das Opfer der Christen», resümiert Augustin, «‹die Vielen ein Leib in Christus›. Die Kirche aber feiert es in dem den Gläubigen bekannten Sakrament des Altars, wo ihr vor Augen gestellt wird, dass sie in dem, was sie darbringt, selbst dargebracht wird».[18]

In diese seine kirchenbegründenden Reflexionen zieht Augustin auch den Opferkult des alttestamentlichen Gottesvolkes mit ein. Dessen Kulthandlungen beinhalten ebenfalls nicht das ‹wahre Opfer›: sie verweisen lediglich darauf, wie das zeitlich vorausgehende Alte Testament, in dem das Heil noch verborgen ist, innerhalb der gestuften Offenbarung auf das spätere Neue, in dem es bereits als Ereingis verkündet wird, vorausverweist. Folgerichtig gehört auch der alttestamentliche Staat Israel als solcher dem Erdenstaat, der ‹ciuitas terrena›, an.[19]

In seiner Zusammenfassung hält Ratzinger in bezug auf den Terminus ‹Haus Gottes› fest, theologisch belangvoll sei für Augustin nicht der Raum, sondern «die im Raum versammelte Gemeinde». Deshalb führe auch die Betrachtung des Gotteshauses «sofort zu einer Theologie des lebendigen Volkes Gottes, der ecclesia sive congregatio, die sich in diesem Haus andeutet».[20] Äußerlich stellt die Kirche sich demnach im Sakrament des Herrenleibes dar, der ihre innere Wirklichkeit, ihr Bestehen in der Gemeinschaft des Christusgeistes bezeugt.

Joseph Ratzinger war bereits 15 Jahre Kardinal, als der EOS-Verlag der Erzabtei St. Ottilien seine Dissertation mit der Bemerkung des Herausgebers [21] nachdruckte, wer Ratzingers Theologie kennen lernen wolle, müsse dessen grundlegendes Werk, nämlich seine Dissertation lesen. Zweifelsohne zählt Ratzinger mit zu den produktiveren theologischen Schriftstellern unserer Zeit. Aus der Fülle seiner Schriften sei für unser Thema der 1968 in der Theologischen Quartalschrift erschienene Artikel Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theologie [22] herangezogen.

Ratzinger wirft darin die Fragen auf: «Warum die Väter? Genügt nicht die Schrift?» Er beantwortet sie zunächst mit dem Hinweis auf ein falsch verstandenes ‹Aggiornamento› von Papst Johannes XXIII., die Kirche solle der Gegenwart mehr Rechnung tragen, und er illustriert diese seine Kritik an mehreren Strömungen der nachkonziliaren Theologie, allem voran an der Bibelexegese. Während die Konzilien von Trient bis zum Vaticanum II in Bezug auf das Auslegen und Verstehen biblischer Texte an einem von den Vätern als normativ gehaltenen ‹sensus ecclesiae›, einem Schrift und Tradition umfassenden ‹Sinn der Kirche›, festhielten, scheinen moderne Exegeten kein anderes Gesetz der Auslegung akzeptieren zu wollen als das der historischen Kritik. Die Frage nach der Aktualität der Väter, so Ratzinger, habe die heutige Theologie vor eine Zerreißprobe gestellt.[23]

Aber selbst wenn die Väter für die Exegese sekundär wären, so seien sie doch dank ihrer zeitlichen Nähe zum maßgebenden Ursprung der in den neutestamentlichen Schriften verkündeten Heilsereignisse primär qualifizierte Zeugen der Überlieferung. Um diese Spannungseinheit der Vätertheologie mit der neutestamentlichen Verkündigung zu veranschaulichen, vergleicht Ratzinger die Hl. Schrift mit dem ‹Wort› und die Theologie der Väter mit deren Antwort auf dieses Wort. «Das Wort bleibt das Erste, die Antwort das Zweite».[24] Diese Reihenfolge sei nicht umkehrbar, sie lasse aber auch keine Trennung zu. Ja dies sei überhaupt das entscheidende Verdienst der Vätertheologie, dass das ‹Wort› Antwort gefunden habe und zusammen mit der Antwort auf diese Weise Tradition geworden ist.

Die Bedeutung der Väter für die christliche Theologie aller Zeiten zeigt Ratzinger sodann an vier geschichtlichen Konkretisierungen, an denen Augustin federführend mitwirkte. Er nennt als erstes die Kanonbildung. Was ist Hl. Schrift, und welche Schriften gehören dazu nicht? Die Konstituierung des Kanons und die Konstituierung der frühen Kirche waren ein und derselbe Prozess, der «einen Vorgang geistiger Scheidung und Entscheidung» [25] zur Voraussetzung gehabt hat. Der Prozess der Kanonbildung, dies bleibe nicht unerwähnt, wurde unter dem Einfluss Augustins auf dem afrikanischen Plenarkonzil zu Hippo (393) und dem Konzil von Karthago (419) definitiv zum Abschluss gebracht.[26]

Um Unrichtigkeiten in der Schriftauslegung wirksam begegnen zu können, schufen die Väter eine Auslegungsnorm, die sie κανὼν τῆς πίστεως, ‹regula fidei›, ‹Glaubensregel›, nannten. Auf sie berief sich schon die junge Kirche, wenn Entscheidungen auf den Konzilien über Glaubenswahrheiten zu treffen waren. Die sogenannten Symbola, die Glaubensbekenntnisse der Kirche, etwa das Apostolicum, sind solche normative Texte, die die Glaubensregeln zur Voraussetzung haben. Augustinus berichtet in seinen Retractationes,[27] dass er auf dem erwähnten Konzil zu Hippo, obgleich er damals noch Presbyter war, auf Drängen der anwesenden Bischöfe einen Vortrag über die wesentlichen Inhalte des Glaubens zur Abgrenzung von Häresien zu halten hatte, was übrigens sein Ansehen im Episkopat erheblich gefördert haben dürfte, und dass die gleichen Bischöfe ihn zu dessen Veröffentlichung drängten, was er auch tat. Er gab ihr den signifikanten Titel De fide et symbolo – Glaube und Bekenntnis.[28]

«Schriftlesung und Glaubensbekenntnis sind in der Alten Kirche primär gottesdienstliche Akte der ganzen, um den auferstandenen Herrn versammelten Gemeinde gewesen. Das führt auf ein drittes», schreibt Ratzinger, und er stellt fest: «Die alte Kirche hat die Grundformen des christlichen Gottesdienstes geschaffen, die als bleibende Basis und der unumgängliche Beziehungspunkt jeder liturgischen Erneuerung anzusehen sind».[29] Es dürfte m. E. einem theologisch interessierten Christen nicht schwer fallen, sich vorzustellen, dass der hochgebildete und sicher auch ästhetisch versierte ehemalige Rhetor Augustinus attraktive Gottesdienste feierte. Zahlreiche Tagesgebete unserer Sonntagsmessen artikulieren in ihrer knappen Diktion immer noch die auf die Väter, speziell auf Augustin zurückgehenden Anliegen der Kirche. Es sei mir gestattet, auch auf die Eucharistielehre des Kirchenvaters Augustinus hinzuweisen. In ihr spiegelt sich, wie schon dargelegt, brennpunktartig seine Lehre von der Kirche als ‹Leib Christi›. In einer Osternachtpredigt rief er den Neugetauften in Bezug auf die eucharistischen Gaben von Brot und Wein zu: «Seid, was ihr seht, und empfanget, was ihr seid!»[30] Gibt es ekklesiologisch Tiefsinnigeres?

Als vierte der den christlichen Glauben konkretisierenden Bedeutungen der Vätertheologie führt Ratzinger deren Sorge um die rationale Durchdringung der offenbarten Glaubenswahrheiten an. Die Kirchenväter waren insgesamt auch philosophisch gebildete Persönlichkeiten – allen voran wieder Augustinus. Ihm lag nichts ferner als das vom Häretiker Tertullian formulierte Bekenntnis: «Credo quia absurdum – Ich glaube, weil es widersinnig ist».[31] Der das theologische Denken und Bemühen charakterisierende Leitsatz des Bischofs von Hippo lautete vielmehr: «Credo ut intellegam – Ich glaube, um zu verstehen». Eine weitest mögliche rationale Begründung der Glaubenswahrheiten – dies zu betonen, wird Ratzinger bekanntlich auch als Benedikt XVI. nicht müde – sei «die Voraussetzung für das Überleben des Christentums in der antiken Welt» gewesen und dies sei auch «die Voraussetzung für das Überleben des Christentums heute und morgen».[32]

Lassen Sie mich nochmals auf die erwähnte Neuauflage der Dissertation Ratzingers zurückkommen. Die zitierte Bemerkung, wer ihn kennen lernen wolle, müsse seine Dissertation lesen, hat ihren plausiblen Grund m. E. auch darin, dass die Laufbahn eines Wissenschaftlers in der Regel mit der Dissertation beginnt. Sie gleicht der ersten Liebe und prägt ein Gelehrtenleben aufs Nachhaltigste. Ratzinger selbst hat dies nunmehr aus der Perspektive seiner Einsichten und Erfahrungen, die er als Konzilstheologe, als Bischof und als Präfekt der Glaubenskongregation machen konnte, in seinem Vorwort zu der Neuauflage verdeutlicht und unterstrichen.

Eingehend schildert er darin die Erwartung seines Lehrers Söhngen, die dieser an das gestellte Thema knüpfte. In der Theologie der Zwischenkriegszeit setzte sich nämlich in einer gewissen Abwehr der vorzüglich hierarchisch in Erscheinung tretenden Kirche die Auffassung durch, die angemessene Bezeichnung für diese sei die des Volkes Gottes.[33] Das Promotionsthema sollte also zeigen, ob diese Bezeichnung beim größten abendländischen Kirchenlehrer tatsächlich ein ekklesiologischer Leitbegriff war. «Ich ging mit dieser Frage an die Texte heran», schreibt Ratzinger, «aber zugleich in der unbedingten Bereitschaft, mich von ihnen allein führen zu lassen».[34]

Das Ergebnis war für ihn selbst überraschend. Es zeigte sich nämlich, «dass Augustinus und mit ihm die Väter generell auf der Linie des Neuen Testamentes blieben. Nach Ratzinger setzt diese Ekklesiologie des Neuen Testamentes eine geistliche Lektüre des Alten Testamentes auf Christus und die Kirche hin voraus. Rückblickend fasst er zusammen: «Kirche ist Volk Gottes nur im und durch den Leib Christi. Ein Gebrauch des Begriffs Volk Gottes für Kirche ist vom Neuen Testament und von den Vätern her ohne christologische und pneumatologische Transposition nicht möglich; die Christologie gehört in den Kirchenbegriff unverzichtbar hinein».[35] Einige Zeilen weiter heißt es: «... im Grundlegenden kam es ihm (Augustin) nicht darauf an, Neues in die Welt zu setzen, sondern das zu verstehen und verständlich zu machen, was die Catholica glaubte und lehrte. Für ihn (Augustinus) ist gerade dies das Kennzeichnende des wahren Theologen, dass er nicht eigenes und anderes schafft, sondern im Dienst des gemeinsamen Glaubens steht, der ihm als regula fidei Maß und Gestalt seines Denkens wird, das so, von der gemeinsamen Wahrheit geführt, fruchtbar werden und Beständiges hervorbringen kann».[36]

Diese Zusammenfassung wirft ein helles Licht nicht nur auf die von Ratzinger gerühmte, auf das Konservative, auf das Bewahren bedachte Geisteshaltung Augustins, sondern auch auf ihn selbst, der sich in diesem Lichte sieht, und sich deshalb auch mit seiner Kritik unter Berufung auf den Kirchenvater sowohl an gewissen Strömungen der Zwischenkriegsekklesiologie wie auch an der postkonziliaren Theologie nicht zurückhält. Er kritisiert z.B. die in der neuzeitlichen Exegese vernachlässigte, bei den Vätern jedoch hochgeschätzte Allegorese, die ihm den Schlüssel zur Ekklesiologie Augustins geliefert hatte, mit der er seine eigene rechtfertigt.

An der nachkonziliaren Theologie der späten sechziger Jahre beklagte er des öfteren die rein soziologische Betrachtung der Kirche und die daraus resultierende politische Theologie. Abermals verwies und berief er sich in diesem Zusammenhang auf Augustinus.[37] Gerade als der Verfasser von De ciuitate dei habe dieser die Gefahren einer Entwicklung der Theologie auf das Politische hin, wie diese sich im Heidentum darstellte, in der die Götter de facto im Dienste des Staates standen und der Glaube der Politik untergeordnet war, erkannt. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf den politischen Augustinismus im Mittelalter, der als eine Fehlinterpretation des wahren Augustinismus, der Kirche Prärogative einräumte und zuerkannte, die ihr als eschatologische ‹ciuitas› vom Evangelium her nicht zukommen.

Ratzinger beschließt seine Kritik mit den bedenkenswerten Sätzen: «Liest man aber gründlich die Werke des Heiligen, dann leuchtet die Größe seiner Gestalt wieder neu auf. Und ich denke, dass eine politische Philosophie und eine wahre Ekklesiologie, ein Glaube an den einen Gott, der der Gott aller ist, die Suche nach einer wahren Universalität des Glaubens, der sich in allen Kulturen ausdrückt und sich nie mit einer einzigen von ihnen identifizieren darf, auch heute noch viel aus dem Dialog mit dem heiligen Augustinus lernen können».[38]

Joseph Ratzinger hat sich Augustinus seit seiner Studienzeit nicht nur auf der Ebene der Theologie als Wissenschaft angenähert, in seiner Spiritualität ist er im Grunde genommen ebenfalls weithin dem Kirchenvater verpflichtet – er weiß dies und er bekannte sich in seinen Memoiren gleich mehrfach dazu. Für sein bischöfliches Wappen wählte er das Symbol einer Muschel u.a. deshalb, weil sie ihn an eine Legende erinnerte. Diese erzählt, dass der über das Geheimnis der Trinität am Strande von Hippo meditierende Augustinus ein Kind sah, das mit einer Muschel das Wasser des Meeres in eine kleine Grube schöpfte. Auf seine Erkundigung hin, was es denn da mache, erhielt er die Antwort: So wenig diese Grube die Wasser des Meeres fassen kann, so wenig vermag dein Verstand Gottes Wesen zu begreifen. Wörtlich heißt es dann: «So ist die Muschel Hinweis für mich auf meinen großen Meister Augustinus, Hinweis auf meine theologische Arbeit und Hinweis auf die Größe des Geheimnisses, das weiter reicht als all unsere Wissenschaft».[39]

Nicht weniger enthusiastisch äußerte sich Kardinal Ratzinger bei der Vorstellung eines 1998 in Rom erschienenen Sammelbandes Die Macht und die Gnade. Die Aktualität des heiligen Augustinus bei der von Giulio Andreotti herausgegebenen Zeitschrift 30Tage in Kirche und Welt.[40] Andreotti begrüßte den Gast mit den Worten: «Ich glaube jedenfalls, dass es uns allen gut tut, wenn wir uns eine Weile mit Augustinus befassen. Eminenz, ich spreche Ihnen noch einmal aus ganzem Herzen meinen Dank aus, dass Sie sich bereit erklärt haben, diese unsere Veröffentlichung vorzustellen».

Der Kardinal leitete seine glänzende Rede mit der Entschuldigung ein, er sei wegen seiner zahlreichen Verpflichtungen «für eine wirkliche Buchvorstellung nicht genügend vorbereitet». Dann aber fuhr er begeistert und begeisternd so fort: «Trotzdem wollte ich die Einladung annehmen, weil ich den heiligen Augustinus sehr verehre und bewundere. Zudem freue ich mich sehr, dass ein Nachrichtenmagazin wie 30Tage einem großen Publikum diese Gestalt in einem Dialog mit unserer Zeit monatelang vorgestellt hat. Dieser Dialog macht die Tiefe und Aktualität seines Denkens deutlich, und die Tatsache, dass der heilige Augustinus in der heutigen Zeit unseren Fragen unterzogen wird, ist für mich ein Grund zur Freude. ... Als ich vor fünfzig Jahren begann, mich mit Augustinus zu befassen, erkannte ich ihn praktisch sofort als meinen Zeitgenossen, als eine Persönlichkeit, die nicht von einem Kontext sprach, der sich von dem unseren völlig unterscheidet, sondern, da sie in einem recht ähnlichen Kontext lebte, auf die Probleme, die auch unsere Probleme sind, wenn auch auf ihre Weise, eine Antwort gab».[41]

Weil unsere Probleme, was unser Verhältnis zum Evangelium betrifft, immer noch dieselben sind, deshalb hört Joseph Ratzinger auch als Benedikt XVI. nicht auf, in seinem eigenen Denken uns das Denken Augustins zu empfehlen. In den schon erwähnten Retractationes berichtet der Kirchenvater, etwa um das Jahr 421 habe ein Laie Namens Laurentius ihn um ein Handbuch gebeten, in dem das Wesentliche der Gottesverehrung und der wahren Weisheit dargestellt sei. «Das Buch beginnt: ‹Mein lieber Sohn Laurentius! Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich über deine Gelehrsamkeit freue›». Augustinus gab diesem Handbuch den Titel: De fide, spe et caritate – Glaube, Hoffnung und Liebe.[42] Es dürfte ein pastorales Anliegen von augustinischem Rang sein, wenn Benedikt XVI. in seinen bisher erschienenen beiden Enzykliken uns das Wesen des Christentums über die Liebe und über die Hoffnung zu erschließen versucht. Insider vermuten, die nächste Enzyklika werde den Glauben zum Thema haben.

Anmerkungen

[1] Joseph Kardinal Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen, München 1997.

[2] Ebd. 49.

[3] Ebd. 61.

[4] München 1954.

[5] Ebd. 69.

[6] Titel der Habilitation: Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1959 (Neuauflage: St. Ottilien 1992).

[7] Theologische Revue 54 (1958) 122-125.

[8] Volk und Haus Gottes, 48-123.

[9] Ebd. 127-184.

[10] Ebd. 185-322.

[11] Ebd. 131.

[12] De baptismo 3,21.

[13] Volk und Haus Gottes, 144f.

[14] Ebd. 183.

[15] Ebd. 281.

[16] De ciuitate dei 10,6.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] De ciuitate dei 17,16: «Cuius ciuitatis impiae portio sunt et Israelitae».

[20] Volk und Haus Gottes, 322.

[21] Besorgt von P. Dr. Bernhard Sirch OSB.

[22] 148 (1968) 257-282.

[23] Ebd. 258-262.

[24] Ebd. 275.

[25] Ebd. 277.

[26] Siehe den Artikel Kanon von H. Haag im Bibel-Lexikon, 1. Auflage, Einsiedeln/Zürich/Köln 1968, 921.

[27] 1,17.

[28] Siehe den gleichnamigen Artikel von A. Schindler im Augustinus-Lexikon, Bd. 2 (1996-2002) 1311-1317.

[29] Die Bedeutung der Väter, 279.

[30] Sermo 272: «Estote quod uidetis, et accipite quod estis».

[31] Vgl. De carne Christi 5,4.

[32] Die Bedeutung der Väter, 281.

[33] Die treibende Kraft dieser kirchenkritischen Theologen war Mannes Dominikus Koster, Verfasser des Buches: Ekklesiologie im Werden, Paderborn 1940.

[34] Vorwort zur Neuauflage, XIII.

[35] Ebd. XIV.

[36] Ebd. S. XIV-XVI.

[37] Aufschlussreich: Il potere e la grazia: attualità di Sant’Agostino a cura di Lorenzo Cappelletti e Maria Pia Comunale, Roma 1998. Dazu 30 Giorni nella Chiesa e nel mondo – 30 Tage in Kirche und Welt 16 (1998), dort der Bericht: Die Vorstellung des Buches von 30 Tage über die Aktualität des heiligen Augustinus mit Kardinal Joseph Ratzinger auf Seite 26-38.

[38] Ebd. 31.

[39] Aus meinem Leben, 179.

[40] Siehe Anm. 37.

[41] Ebd. 29.

[42] Retractationes 2,63.