ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Predigten aus neuerer Zeit, die sich augustinischer Gedanken bedienen.

Das Zentrum für Augustinus-Forschung in Würzburg verfolgt und registriert die Aktualität Augustins in möglichst allen einschlägigen Sparten der Wissenschaften unserer Zeit. Am Gespräch mit dem Kirchenvater aus dem 4. und 5. Jahrhundert sind nicht nur Theologen und Philosophen, Historiker und Soziologen, Psychologen und Linguisten – um nur einige Zweige der Wissenschaften zu nennen – interessiert, sondern sogar die Naturwissenschaften. Es versteht sich von selbst, dass Augustinus der kirchlichen Pastoral ebenfalls immer noch nachhaltige Impulse zu geben vermag.

Der ehemalige Professor der Rhetorik war ein hinreißender Prediger. Sogar aus Übersee strömten Gläubige herbei, um ihn zu hören. In der Verkündigung ging es ihm so gut wie ausschließlich um die Inhalte der christlichen Offenbarung. Er wusste nur zu gut, dass er die Fundamente des Glaubens den breiten Schichten des Kirchenvolkes vorzüglich in den Predigten seiner Gottesdienste vermitteln konnte. Dabei klammerte er aktuelle Probleme der Gesellschaft nicht aus. Christen sollten z.B. wissen, was sie bei Katastrophen auf Fragen nach ihrem Gott der Liebe zu antworten haben, reicht ihnen doch die Bibel ein ganzes Arsenal von Argumentationsmustern dazu.

OSTERMONTAG 28.3.2005

AUGUSTINERKIRCHE WÜRZBURG

Cornelius Petrus Mayer OSA

Vorspann

Ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser Eucharistiefeier am Ostermontag, bei der ich als Zelebrant zugleich meiner Priesterweihe vor 50 Jahren gedenke. Ich werde darauf am Ende des Gottesdienstes zurückkommen.

In den Evangelien gibt es Texte, die auf unsere christlich-abendländische Gesellschaft über die Kultur hinaus selbst folkloristisch einwirkten. Zu ihnen gehört die jeweils am Ostermontag verkündete Perikope über den Gang zweier Jünger Jesu nach Emmaus.

«Sie erreichten das Dorf, zu dem sie unterwegs waren», so erzählt der Evangelist. «Jesus tat, als wolle er weitergehen, aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt».

Wer denkt beim Hören dieser Sätze außer an den üblichen Osterspaziergang nicht auch an den Kanon zu drei Stimmen: «Herr bleibe bei uns, ...» ? Und welcher an Alter bereits Fortgeschrittene denkt dabei nicht an jenen Abend, den das Leben herbeiführt?

«Da ging» Jesus, so fährt die Emmauserzählung vielsagend weiter «mit hinein, um bei ihnen zu bleiben». Und wieder dürfen wir dieses ‹Bleiben› umfassender verstehen als jene Zwei; denn Jesus bleibt deshalb bei uns, weil er als der Gekreuzigte zugleich auch der Verherrlichte ist.

An ihn wenden wir uns im Kyrie.

 

Predigt

Wenn Sie sowohl die Lesung wie auch das Evangelium aufmerksam verfolgt haben, kann Ihnen der Unterschied bezüglich der literarischen Gattung beider Texte nicht entgangen sein.

Haben Sie bitte keine Angst, ich will meine Predigt nicht in eine akademische Vorlesung umfunktionieren, aber ich denke, es ist für das Verstehen unseres Glaubens hilfreich zu wissen, dass es im Neuen Testament zwei Arten der österlichen Verkündigung gibt: Bekenntnisformeln und Erzählungen.

Bekenntnisformeln sind in der Regel kurze Texte, die den Inhalt des Glaubens präzise wiedergeben. Eine solche haben wir in unserer Lesung vernommen: Sie lautete: «Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift». Dieses Bekenntnis, so schärft der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther allen Christen ein, ist das Fundament des Glaubens der Kirche.

Daneben gibt es im Neuen Testament die Ostererzählungen: Ihnen kommt die Aufgabe zu, den Glauben der Kirche an ihren auferstandenen und verherrlichten Herrn zu veranschaulichen.

Die literarisch wie kompositorisch schönste Ostererzählung, die soeben vernommene Perikope, stammt aus der Feder des Evangelisten Lukas. Schriftstellerisch überragt er die anderen drei. In seinem Evangelium finden wir auch von gleicher inhaltlicher Dichte und sprachlichem Glanz das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und die Parabel vom verlorenen Sohn, die einige Ausleger des Neuen Testamentes schlicht für das Evangelium in den Evangelien halten.

Wenden wir uns nun unserer Ostererzählung zu. Ist sie nicht eindrucks- und reizvoll? Es macht Freude, sie zu lesen, sie zu erzählen. Es geht darin nicht um detaillierte historische Daten, um nähere Informationen über die Zwei. Der Erzähler verfolgt andere Ziele; er hat bereits die nachösterlichen Gemeinden – somit auch uns – im Visier.

Also, der Reihe nach: Zwei Jünger Jesu verlassen Jerusalem. Sie kehren aus Enttäuschung diesem Ort den Rücken, denn Jesus, «ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk», an den sie offensichtlich gesellschaftspolitisch motivierte irdische Messiaserwartungen geknüpft hatten, scheiterte. Die Machthaber «haben ihn ... ans Kreuz schlagen lassen». Zwar ging da die Rede von seinem leeren Grab und im Zusammenhang damit die Kunde, dass er lebe, aber gesehen habe man ihn nicht. Dies alles berichten die Zwei der Erzählung zufolge Jesus, der unerkannt sich ihrem Weg nach Emmaus anschloss.

Nun aber ist wichtig zu sehen, wie Jesus darauf reagiert. Er sagt nicht zu den beiden: Seht her, ich bin es: der Messias! Nein, er verweist auf ‹Mose› und auf die ‹Propheten› und auf die ganze ‹Schrift›. Ist darin nicht von einem geheimnisvollen ‹Gottesknecht› die Rede, dessen Geschick mit geradezu hellseherischer Präzision auf Jesu Leiden festgeschrieben zu sein scheint? Deshalb seine gezielte Frage: «Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?» Und fällt von diesen festgeschriebenen Ereignissen am Karfreitag nicht sogleich auch helles Licht auf die österlichen Ereignisse? Kann Gott den im Stich gelassen haben, von dem geschrieben steht: «... der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab » (Jes 53,5).

Indes, die Emmauserzählung erreicht mit diesem aufschlussreichen katechetischen Unterricht Jesu, die Bibel auf die Leidens- und Auferstehungsgeschichte des Messias hin zu lesen, noch nicht ihren Höhepunkt. Die Bibelerschließung allein bewirkte nicht, dass die beiden Jesus erkannten.

Am Ziel ihres Weges angekommen, bitten sie ihren Begleiter, mit ihnen einzukehren und zu bleiben. «Da» erst «gingen ihnen die Augen auf». Denn, «als er mit ihnen bei Tisch war», so führt der Erzähler die Erzählung ihrem Höhepunkt zu, «nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen». – Wer erkennt in diesen Worten nicht die bereits ritualisierten Sätze der im letzten Abendmahl Jesu verankerten eucharistischen Feiern der Kirche?

«Sie erkannten ihn», heißt es im Text, «dann sahen sie ihn nicht mehr». Es ging ihnen ein Licht auf: Welches Licht? Das Licht des Glaubens an die Identität des gekreuzigten mit dem verherrlichten Christus bei der Feier des Mysteriums der Eucharistie.

Zweifelsohne unterstreicht der Evangelist mit dieser seiner Emmauserzählung, was er den Christen aller Zeiten sagen will: Die an Christi Erlösungswerk Glaubenden bedürfen keiner besonderen Erscheinung ihres Herrn mehr. Die Erfahrung einer Begegnung mit ihm bietet ihnen vorzüglich die Feier der Eucharistie. Das soll genügen!

Diesen Gedanken von der Begegnung mit dem verherrlichten Christus bei der Feier der Eucharistie hat der hl. Augustinus in einer Osterpredigt aufgegriffen und in seiner Weise vertieft: «Ihr Lieben», so sagte er, «ihr sollt euch gleichwohl daran erinnern, auf welche Weise der Herr Jesus von denen am Brechen des Brotes erkannt werden wollte, deren Augen so gebunden waren, dass sie ihn nicht erkannten. Die Gläubigen wissen, wovon ich rede. Sie (die Jünger von Emmaus) haben Christus am Brechen des Brotes erkannt. Nicht jedes Brot nämlich, sondern nur, welches Christi Segen empfängt, wird Christi Leib» (s. 234,2).

Der bevorzugte Ort der Verkündigung des Osterglaubens ist also die Gemeinde, genauer: die Eucharistie feiernde Gemeinde, die seit dem letzten Konzil ihren Osterglauben mitten im Kanon laut und feierlich so bekennt: «Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit».

«Noch in derselben Stunde», heißt es in unserer Perikope, «brachen sie (die Zwei) auf und kehrten nach Jerusalem», der Stätte des Heils, «zurück». Die dort versammelte Gemeinde kam ihnen jedoch mit dem Bekenntnis zuvor: «Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen». Petrus, der das Bekenntnis der Kirche formuliert, hat den Vorrang bei der Verkündigung des Osterglaubens. Aber Lukas fügt dem Evangelium hinzu: «Da erzählten auch sie (die Emmausjünger), was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach».

Welchen Schluss haben wir aus dieser Ostererzählung zu ziehen? Ich denke folgenden: Christen, sofern sie glauben, dürfen über den Kern der neutestamentlichen Verkündigung nicht schweigen.

Im gleichen Lukasevangelium steht zu lesen: Als Jesus in Jerusalem einzog und die Leute ihm zujubelten, baten ihn einige Pharisäer, er möge doch seine Jünger zum Schweigen bringen. Darauf antwortete Jesus: «Wenn sie schweigen, werden die Steine reden» (19,40).

Wie kann man als Christ über Ostern überhaupt schweigen? Die Kirche hält uns in ihrer Liturgie – und nicht nur in der Liturgie! – zu lautem Jubel an. «Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?», sagten die Emmausjünger zueinander.

Von welchem Brand ist da die Rede, fragt der hl. Augustinus in der gleichen, bereits erwähnten Predigt, wenn nicht von dem österlichen Brand der Liebe? Und von welcher Liebe, wenn nicht von jener zu dem für uns gekreuzigten und verherrlichten Herrn? «Dieser Brand reißt euch empor», sagt der fromme Bischof, er «trägt nach oben, erhebt zum Himmel.

Was immer ihr an Unannehmlichkeiten auf Erden erduldet, so sehr der Feind ein Christenherz auch nach unten drücken mag, das Feuer der Liebe weist nach oben. Nehmt ein Gleichnis. Wenn du eine brennende Fackel in den Händen hältst, hältst du sie aufrecht, das Flammenbündel steigt nach oben. Senkst du die Fackel, die Flamme strebt dennoch gegen den Himmel. ... Wohin immer sich Brennendes wendet, die Flamme kennt keinen anderen Weg ... . Glühend im Geiste lasst euch entflammen vom (österlichen) Feuer der Liebe. Setzt euch in Glut durch Gotteslob und ausgezeichnete Sitten. Der eine ist warm, der andere kalt. Der Warme entzünde den Kalten; und wer wenig brennt, wünsche sich Mehrung, erbitte sich Zehrung. Gott ist zum Schenken bereit» (s. 234,3). Amen

2. SONNTAG NACH WEIHNACHTEN A

MUTTERHAUS DER RITASCHWESTERN, 2.1.2005

P. Cornelius Petrus Mayer OSA

Vorspann:

Ich hoffe, Sie kamen alle gut vom alten in das neue Jahre herüber und ich wünsche Ihnen und mir, dass wir im Verlauf dieses Jahres in jene Weisheit wieder ein Stück weiter eindringen, von der in unserer heutigen Lesung aus dem Alten Testament die Rede ist.

Um welche Weisheit geht es da? Nicht um jene, die wir Menschen uns über das Wissen, das wir uns im schulischen oder außerschulischen Unterricht erworben haben, auch nicht um jene, die wir über unsere Erfahrungen im Laufe eines mehr oder weniger langen Lebens gewonnen haben.

Zweifelsohne sind auch Wissen und Erfahrungen Voraussetzungen menschlicher Weisheit, sprechen wir doch zu Recht von einer Lebensweisheit.

Die Weisheit, die in unserer heutigen Liturgie gepriesen wird, ist von ganz anderer Art. Sie ist, wie wir anhand der Texte hören werden, göttlich, letztlich ist sie die Person Jesu Christi unseres Herrn.

Predigt:

Ich gebe gerne zu, dass es Christen angesichts des immensen Leides, das durch die Katastrophe des Seebebens in Südostasien über die Menschheit hereingebrochen ist, schwer fällt, an eine göttliche Weisheit zu glauben, diese gar zu preisen, diese gar zu rühmen.

Dennoch belehrt uns die Bibel dahin, dass Menschen, die angesichts solcher Katastrophen es sich versagen, Gottes Weisheit zu preisen und zu rühmen, im strikten Sinn des Wortes keine Gläubige, keine Christen sind.

«Die Tage des Menschen sind wie Gras, wie die Blume des Feldes, so blüht er. Fährt der Wind über sie, dann ist sie dahin, und ihre Stätte weiß nichts mehr von ihr», so betet der Fromme im Psalm 103,15f. Und trotzdem ermuntert der gleiche Psalmist uns im letzten Vers seines Psalms – auch angesichts schrecklicher Heimsuchungen –, nicht in eine Jeremiade auszubrechen, sondern einzustimmen in den Lobpreis, zu dem er aufruft: «Rühmt den Herrn, all seine Werke, an jeglichem Ort seiner Herrschermacht! Preise, meine Seele, den Herrn!»

Gottes Lob und Preis – immer und überall trotz verheerender Schicksalsschläge –, das ist im Sinne der Bibel echte, lautere und kernige, weil unerschütterliche Gläubigkeit!

Als am 24. August des Jahres 410 die Westgoten unter Alarich die bis dahin als ewig und zu dauerhafter Herrschaft über die ganze Welt bestimmt geltende Stadt Rom eroberten, plünderten und verwüsteten, da brachten aufgeregte Römische Politiker diese Katastrophe eilig mit dem Wechsel der Religion vom Heidentum zum Christentum in einen ursächlichen Zusammenhang.

Augustinus schrieb daraufhin seine 22 Bücher Über den Gottesstaat. Darin geht es ihm nicht zuletzt um jene Glaubenshaltung, die sich gerade in Zeiten des Schreckens, der Angst und der Tragödie im Festhalten an dem offenbarten allmächtigen, die Geschicke der Welt lenkenden Gott manifestiert.

Gleich im ersten Buch dieses seines epochalen Werkes verweist der Kirchenvater auf den biblischen Hiob und dessen Geschick. Sie kennen die Geschichte, ich brauche sie nicht zu nachzuerzählen. Eine ganze Kette von Schreckensnachrichten – wir sprechen zu Recht von Hiobsbotschaften – bricht auf den Frommen herein.

Noch redete der eine, da kam schon der andere Bote des Unglücks. Aber am Ende – und dies ist der Kern und das eigentliche Ziel dieser Erzählung, die kein geringerer als Goethe für den Gipfel der Weltliteratur hielt – heißt es: «Da erhob sich Hiob, zerriss sein Gewand, schor sein Haupt, fiel zu Erde nieder, beugte sich anbetend und sprach: ‹Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter, und nackt kehre ich dorthin zurück. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!› Bei all dem», so fügt der Erzähler hinzu, «hat Hiob nicht gesündigt und gegen Gott nichts Törichtes geäußert».

In der weiteren Erzählung dieses Buches treten Freunde Hiobs auf, die versuchen, die Ursachen für dieses namenlose Leid des davon Betroffenen zu ergründen. Indes, sie alle scheitern, denn die Tragödie des Menschseins bleibt für den Menschen undurchsichtig. Hiob jedoch – dies ist die Quintessenz des Buches – glaubt an die unergründliche Weisheit Gottes, und im tiefen Bewusstsein seiner eigenen Nichtigkeit überlässt er sich dem Allmächtigen, liefert er sich ihm aus.

«Der Anfang der Weisheit», so steht an einer anderen Stelle der Bibel, und zwar in Sirach 1,14 zu lesen, «ist die Furcht des Herrn». Diesem Buch Sirach ist unsere heutige Lesung aus dem Alten Testament entnommen.

Wie ich eingangs schon gesagt habe, ist darin nicht von der menschlichen Weisheit die Rede, sondern von der Gottes. Die Weisheit tritt in unserer Lesung in der Gestalt einer Person auf und die Liturgie will – die Wahl der Evangelienperikope aus dem Anfang des Johannesevangeliums bestätigt dies –, dass wir darunter Gottes Wort verstehen, Gottes Wort, ‹das im Anfang war und das bei Gott war›.

Die mit dem Wort Gottes identische Weisheit hat unserer Lesung zufolge einen Doppelcharakter: einen kosmischen und einen geschichtlichen.

Bleiben wir zunächst beim Kosmischen. Mit seiner Weisheit schuf Gott dieses unermessliche Universum. Denn «alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist» (Joh 1,3). Nun wissen wir heute mehr denn je, welch ungeheuere Kräfte dieses Universum immer noch gestalten.

Die Luft- und Raumfahrtbehörde der NASA veröffentlicht Tag für Tag verblüffende Bilder über das Weltall. Nicht nur die rund eine Milliarde von Sternen unserer eigenen Milchstraße und die rund eine Milliarde von Lichtstraßen, sondern das Entstehen und Vergehen, ja sogar das Kollidieren solcher Milchstraßen und das Verschwinden von Sternen, die tausendmal größer sind als unsere Sonne, sind da in prächtigen Farben zu sehen.

Sind dies Naturkatastrophen oder Bewegungen in berechenbaren Bahnen nach physikalischen Gesetzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dies alles sozusagen jenseits der Weisheit Gottes abspielt, denn ich glaube fest daran, dass Gott, wie die Bibel lehrt, die Welt in seiner Weisheit, durch sein Wort, erschaffen hat.

Gottes Weisheit manifestiert sich unserer Lesung zufolge über den Kosmos hinaus auch in der Geschichte, vorzüglich in der Geschichte seines Volkes. Denn so spricht der Schöpfer zur personifizierten Weisheit: «In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben». Und einige Verse weiter spricht diese Weisheit: «In der Stadt, die er ebenso liebt wie mich, fand ich Ruhe»; und sie fährt fort: «Jerusalem wurde mein Machtbereich. Ich fasste Wurzel bei einem ruhmreichen Volk, im Eigentum des Herrn, in seinem Erbbesitz».

Was meint Jakob? Was meint Israel? Was meint Jerusalem? Wieder ermuntert uns die Liturgie, diese alttestamentlichen Bildbegriffe im Licht unserer neutestamentlichen Evangelienperikope, die uns von der Menschwerdung des mit der Weisheit identischen Wortes Gottes kündet, zu deuten. Denn das Wort, das zugleich das Leben und das Licht der Menschen ist, dieses «wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt», sprich: kam zu Jakob, kam zu Israel, kam nach Jerusalem. Ja, er, die Mensch gewordene Weisheit, «kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf».

Auf die Frage, wie denn Gottes Weisheit über den Kosmos hinaus in der Geschichte des von ihr auserwählten Volkes wirkte, gibt es ebenfalls bedenkenswerte Antworten.

Keineswegs verlief da alles glatt. Ein ganzes Bündel von Klagen findet man in der Bibel wie z.B. im Psalm 43,10-15. «Du hast uns verworfen», klagt der Verfasser dieses Psalms, «du hast uns in Schmach gestürzt und zogst nicht mit unseren Heeren. ... Wie Schlachtschafe gabst du uns hin, zerstreutest uns unter die Völker. ... Du hast dein Volk um ein Nichts verkauft ...». Gewiss sind die Siege Israels Gottes Tat, aber auch die Niederlagen und die Schmach, die er seinem Volk zumutet, gehören der Bibel zufolge zu seinem Plan, zu seiner Vorsehung.

Ja, das Geschick Jesu, des Mensch gewordenen Wortes selbst, spricht es nicht Bände? Unser Alttestamentler Prof. Josef Ziegler vertrat die Auffassung, Jesus habe am Kreuz nicht nur den ersten Vers des Psalms 21, «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», sondern den ganzen Psalm, der die Erfahrung der Gottverlassenheit in einer geradezu beispiellos leidenschaftlichen Sprache artikuliert, gebetet: «Hunde umringen mich, eine Rotte von Frevlern umgibt mich. Sie zerreißen mir Hände und Füße. Alle meine Knochen kann ich zählen. Sie blicken her und schauen gierig auf mich» (Vers 17f.)

Gehört zur christlichen Weltanschauung und Gläubigkeit nicht auch das Kreuz? In der Zeit nach der so genannten Konstantinischen Wende, also nach 313, als das Christentum Staatsreligion im Römerreich geworden ist, gab es Theologen, die allen Ernstes meinten, nun könne die Gottesherrschaft, die Jesus ankündigte, bereits hier auf Erden verwirklicht werden.

Um diesen Irrtum zu widerlegen, schrieb Augustinus sein schon erwähntes Werk Über den Gottesstaat. Darin legt er unmissverständlich den Unterschied zwischen der ersten Ankunft Christi im Fleisch und der seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten dar.

Steht nicht im Römerbrief, fragt Augustinus, «dass die Leiden dieser Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll?» Und: «ist die Schöpfung nicht der Vergänglichkeit unterworfen?» Und: «gab er ihr nicht auch die Hoffnung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit zu werden?» Und: «seufzt die gesamte Schöpfung nicht bis zum heutigen Tag, weil sie in Geburtswehen liegt?»

Und ist im Neuen Testament nicht von einer neuen Schöpfung die Rede? Steht da im Ersten Korintherbrief, Kapitel 15 nicht in Bezug auf das Ende zu lesen: Christus, Gottes Wort, Gottes Weisheit, werde, «wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat, seine Herrschaft Gott dem Vater übergeben, ... damit Gott über alles in allem herrsche?»

Die Bibel, so sagte ich einleitend, belehre uns dahin, dass Gottes Weisheit von uns immer und überall, also auch in Zeiten und Orten der Katastrophen zu preisen ist.

Im Gloria, dem Lob- und Bittgesang in der heiligen Messe, dessen älteste Textbestände in das zweite Jahrhundert zurückgehen, werden wir nicht deshalb zum Lob und Dank angehalten, weil es uns gut geht. Nein, eine solche Gebetshaltung lag den Christen der frühen Kirche fern. Vielmehr heißt es dort schlicht und einfach: «Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an, wir rühmen dich und danken dir, ob deiner großen Herrlichkeit».

Herrlichkeit, das versteht sich im Hinblick auf den Schlusssatz unserer Evangelienperikope von selbst, bezieht sich auf Gottes Wort, auf Gottes Weisheit, auf den Christus. Deshalb endet auch das Gloria mit dem Bekenntnis: «Denn du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste: Jesus Christus, mit dem Heiligen Geist, zur Ehre Gottes des Vaters. Amen».

AUGUSTINUS-FESTPREDIGT

Walldürn, 28.8.2004

Von Cornelius Petrus Mayer OSA

Die Wochenzeitung Die Zeit brachte in ihrer vorletzten Nummer ein beachtenswertes Interview über das Entstehen intelligenter Wesen. Darin vertrat der namhafte Entwicklungswissenschaftler und Biologe Simon Conway Morris die Auffassung, der Mensch sei bereits mit dem Urknall, «während der ersten Millisekunde dieser Welt», angelegt gewesen. Wir seien also «alles andere als ein Zufall».

Ich erwähne dies deshalb, weil eine ähnliche Auffassung sich auch in den Schriften jenes Mannes findet, dessen die Kirche am 28. August jeweils – zu Recht – als eines ihrer Größten gedenkt, des vor 1650 Jahren geborenen Augustinus.

Wer von uns kennt nicht den Satz der Bibel: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde»? Weil aber die Bibel unmittelbar mit der Schilderung des ‹Sechstagewerkes› der Schöpfung fortfährt, halten wir uns nicht lange bei diesem ihren ersten Vers, den wir als eine Art Überschrift betrachten, auf.

Nicht so der hl. Augustinus. Er lehrte vielmehr: Indem Gott sprach: «Es werde ...!», sei sozusagen im Augenblick auch schon alles, ‹Himmel und Erde›, erschaffen gewesen, und Gott habe allem Erschaffenen gleichsam ein Programm eingespeichert, wonach sich das Universum im Laufe der Zeit zu entwickeln habe.

Haben Sie keine Angst. Ich will diese Predigt zum Fest des hl. Augustinus nicht zu einer wissenschaftlichen Vorlesung über Astrophysik oder ähnliches umfunktionieren. Es geht mir schlicht darum, uns die Bedeutung dieses hochbegabten und hochgebildeten Mannes bewusst zu machen. Dass er in der Theologie und in der Kirche nicht zu Unrecht schon immer das Sagen hatte, versteht sich von selbst.

Nun war der hl. Augustinus kein Naturwissenschaftler. Er war Bischof und als solcher allem voran Seelsorger. Jahr für Jahr feierte er den Tag seiner Bischofsweihe. Bereits als Greis sagte er an einem solchen Tag in der Predigt, es schrecke ihn, was er für seine Gemeinde sei, es tröste ihn jedoch, was er mit ihnen sei. Das Amt sei seine Bürde, das Christ sein hingegen, das ihn mit den Gläubigen verbindet, seine Würde «Für euch nämlich», so fuhr er wörtlich fort, «bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ» (s. 340,1)..

Das bevorzugte Instrument der Seelsorge war ihm die aus dem Alten und Neuen Testament bestehende Bibel. Menschen haben sie zwar geschrieben, aber als ihren eigentlichen Urheber betrachtete er stets den, der sich, wie in unserer Evangelienperikope soeben gehört, sich allein als Lehrer genannt wissen wollte. Von der Wahrheit der biblischen Verkündigung war er zutiefst überzeugt. Den Reichtum der Heiligen Schrift den Gläubigen zu erschließen und ihnen das Erschlossene aneignen und vertiefen zu helfen, darin erblickte er seine wichtigste und vornehmste Aufgabe.

Worum geht es in der Bibel? Um unser Heil, antwortete der Bischof bündig. Ihr Thema ist Gott und Gottes Verhalten zum Menschen. Gewiss reden davon auch andere Religionen und Weltanschauungen, aber die Bibel redet davon anders – und von diesem ‹anders reden› der Bibel war Augustinus seit seiner Bekehrung fasziniert.

Als er in seinem 37. Lebensjahr Priester der Gemeinde von Hippo in heutigem Algerien wurde, ließ er sich von seinem Bischof mit der Bitte beurlauben, er wollte Gottes Wort, die Heilige Schrift, besser verstehen und er müsse sie deshalb nochmals gründlich studieren. Kaum war er vier Jahre später zum Bischof geweiht, als er seine zur Weltliteratur zählenden Bekenntnisse zu schreiben begann.

Es gibt kein literarisches Werk der Christenheit, in dem das, was sein Autor seinen Lesern sagen will, bis in die Wortwahl hinein so von der Botschaft der Bibel durchtränkt ist wie diese 13 Bücher der Bekenntnisse. Augustinus erzählt darin sein Leben unter dem Leitmotiv des Gleichnisses Jesu ‹vom verlorenen Sohn›, also jenes jungen Mannes, der aus dem ‹Vaterhaus› auszog und alles verprasste. Der Auslegung des Bischofs zufolge zog im Bilde ‹des verlorenen Sohnes› der das Paradies durch seinen ‹Ungehorsam› verlassende Adam in die ‹Fremde› und im Bilde Adams jedes der Adamskinder.

Wie kommt man dorthin wieder zurück? Das ist das erregende Thema schon der Bibel und darum auch der Bekenntnisse. Deshalb berichtet Augustinus in den ersten Büchern so ausführlich von seinen Verirrungen und Verwirrungen, damit der Leser diese mit ihm sehe, betrachte und erwäge, dabei aber seine eigenen erkenne und wie er, Augustinus, schließlich ihrer überdrüssig, des ‹Vaterhauses› jedoch eingedenk, in sich gehe.

Dieses In-sich-gehen um des ‹Vaterhauses› willen ist der springende Punkt. Es hat nämlich die Erinnerung daran zur Voraussetzung, dass es über das irdische Leben hinaus noch ein anderes Leben gibt, ein Leben bei dem, der uns erschuf und der wollte, dass wir bei ihm sind. Die Bibel geht noch einen Schritt weiter. Sie kündet davon, dass Gott selbst, um den Menschen bei sich zu haben, sich auf den Weg macht.

Nach dem Gleichnis vom verlorenen Sohn läuft der Vater dem in die Fremde Gezogenen entgegen, und nach dem Kern der neutestamentlichen Verkündigung sendet Gott ‹seinen eigenen Sohn› in die Welt, damit er uns ‹Weg› zum ‹Vaterhaus› werde und die Rückkehr ermögliche. In der Osternacht, wenn die Kirche den Höhepunkt ihres Glaubens an die Erlösung liturgisch begeht, jubelt sie darüber im Exultet, diesem wohl schönsten Hymnus der Christenheit. Der Diakon singt dabei von der ‹heilbringenden Sünde des Adam, die uns zum Segen wurde, weil Christi Tod sie vernichtet hat›. «O unfassbare Liebe des Vaters», heißt es wörtlich: «Um den Knecht zu erlösen, gabst du den Sohn dahin! ... O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden!».

In der Forschung über den Hymnus der Osternacht will die Stimme derer nicht verstummen, die meinen, die zitierten Sätze seien der Theologie des hl. Augustinus entnommen. Von wo aber er sich zu solch kühnen Gedanken inspirieren, wenn nicht vom Neuen Testament! «Die Liebe Gottes wurde unter uns dadurch offenbart, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben» – diesen Satz aus dem Ersten Johannesbrief verkündet die Kirche sinniger Weise in der Lesung des heutigen Gedenktages.

Als Augustinus seine Bekenntnisse schrieb, war er längst Christ. Er schrieb sie für Christen, für seine Brüder und seine Schwestern, die Glieder am Leibe des Herrn, der die Kirche ist, sein wollen. Worin besteht das Christ sein, wenn man bereits gläubig ist? Was ist zu tun, wenn man Christ bleiben, wenn man als Christ wachsen, reifen und zur Vollendung gelangen will? Darüber erfährt der Leser zum Teil frappierende, stets aber faszinierende Ansichten und Weisungen, und zwar gerade deshalb weil sie samt und sonders entweder der Bibel entnommen sind oder mit ihr in hohem Maße übereinstimmen.

Da ist vor allem das Wissen um das ‹Vaterhaus› als Ziel des Lebens von allergrößter Bedeutung. Das Christ sein steht und fällt mit dem Glauben an ein Leben am Ende der Tage. Die Bekenntnisse beginnen mit dem vielzitierten ‹unruhigen Herz›. Gemeint ist damit unser der Zeit, der ständigen Veränderung und der Zerrissenheit unterworfenes Leben. Gezielt hat Augustinus sich im 11. Buch seiner Bekenntnisse unter strikter Wahrung des Wissens um die Ewigkeit Gottes beschäftigt. «Ach siehe», so wendet er sich am Schluss dieses vielgelesenen und vielerörterten Buches dem Schöpfer der Zeiten mit dem Bekenntnis zu, «mein Leben ist eine Zerdehnung».

Der Verfasser der Bekenntnisse kann sich nicht genug tun, die Leser auf die Kürze und auf die Flüchtigkeit der uns Adamskinder zugemessenen Zeitspanne aufmerksam zu machen – auf den fundamentalen Unterschied zwischen Gott, dem Ewigen und darum Einen, und uns den Vielen, weil durch vieles Zerteilten. ‹Ausstrecken› will sich deshalb Augustinus und wir sollen dies mit ihm tun, nicht nach dem, was vorübergeht, sondern nach dem, was bleibt.

Augustinus beschreibt sodann mit Vorliebe unser irdisches Leben als eine ‹Wegstrecke›, wohl eingedenk der Bibel, die unser Dasein häufig und schlicht eine ‹Pilgerschaft› nennt. ‹Pilgersein› beinhaltet ein Wissen um das Ziel auf das hin man unterwegs ist. Inbegriff solcher ‹Pilgerschaft› war für die Frommen Israeliten der Weg zum Tempel in Jerusalem. In den neutestamentlichen Schriften wird ‹Jerusalem› zum Bildbegriff des Himmels.

Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, Christen hätten es sich – vielleicht in Kenntnis des Wortes von Heinrich Heine: «Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen» – abgewöhnt, vom Himmel zu sprechen. Nicht so Augustinus. Im ganzen 12. Buch meditiert er darüber, was wohl die Hl. Schrift mit dem Ausdruck ‹der Himmel des Himmels› gemeint haben könnte. Der Kirchenvater hält es mit dem Apostel Paulus, der in seinem Ersten Korintherbrief schriebt: «Wir verkündigen, wie in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereit hat, die ihn lieben» (2,9). Und im 13. Buch legt er eine Spiritualität, eine Geisteshaltung für Christen dar, die ganz und gar auf den Himmel, auf Gottes Wohnung und auf den für uns bestimmten Ort hin zentriert ist.

Wie kommen Christen in den Himmel? Indem sie glauben – nicht alles Mögliche, sondern das, was die Mitte des Christ Seins ausmacht (das, wovon der erwähnte Hymnus in der Osternacht singt). Wie kommen Christen in den Himmel? Indem sie hoffen – nicht auf die irdische Erfolge (sie sind jedem zu wünschen, haben aber mit dem Christ sein nichts zu tun), sondern auf das ewige Leben, «das Gott», wie gehört, «denen bereitet, die ihn lieben».

Schließlich ist da die Liebe, sozusagen der Schlüssel zum Himmel. Wieder ist nicht jede Art Liebe gemeint, sondern jene, die von Gott ausgeht. «Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen», hieß es in der Lesung.

Gerade im 13. Buch seiner Bekenntnisse schreibt Augustinus einmalig Schönes über diese uns von Gott geschenkte Liebe. Er sagt, sie, die Liebe, sei des Menschen spezifisches Gewicht. Also: nicht Begabung macht unseren Wert aus, nicht Reichtum, nicht Öffentlichkeit und Ansehen, sondern einzig und allein die ‹caritas›. Hören Sie sich diese wohlformulierten Sätze dieses ehemaligen Professors der Rhetorik, der Redekunst, an. Ich will damit zugleich meine Predigt beschließen.

Ich erwähnte bereits, dass der Begriff ‹Ruhe› ebenfalls einer der Leitfäden der Bekenntnisse ist. Von der ‹Ruhe des Himmels›, die uns verheißen ist, davon geht unser Text aus:

«In deiner Gabe ruhen wir und dort genießen wir deiner. Unsere Ruhe ist unser Ort. ... Der Körper strebt durch sein Gewicht nach seinem Ort. Es strebt das Schwergewicht nicht nur nach unten, sondern nach seinem Ruhepunkt. Das Feuer strebt nach oben, der Stein nach unten. Sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen nach ihrem Ruhepunkt. Öl auf Wasser gegossen, schwimmt auf dem Wasser, Wasser, auf Öl gegossen, sinkt unters Öl.: sie werden von ihrem Gewicht getrieben, sie suchen ihren Ruhepunkt. Was nicht in seiner Ordnung ist, ist ruhelos: es kommt in seine Ordnung und ruht. Mein Gewicht ist meine Liebe; von ihr bin ich gezogen, wo immer ich hingezogen werde. Durch deine Gaben werden wir entzündet, und wir werden nach oben gehoben; wir entbrennen und setzen uns in Bewegung. ... Von deinem Feuer, von deinem guten Feuer werden wir entzündet, und wir setzen uns in Bewegung hinauf ‹zum Frieden Jerusalems› (Ps 119,1). ... Dort wird der gute Wille uns einen Platz anweisen, dass wir nichts anders wollen, als dort ‹verharren in Ewigkeit› (Ps 60,8)».

Dass auch an uns dies in Erfüllung gehen möge, das wünsche ich Ihnen und mir zum Fest unseres Ordensvater, des hl. Augustinus. Amen.

PREDIGT ZUM FEST DES HEILIGEN AUGUSTINUS

AM 28. 8. 2004 IN DER AUGUSTINERKIRCHE WÜRZBURG

P. Roger Gerhardy OSA

Liebe Mitbrüder, liebe Gemeinde,

„Was vorüber ist, ist nicht vorüber.

Es wächst weiter in deinen Zellen

ein Baum aus Tränen oder vergangenem Glück.“

Die jüdische Dichterin Rose Ausländer bringt mit diesen wenigen Worten die menschliche Befindlichkeit exakt auf den Punkt. Sie fixiert, dass alles, was in unserem Leben vorüber ist, niemals vorbei sein wird. Unsere persönliche Geschichte steckt in den kleinsten Bausteinen unseres Körpers, in unseren Zellen, und macht uns unverwechselbar zu denen, die wir sind. Somit haben wir keine Erinnerungen, sondern wir bestehen aus ihnen; wir sammeln keine Erfahrungen, sondern die machen uns zu uns selbst; wir haben keine persönliche Vergangenheit, sondern sind deren lebendige Fortschreibung. In unseren Ängsten zittert noch immer die Hilflosigkeit der Urmenschen gegenüber einer als überaus bedrohlich empfundenen Umwelt. In unserem Leid schimmern die Tränen all derer, die jemals bohrenden Schmerz verspürten. In unserem Lachen schwingt die Freude all derer mit, denen je ein strahlender Tag oder die Erfahrung menschlicher Nähe die Erfahrung von Glück in die Seele hauchte. „Was vorüber ist, ist nicht vorüber. Es wächst weiter in deinen Zellen ein Baum aus Tränen oder vergangenem Glück.“ Wir sind, die wir waren, und wir bleiben, die wir sind. Der Fingerabdruck unserer Seele ist so unverwechselbar wie unabänderlich.

Doch wenn das so sicher ist, was ist dann von den großen Bekehrungen der Kirchengeschichte zu halten, von jenen Momenten, die aus Sündern Heilige machten? Fiel nicht vor Damaskus der Pharisäer Saulus vom Pferd und kam als der Völkerapostel Paulus auf dem Boden an? Riss sich nicht im mittelalterlichen Assisi der junge Franz die Kleider vom Leibe, warf sie seinem Vater vor die Füße, tanzte nackt vor ihm und allen Leuten, um ihnen klar zu machen, dass er künftig als Armer für Christus zu leben gedenke? Ging nicht im Jahre 386 der Nordafrikaner Augustinus als erfolgreicher Rhetorikprofessor in einen Mailänder Garten, las dort zwei ihn erschütternde Verse aus einem Paulusbrief, und kehrte als künftiger Kirchenlehrer und Ordensgründer wieder in das Haus zurück? Sind das nicht klare Beweise dafür, dass es möglich ist, im Handumdrehen ein anderer Mensch zu werden, total mit seiner Vergangenheit zu brechen? Sind wir, denen ihre persönliche Geschichte wie eine Sträflingskugel am Bein hängt, und denen der alte Adam und die ewige Eva ins Gesicht gezeichnet wurde, sind wir vielleicht ganz einfach eine Nummer zu klein für eine richtige Bekehrung? Oder anders gefragt: Was hat das eigentlich mit einer Bekehrung wirklich auf sich, führt sie einen Menschen von sich fort, oder bringt sie ihn erst wirklich zu sich selbst? Wie lief das denn seinerzeit bei Augustinus, der uns dankenswerter Weise in seinen Confessiones, seinen Bekenntnissen, ein theologisch durchreflektiertes Psychogramm seiner Bekehrung hinterließ? Wie war das mit seinem heiligen Moment, wie radikal hatte er in diesem Augenblick mit seiner Vergangenheit gebrochen?

Folgende beiden Verse aus dem 13. Kapitel des Römerbriefes hatten ihn während seines Besuchs im Garten bis ins Innerste getroffen: „Wie am Tage lasst uns ehrbar wandeln, nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Wollust und Ausschweifungen. Zieht vielmehr an den Herrn Jesus Christus, und pflegt das Fleisch nicht so, dass es lüstern wird.“ Er zeigte den Text seinem Freund Alipius, der mit ihm in den Garten gegangen war. Zusammen betraten sie wieder das Haus und erklärten seiner dort wartenden Mutter Monika, was geschehen war, und welche Konsequenzen sie daraus ziehen wollten. Für Augustinus bedeutete das die Aufgabe der Karriere als Rhetorikprofessor am Kaiserhof, das Zurücktreten von der Verlobung mit der reichen römischen Erbin, die er zwei Jahre später heiraten sollte. In seinem künftigen Leben hatten weder Familie noch Karriere einen Platz mehr. Ein auf den ersten Blick radikaler Bruch mit seiner Vergangenheit.

Und doch griff er damit lediglich wieder fest nach einem Faden, den er im Grunde seit seiner Jugend in den Händen hielt. Schon als 19jähriger hatte er den Hortensius gelesen, eine philosophische Schrift Ciceros. Darin wurde den Lesern ans Herz gelegt, dass das Glück eines Menschen einzig und allein im Erwerb der Weisheit liege, und dass diese Weisheit dem Menschen niemals genommen werden könne, im Gegensatz zu den materiellen Gütern und den Wonnen des Leibes. Wie weit diese Vorstellungen getrieben wurden, zeigt folgendes Zitat: „Denn eine heftige Lust des Leibes kann nicht mit vernünftigem Denken harmonieren. Wer ist nämlich imstande, wenn er jene Lust genießt, die größer ist als jede andere, sich mit dem Geist auf etwas anderes zu konzentrieren. ... Wer, mit gutem Verstand ausgerüstet, würde es nicht vorziehen, dass uns von der Natur überhaupt keine Lust gegeben worden wäre?“ Soweit aus dem Hortensius des Cicero.

Dieses Streben, diese Sehnsucht nach der Weisheit, die einen Menschen über das Irdisch-Alltägliche erhebt, war seitdem in Augustinus verankert, und lag in heftigem Kampf mit seiner ebenfalls sehr stark ausgeprägten Sinnlichkeit. Seine Sehnsucht nach der Weisheit versprachen ihm zunächst die Manichäer zu erfüllen, deren Sekte er jahrelang angehörte. Deren gedankliche Dürftigkeit durchschaute er nach einigen Jahren nicht zuletzt dank der Schriften der Neuplatoniker. Der griechische Philosoph Plato hatte gelehrt, der Leib sei das Gefängnis der Seele und der Chefdenker der Neuplatoniker, Plotin, forderte: „Mensch werde Seele!“ Wie sehr Plotin diese Forderung verinnerlicht hatte, hielt sein Biograph Porphyrios fest, indem er seinen Herrn als jemanden beschrieb, der „sich dessen schämt, im Leibe zu sein.“ Augustins Geringschätzung der Sinnlichkeit hatte also ihre Wurzeln in der heidnischen Philosophie.

Parallel dazu war Augustinus jahrelang mit einer Frau liiert, die er aus Nordafrika mitgebracht hatte. Ihrer beider Sohn hieß Adeodatus. Er, der so fasziniert war von der Erhabenheit der Seele über den Körper, konnte indes lange nicht ohne die liebende Umarmung einer Frau sein, wie er in seinen Confessiones schreibt. Und so überaus präzise wie er die Gedanken seiner theologischen und philosophischen Gegenspieler sezierte, so genau durchschaute er auch seine eigene Zerrissenheit und Inkonsequenz. Er wäre gern schon früher seinen Idealen gefolgt, aber „zurück hielten mich“, so schreibt er in seinen Confessiones, „die Nichtigkeiten und Eitelkeit, meine alten Freundinnen, zerrten mich am Mantel meines Fleisches und flüsterten mir zu: Was, du willst uns verlassen? Von dem Augenblick an werden wir nicht mehr bei dir sein in Ewigkeit! ... Glaubst du, es ohne jene Dinge aushalten zu können?“ Soweit die Confessiones. Das war also, grob skizziert, die Vorgeschichte jener Szene im Garten, als er im Römerbrief las: „Wie am Tage lasst uns ehrbar wandeln, nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Wollust und Ausschweifungen. Zieht vielmehr an den Herrn Jesus Christus, und pflegt das Fleisch nicht so, dass es lüstern wird.“ Dass er anschließend die erwähnte Entscheidung der Bekehrung traf, war also kein tiefer Bruch in seinem Leben und mit seiner Vergangenheit, sondern die Konsequenz aus dem jahrzehntelang erstrebtem Ziel und zahlreichen vergeblichen Anläufen.

Doch so, wie frisch Verliebte zu einem Überschwang der Gefühle neigen, verhält es sich auch bei frisch Bekehrten. Sie neigen leicht zu Strenge und Radikalität. Sein Ideal der Gemeinschaft, die nach dem von den Heiden bewunderten Vorbild der Urgemeinde in Jerusalem lebt, verwirklichte Augustinus zunächst im Gartenkloster Cassiciacum unweit Mailands, später in seiner Heimatstadt Thagaste, schließlich in seiner Bischofsstadt Hippo. Bald nach seiner Bekehrung hatte er das Buch „Über das vollkommene Leben“ geschrieben. Aber das Leben korrigierte seinen anfänglichen Optimismus, und er erklärte später seiner Gemeinde, dass selbst der getaufte Christ auf seinem Weg zu Gott als Invalide unterwegs sei. Wie der niedergeschlagene Mann im Gleichnis vom barmherzigen Samariter in der Herberge gepflegt wurde, so müsse der getaufte Christ den Rest seines Lebens in der Herberge der Kirche seine Genesung betreiben. Er verdonnerte den Christen also nicht zur Vollkommenheit schon hier auf Erden. Mit dieser Nachsicht Augustins war einer seiner großen Widersacher, Pelagius nämlich, überhaupt nicht einverstanden. Nach dessen Ansicht bedeuteten Bekehrung und Taufe eine plötzliche Befreiung von der Sünde und ermöglichten den Bekehrten, schon in dieser Welt ein vollendetes Leben gestalten zu können. Für ihn war die Taufe ein dramatischer neuer Start, der Beginn eines heroischen Lebens der Tat.

Augustinus war da bedeutend realistischer geworden. Zehn Jahre nach seiner Bekehrung schreibt er: „Wer auch immer denkt, dass ein Mensch in diesem sterblichen Leben die Nebelschleier körperlicher und fleischlicher Vorstellungen vertreiben könnte, um das unumwölkte Licht wandelloser Wahrheit zu besitzen und ihm im Geiste, (der dem gemeinen Lebenswandel ganz entfremdet ist,) beständig und unbeirrbar anzuhangen, der versteht weder, was er sucht, noch, wer er ist, der es sucht“ (De cons. evang. III,10,20). Leise klingt hier nochmals die Resignation an, die er schon vor seiner Bekehrung verspürte. Wie mit einer Kette fühlte er sich immer noch durch die Macht der Gewohnheit zum Bösen gefesselt, und klagte mit den Worten des Apostels Paulus aus dem 7. Kapitel des Römerbriefes: „Aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich gefangenhält unter dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“

Eine klare Absage an die moralisierenden Pelagianer aller Zeiten. Die schwärmten vor ihrem Publikum von Pauli Bekehrung vor Damaskus, als sei da wirklich der Saulus vom Pferd gefallen und infolge der rasch wirkenden göttlichen Gnade als der Völkerapostel Paulus auf dem Boden angekommen. Doch der blieb nach seinem Sturz noch 17 Jahre lang der Zeltmacher Saulus, bis er in Antiochia zu predigen begann. Erst während seiner ersten Missionsreise legte er sich auf die römische Version seines Namens fest und nannte sich Paulus, um einen leichteren Zugang zu den Römern zu haben. Gottes Gnade ist kein Durchlauferhitzer. Auch Franz von Assisi hatte mit seinem zitierten Tanz auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt seine Vergangenheit nicht einfach abgestreift. Als alter Mann wurde er einmal gefragt, was das Härteste in seinem Leben gewesen sei. Er sagte: „Das mit dem Vater.“ Das Leben ist ein fortlaufende Geschichte, das war bei Paulus so, bei Franz, und das hatte auch Augustinus zu lernen. Dem war es in den Jahren nach seiner Bekehrung klar geworden, – er schrieb die Confessiones zehn Jahre danach – dass er niemals jenen Sieg des Geistes über den Leib erringen würde, von dem er als 19jähriger bei der Lektüre des Hortensius zu träumen begonnen hatte. In den Confessiones ist er ein Mensch, der diese sichere Zukunft verloren hat. Im Laufe dieser Jahre war es ihm klar geworden, dass er dieses Leben als Unvollkommener durchzustehen habe. Die endgültige Lösung aller Spannungen, die er für sich so sehr sehnte, würde nie mehr als eine Hoffnung sein. Ein Mensch konnte sich nur nach dieser abwesenden Vollkommenheit sehnen und nach ihr schmachten. „Desiderium sinus cordis – die Sehnsucht gibt dem Herzen Tiefe“ erkannte er im Kommentar zum Johannesevangelium (Tract. in Joh. 40,10). Er sah sich und jeden Menschen in einer Existenz gefangen, die ihm die Fülle dessen verweigert, wonach er verlangt, sah jeden als einen Wanderer, auf der Suche nach einem Lande, das stets in der Ferne liegt und doch immer gegenwärtig ist durch das Wesen der Liebe, mit der man es ersehnt. Und so schrieb er in den Confessiones: „Die andern aber will ich draußen Staub blasen lassen, der ihnen in die Augen dringt, und will in meine Kammer treten und dir Liebeslieder singen, seufzend die unaussprechlich bittern Seufzer meiner Pilgerschaft und all mein Denken und mein Sehnen aufwärts richtend zum himmlischen Jerusalem, zu meiner Heimat Jerusalem, zu meiner Mutter Jerusalem“ (Conf. XII, 16,40).

Das Erlebnis im Garten hatte keinen anderen Menschen aus ihm gemacht, sondern es hatte ihn zu sich selbst finden lassen. Nicht mehr dem Idealtypus der platonischen Philosophie verhaftet, ätherisch und vergeistigt abgehoben von den irdischen Leidenschaften, sondern sich so annehmend, wie er sich vorfand. Dabei durchaus nicht immer zufrieden mit dem vorgefundenen Augustinus, der zu gern die Anfechtungen des Leibes hinter sich gelassen hätte, aber durchaus bereit war, mit Hilfe der Gnade Gottes sein Leben in die Hand zu nehmen.

Dass diese Sinnlichkeit die große Herausforderung seines Lebens sein und bleiben würde, war ihm klar geworden, und dieser Herausforderung stellte er sich. Und das wäre etwas, das man von ihm lernen könnte. So wie seine Sinnlichkeit sein größtes Hindernis auf seinem Weg zu Gott war, genau so kann für einen anders veranlagten Menschen seine je eigene Konstellation seinen Weg zu Gott erschweren. Für den Machthungrigen ist es sein Machthunger, für den Zyniker seine Gefühlskälte, für den Intriganten sein Spiel mit den menschlichen Marionetten, für den vermeintlich Friedfertigen seine feige Samtpfötigkeit. Unseren Gewissenserforschungen sind da keine Grenzen gezogen. Augustinus hatte sich seiner Geschichte, seiner Veranlagung gestellt, hatte nach vielen Irrwegen zu sich gefunden. Für die Außenwelt war das ein Bruch mit der Vergangenheit, eine atemberaubende Bekehrung. Für ihn war es das Betreten seines ureigenen Bodens, von dem aus er in Zukunft agieren würde. Das war nicht immer idyllisch, nicht immer einfach, nicht immer erfolgreich, aber es war immer sein eigenes Leben, war immer sein unverwechselbar eigener Weg zu dem Gott, dem er im ersten Kapitel seiner Confessiones vertrauend sagte: „Du hast uns auf dich hin geschaffen, Gott, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“

P. Roger Gerhardy OSA

Kloster Maria Eich

Predigt zum 2. Sonntag im Advent
Augustinerkirche Würzburg, 7. 12. 2003
Von Cornelius Petrus Mayer OSA

 

Vorspann

Der Zauber des Advents, der zur Zeit das Bild unserer Stadt bestimmt, zieht zweifelsohne auch Gläubige in seinen Bann.

Wohl empfängt uns in der Kirche ebenfalls etwas von diesem Zauber: der vorweihnachtliche Schmuck, die adventlichen Lieder, das warme Violett der liturgischen Kleider und dergleichen mehr. Aber das den Advent Prägende sind doch die Texte der Verkündigung.

«Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel, und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land». Solch poetische Sätze hören wir in der Lesung aus dem Buch Baruch und das Lukasevangelium fügt in der gleichen Diktion hinzu: «Jede Schlucht soll aufgefüllt werden ... Was krumm ist, soll gerade werden».

Faszinierende Texte, wie jedermann zugeben wird! Wovon reden sie? Sie reden von unserer Heimkehr! Denn Gottes ‹Advent›, seines Messias Ankunft, zielt auch darauf ab, dass wir ebenfalls ankommen – ankommen bei ihm und bei dem, den er uns gesandt hat.

Lesung aus dem Buch Baruch 5, 1-9

1 Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends, und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht.

2 Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!

3 Denn Gott will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen.

4 Gott gibt dir für immer den Namen: Friede der Gerechtigkeit und Herrlichkeit der Gottesfurcht.

5 Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Schau nach Osten, und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Herrn sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat.

6 Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte.

7 Denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel, und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, so dass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann.

8 Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß.

9 Denn Gott führt Israel heim in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit; Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm.

Predigt

Zum besseren Verständnis des Advents, der gegenwärtigen liturgischen Zeit der Kirche, ist es hilfreich zu wissen, dass die Texte des 1. und des 2. Sonntags von der Erwartung der Wiederkunft Christi geprägt sind. Im Unterschied dazu haben die Texte des 3. und 4. Sonntags die Vorbereitung auf Weihnachten, auf das alljährliche Geburtsfest Jesu, zum Gegenstand der Verkündigung.

Unser heutiger zweiter Adventssonntag steht also ganz und gar im Dienst der Botschaft von der erlösenden Wiederkunft des Herrn. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die verkündeten Texte keinen drohenden, sondern einen freudigen Charakter haben.

Werfen wir einen Blick auf unsere Lesung. Sie beginnt mit dem Satz: «Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends, und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht». Historisch gesehen dürfte Israel wieder einmal – wie so häufig in seiner Geschichte – Schmach, Schimpf und Schande aller Art seitens seiner Unterdrücker zu erdulden gehabt haben, als der Prophet diese Worte der Verheißung zu ihm sprach.

Indes, als Christen kommen wir mit diesen Verheißungen nicht zurecht, wenn wir sie rein zeitlich, geschichtlich und innerweltlich verstehen. Die neutestamentlichen Schriften weisen uns einen anderen Verstehensweg. Sie lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass jene Verheißungen Gottes letztendlich unser durch Christus vermitteltes Heil zum Gegenstand haben.

Deshalb ist auch der Kern des christlichen Advents die Vorbereitung auf die Geburt dessen, der das Werk der Erlösung bereits vollbracht hat, der beim Vater verherrlicht ist und der «wiederkommen wird in Herrlichkeit». So lautet das Credo der Kirche, darin gipfelt es.

Von diesem Credo her müssen wir die hymnischen Sätze unserer Lesung zu verstehen versuchen. ‹Jerusalem›, das sein ‹Kleid der Trauer und des Elends› ablegen soll, weil ‹Gott selbst es mit dem Schmuck der Herrlichkeit bekleidet›, das sind – so der Apostel Paulus in seinen Briefen – nicht ‹die Kinder Israels dem Fleische nach›, nein, ‹Jerusalem›, das sind wir, die Erlösten, die Glaubenden.

«Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!», heißt es in der Lesung vielsagend weiter, «denn Gott will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen».

Was ist unter diesem ‹Mantel der Gerechtigkeit› zu verstehen? Mit Sicherheit nicht unsere eigene Gerechtigkeit, sondern, um wieder mit dem Apostel zu reden, ‹die Gerechtigkeit dessen, der sein Leben für uns dahingab und der uns dadurch gerecht macht vor Gott›.

So gewiss der Christ Bürger dieser Welt ist, so gewiss ist er als Erlöster auch Bürger einer anderen Welt, ‹Bürger des himmlischen Jerusalems›, Bürger der Gottesstadt. Ihm, ‹dem himmlischen Jerusalem› allein gebührt der Name ‹Friede› und ‹Gerechtigkeit›.

Fordern solche Sätze uns zu einer Abkehr von der Welt auf? Mitnichten! Sie fordern uns allerdings auf, in die Welt mit den Augen des Glaubens hineinzuschauen, um darin die Begrenzungen der Gerechtigkeit wahrzunehmen, um darin die konstitutionellen Mängel und die Unzulänglichkeiten, das Heil hier und jetzt schon schaffen und sichern zu können, zu sehen.

Der Glaubende sieht eben tiefer. Nur weil und wenn Gott die Versöhnung, den Frieden und die Gerechtigkeit uns schenkt, wird ‹das neue Jerusalem› Wirklichkeit werden. Zweifelsohne machen die Gerechtfertigten ‹das neue Jerusalem› aus, aber sie sind nicht dessen Gründer.

Unmissverständlicher noch bringt der zweite Teil unserer Lesung die Heimholung des Menschen in die ewige Herrlichkeit Gottes am Ende der Zeiten zur Sprache. «Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe!» heißt es da. Die Heimkehr der Befreiten wird abermals visionär zu einem alles Irdische sprengenden Triumphzug.

Aber nicht die Menschen sind es, die solches bewirken, Gott allein ist Subjekt des Geschehens. Den Menschen bleibt nur, ‹sich zu freuen, dass Gott an sie gedacht hat›. «Denn zu Fuß zogen sie fort ..., weggetrieben von Feinden, Gott aber bringt sie heim ..., ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte». Kann die Herrlichkeit der Heimkehr am Ende der Zeiten noch eindrucksvoller geschildert werden?

Die visionäre Poesie scheint im Blick auf Gott keine Grenzen zu kennen, denn sie fährt fort, er, der Allmächtige, habe befohlen: «Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel, und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, so dass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann». Wohin?

Blicken wir nochmals auf die Geschichte Israels: So oft dieses Volk aus einem Exil auch heimkehrte, stets sah es sich von Neuem von existenzbedrohenden Gefahren umgeben. – Wird Israels Geschick nicht zum Bild unseres Daseins?

Das Neue Testament sieht dies so und verkündet dies in aller Klarheit und Schärfe auch so. Es deutet unser Dasein als Pilgerschaft. – Sicher tun dies auch andere Dichter und Denker, Religionen und Weltanschauungen. Bei den zahlreichen Schilderungen unseres Daseins als Pilgerschaft geht es dem Neuen Testament jedoch primär stets um Gott bzw. um unser Leben bei Gott als Ziel dieser Pilgerschaft.

«Wir wissen», lesen wir im Zweiten Korintherbrief (5,1-10), «wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Händen errichtetes ewiges Haus im Himmel». Der Christ – das scheint mir die Botschaft der Texte am zweiten Advent zu sein – ist nicht ein verlorener Einzelgänger, er ist eingebunden in die Gemeinschaft der Glaubenden und in die Gemeinschaft der Hoffenden. «Immer sind wir zuversichtlich», heißt es im zitierten Brief einige Sätze weiter, «auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, so lange wir in diesem Leib zu Hause sind, denn glaubend gehen wir unseren Weg, nicht schauend».

Ich sagte eingangs, ‹Advent› bedeutet ‹Ankunft›, in der Liturgie ‹Ankunft Gottes›. Der ‹Advent› erinnert uns aber zugleich auch daran, dass wir einst dort ankommen sollen, wo Gott uns haben will. Christi Menschwerdung, die wir jeweils am Ende des Advents feiern, hatte nichts anderes als diese unsere Heimführung zum Ziel.

Es ist gute Sitte, dass Christen sich gegenseitig einen besinnlichen Advent wünschen. Eine vorzüglich aus der biblischen Verkündigung zu gewinnende Besinnlichkeit soll uns helfen, uns auf den Weg zu konzentrieren, und zwar freudigen Herzens.

Jubel ist deshalb der Tenor der Verkündigung unseres heutigen Sonntagsgottesdienstes, unbeschreibbarer und darum nur in Bildern zur Sprache gebrachter Jubel. Heißt es im Bilde: «Senken sollen sich alle hohen Berge, ... heben die Täler», dann sind damit gerade nicht unsere Vorleistungen gemeint. Er, Gott, schafft die Ebene, um im Bilde zu bleiben, auf der wir ihm dann entgegenzuziehen vermögen.

Bündig fasst dies alles das Tagesgebet der Kirche zusammen, die darin mustergültig um einen besinnlichen Advent betet: «Allmächtiger und barmherziger Gott, deine Weisheit allein zeigt uns den rechten Weg. Lass nicht zu, dass irdische Aufgaben und Sorgen uns hindern, deinem Sohn entgegenzugehen. Führe uns durch dein Wort und deine Gnade zur Gemeinschaft mit ihm, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit. Amen».