PREDIGT ZUM FEST DES HEILIGEN AUGUSTINUS

AM 28. 8. 2004 IN DER AUGUSTINERKIRCHE WÜRZBURG

P. Roger Gerhardy OSA

Liebe Mitbrüder, liebe Gemeinde,

„Was vorüber ist, ist nicht vorüber.

Es wächst weiter in deinen Zellen

ein Baum aus Tränen oder vergangenem Glück.“

Die jüdische Dichterin Rose Ausländer bringt mit diesen wenigen Worten die menschliche Befindlichkeit exakt auf den Punkt. Sie fixiert, dass alles, was in unserem Leben vorüber ist, niemals vorbei sein wird. Unsere persönliche Geschichte steckt in den kleinsten Bausteinen unseres Körpers, in unseren Zellen, und macht uns unverwechselbar zu denen, die wir sind. Somit haben wir keine Erinnerungen, sondern wir bestehen aus ihnen; wir sammeln keine Erfahrungen, sondern die machen uns zu uns selbst; wir haben keine persönliche Vergangenheit, sondern sind deren lebendige Fortschreibung. In unseren Ängsten zittert noch immer die Hilflosigkeit der Urmenschen gegenüber einer als überaus bedrohlich empfundenen Umwelt. In unserem Leid schimmern die Tränen all derer, die jemals bohrenden Schmerz verspürten. In unserem Lachen schwingt die Freude all derer mit, denen je ein strahlender Tag oder die Erfahrung menschlicher Nähe die Erfahrung von Glück in die Seele hauchte. „Was vorüber ist, ist nicht vorüber. Es wächst weiter in deinen Zellen ein Baum aus Tränen oder vergangenem Glück.“ Wir sind, die wir waren, und wir bleiben, die wir sind. Der Fingerabdruck unserer Seele ist so unverwechselbar wie unabänderlich.

Doch wenn das so sicher ist, was ist dann von den großen Bekehrungen der Kirchengeschichte zu halten, von jenen Momenten, die aus Sündern Heilige machten? Fiel nicht vor Damaskus der Pharisäer Saulus vom Pferd und kam als der Völkerapostel Paulus auf dem Boden an? Riss sich nicht im mittelalterlichen Assisi der junge Franz die Kleider vom Leibe, warf sie seinem Vater vor die Füße, tanzte nackt vor ihm und allen Leuten, um ihnen klar zu machen, dass er künftig als Armer für Christus zu leben gedenke? Ging nicht im Jahre 386 der Nordafrikaner Augustinus als erfolgreicher Rhetorikprofessor in einen Mailänder Garten, las dort zwei ihn erschütternde Verse aus einem Paulusbrief, und kehrte als künftiger Kirchenlehrer und Ordensgründer wieder in das Haus zurück? Sind das nicht klare Beweise dafür, dass es möglich ist, im Handumdrehen ein anderer Mensch zu werden, total mit seiner Vergangenheit zu brechen? Sind wir, denen ihre persönliche Geschichte wie eine Sträflingskugel am Bein hängt, und denen der alte Adam und die ewige Eva ins Gesicht gezeichnet wurde, sind wir vielleicht ganz einfach eine Nummer zu klein für eine richtige Bekehrung? Oder anders gefragt: Was hat das eigentlich mit einer Bekehrung wirklich auf sich, führt sie einen Menschen von sich fort, oder bringt sie ihn erst wirklich zu sich selbst? Wie lief das denn seinerzeit bei Augustinus, der uns dankenswerter Weise in seinen Confessiones, seinen Bekenntnissen, ein theologisch durchreflektiertes Psychogramm seiner Bekehrung hinterließ? Wie war das mit seinem heiligen Moment, wie radikal hatte er in diesem Augenblick mit seiner Vergangenheit gebrochen?

Folgende beiden Verse aus dem 13. Kapitel des Römerbriefes hatten ihn während seines Besuchs im Garten bis ins Innerste getroffen: „Wie am Tage lasst uns ehrbar wandeln, nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Wollust und Ausschweifungen. Zieht vielmehr an den Herrn Jesus Christus, und pflegt das Fleisch nicht so, dass es lüstern wird.“ Er zeigte den Text seinem Freund Alipius, der mit ihm in den Garten gegangen war. Zusammen betraten sie wieder das Haus und erklärten seiner dort wartenden Mutter Monika, was geschehen war, und welche Konsequenzen sie daraus ziehen wollten. Für Augustinus bedeutete das die Aufgabe der Karriere als Rhetorikprofessor am Kaiserhof, das Zurücktreten von der Verlobung mit der reichen römischen Erbin, die er zwei Jahre später heiraten sollte. In seinem künftigen Leben hatten weder Familie noch Karriere einen Platz mehr. Ein auf den ersten Blick radikaler Bruch mit seiner Vergangenheit.

Und doch griff er damit lediglich wieder fest nach einem Faden, den er im Grunde seit seiner Jugend in den Händen hielt. Schon als 19jähriger hatte er den Hortensius gelesen, eine philosophische Schrift Ciceros. Darin wurde den Lesern ans Herz gelegt, dass das Glück eines Menschen einzig und allein im Erwerb der Weisheit liege, und dass diese Weisheit dem Menschen niemals genommen werden könne, im Gegensatz zu den materiellen Gütern und den Wonnen des Leibes. Wie weit diese Vorstellungen getrieben wurden, zeigt folgendes Zitat: „Denn eine heftige Lust des Leibes kann nicht mit vernünftigem Denken harmonieren. Wer ist nämlich imstande, wenn er jene Lust genießt, die größer ist als jede andere, sich mit dem Geist auf etwas anderes zu konzentrieren. ... Wer, mit gutem Verstand ausgerüstet, würde es nicht vorziehen, dass uns von der Natur überhaupt keine Lust gegeben worden wäre?“ Soweit aus dem Hortensius des Cicero.

Dieses Streben, diese Sehnsucht nach der Weisheit, die einen Menschen über das Irdisch-Alltägliche erhebt, war seitdem in Augustinus verankert, und lag in heftigem Kampf mit seiner ebenfalls sehr stark ausgeprägten Sinnlichkeit. Seine Sehnsucht nach der Weisheit versprachen ihm zunächst die Manichäer zu erfüllen, deren Sekte er jahrelang angehörte. Deren gedankliche Dürftigkeit durchschaute er nach einigen Jahren nicht zuletzt dank der Schriften der Neuplatoniker. Der griechische Philosoph Plato hatte gelehrt, der Leib sei das Gefängnis der Seele und der Chefdenker der Neuplatoniker, Plotin, forderte: „Mensch werde Seele!“ Wie sehr Plotin diese Forderung verinnerlicht hatte, hielt sein Biograph Porphyrios fest, indem er seinen Herrn als jemanden beschrieb, der „sich dessen schämt, im Leibe zu sein.“ Augustins Geringschätzung der Sinnlichkeit hatte also ihre Wurzeln in der heidnischen Philosophie.

Parallel dazu war Augustinus jahrelang mit einer Frau liiert, die er aus Nordafrika mitgebracht hatte. Ihrer beider Sohn hieß Adeodatus. Er, der so fasziniert war von der Erhabenheit der Seele über den Körper, konnte indes lange nicht ohne die liebende Umarmung einer Frau sein, wie er in seinen Confessiones schreibt. Und so überaus präzise wie er die Gedanken seiner theologischen und philosophischen Gegenspieler sezierte, so genau durchschaute er auch seine eigene Zerrissenheit und Inkonsequenz. Er wäre gern schon früher seinen Idealen gefolgt, aber „zurück hielten mich“, so schreibt er in seinen Confessiones, „die Nichtigkeiten und Eitelkeit, meine alten Freundinnen, zerrten mich am Mantel meines Fleisches und flüsterten mir zu: Was, du willst uns verlassen? Von dem Augenblick an werden wir nicht mehr bei dir sein in Ewigkeit! ... Glaubst du, es ohne jene Dinge aushalten zu können?“ Soweit die Confessiones. Das war also, grob skizziert, die Vorgeschichte jener Szene im Garten, als er im Römerbrief las: „Wie am Tage lasst uns ehrbar wandeln, nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Wollust und Ausschweifungen. Zieht vielmehr an den Herrn Jesus Christus, und pflegt das Fleisch nicht so, dass es lüstern wird.“ Dass er anschließend die erwähnte Entscheidung der Bekehrung traf, war also kein tiefer Bruch in seinem Leben und mit seiner Vergangenheit, sondern die Konsequenz aus dem jahrzehntelang erstrebtem Ziel und zahlreichen vergeblichen Anläufen.

Doch so, wie frisch Verliebte zu einem Überschwang der Gefühle neigen, verhält es sich auch bei frisch Bekehrten. Sie neigen leicht zu Strenge und Radikalität. Sein Ideal der Gemeinschaft, die nach dem von den Heiden bewunderten Vorbild der Urgemeinde in Jerusalem lebt, verwirklichte Augustinus zunächst im Gartenkloster Cassiciacum unweit Mailands, später in seiner Heimatstadt Thagaste, schließlich in seiner Bischofsstadt Hippo. Bald nach seiner Bekehrung hatte er das Buch „Über das vollkommene Leben“ geschrieben. Aber das Leben korrigierte seinen anfänglichen Optimismus, und er erklärte später seiner Gemeinde, dass selbst der getaufte Christ auf seinem Weg zu Gott als Invalide unterwegs sei. Wie der niedergeschlagene Mann im Gleichnis vom barmherzigen Samariter in der Herberge gepflegt wurde, so müsse der getaufte Christ den Rest seines Lebens in der Herberge der Kirche seine Genesung betreiben. Er verdonnerte den Christen also nicht zur Vollkommenheit schon hier auf Erden. Mit dieser Nachsicht Augustins war einer seiner großen Widersacher, Pelagius nämlich, überhaupt nicht einverstanden. Nach dessen Ansicht bedeuteten Bekehrung und Taufe eine plötzliche Befreiung von der Sünde und ermöglichten den Bekehrten, schon in dieser Welt ein vollendetes Leben gestalten zu können. Für ihn war die Taufe ein dramatischer neuer Start, der Beginn eines heroischen Lebens der Tat.

Augustinus war da bedeutend realistischer geworden. Zehn Jahre nach seiner Bekehrung schreibt er: „Wer auch immer denkt, dass ein Mensch in diesem sterblichen Leben die Nebelschleier körperlicher und fleischlicher Vorstellungen vertreiben könnte, um das unumwölkte Licht wandelloser Wahrheit zu besitzen und ihm im Geiste, (der dem gemeinen Lebenswandel ganz entfremdet ist,) beständig und unbeirrbar anzuhangen, der versteht weder, was er sucht, noch, wer er ist, der es sucht“ (De cons. evang. III,10,20). Leise klingt hier nochmals die Resignation an, die er schon vor seiner Bekehrung verspürte. Wie mit einer Kette fühlte er sich immer noch durch die Macht der Gewohnheit zum Bösen gefesselt, und klagte mit den Worten des Apostels Paulus aus dem 7. Kapitel des Römerbriefes: „Aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich gefangenhält unter dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.“

Eine klare Absage an die moralisierenden Pelagianer aller Zeiten. Die schwärmten vor ihrem Publikum von Pauli Bekehrung vor Damaskus, als sei da wirklich der Saulus vom Pferd gefallen und infolge der rasch wirkenden göttlichen Gnade als der Völkerapostel Paulus auf dem Boden angekommen. Doch der blieb nach seinem Sturz noch 17 Jahre lang der Zeltmacher Saulus, bis er in Antiochia zu predigen begann. Erst während seiner ersten Missionsreise legte er sich auf die römische Version seines Namens fest und nannte sich Paulus, um einen leichteren Zugang zu den Römern zu haben. Gottes Gnade ist kein Durchlauferhitzer. Auch Franz von Assisi hatte mit seinem zitierten Tanz auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt seine Vergangenheit nicht einfach abgestreift. Als alter Mann wurde er einmal gefragt, was das Härteste in seinem Leben gewesen sei. Er sagte: „Das mit dem Vater.“ Das Leben ist ein fortlaufende Geschichte, das war bei Paulus so, bei Franz, und das hatte auch Augustinus zu lernen. Dem war es in den Jahren nach seiner Bekehrung klar geworden, – er schrieb die Confessiones zehn Jahre danach – dass er niemals jenen Sieg des Geistes über den Leib erringen würde, von dem er als 19jähriger bei der Lektüre des Hortensius zu träumen begonnen hatte. In den Confessiones ist er ein Mensch, der diese sichere Zukunft verloren hat. Im Laufe dieser Jahre war es ihm klar geworden, dass er dieses Leben als Unvollkommener durchzustehen habe. Die endgültige Lösung aller Spannungen, die er für sich so sehr sehnte, würde nie mehr als eine Hoffnung sein. Ein Mensch konnte sich nur nach dieser abwesenden Vollkommenheit sehnen und nach ihr schmachten. „Desiderium sinus cordis – die Sehnsucht gibt dem Herzen Tiefe“ erkannte er im Kommentar zum Johannesevangelium (Tract. in Joh. 40,10). Er sah sich und jeden Menschen in einer Existenz gefangen, die ihm die Fülle dessen verweigert, wonach er verlangt, sah jeden als einen Wanderer, auf der Suche nach einem Lande, das stets in der Ferne liegt und doch immer gegenwärtig ist durch das Wesen der Liebe, mit der man es ersehnt. Und so schrieb er in den Confessiones: „Die andern aber will ich draußen Staub blasen lassen, der ihnen in die Augen dringt, und will in meine Kammer treten und dir Liebeslieder singen, seufzend die unaussprechlich bittern Seufzer meiner Pilgerschaft und all mein Denken und mein Sehnen aufwärts richtend zum himmlischen Jerusalem, zu meiner Heimat Jerusalem, zu meiner Mutter Jerusalem“ (Conf. XII, 16,40).

Das Erlebnis im Garten hatte keinen anderen Menschen aus ihm gemacht, sondern es hatte ihn zu sich selbst finden lassen. Nicht mehr dem Idealtypus der platonischen Philosophie verhaftet, ätherisch und vergeistigt abgehoben von den irdischen Leidenschaften, sondern sich so annehmend, wie er sich vorfand. Dabei durchaus nicht immer zufrieden mit dem vorgefundenen Augustinus, der zu gern die Anfechtungen des Leibes hinter sich gelassen hätte, aber durchaus bereit war, mit Hilfe der Gnade Gottes sein Leben in die Hand zu nehmen.

Dass diese Sinnlichkeit die große Herausforderung seines Lebens sein und bleiben würde, war ihm klar geworden, und dieser Herausforderung stellte er sich. Und das wäre etwas, das man von ihm lernen könnte. So wie seine Sinnlichkeit sein größtes Hindernis auf seinem Weg zu Gott war, genau so kann für einen anders veranlagten Menschen seine je eigene Konstellation seinen Weg zu Gott erschweren. Für den Machthungrigen ist es sein Machthunger, für den Zyniker seine Gefühlskälte, für den Intriganten sein Spiel mit den menschlichen Marionetten, für den vermeintlich Friedfertigen seine feige Samtpfötigkeit. Unseren Gewissenserforschungen sind da keine Grenzen gezogen. Augustinus hatte sich seiner Geschichte, seiner Veranlagung gestellt, hatte nach vielen Irrwegen zu sich gefunden. Für die Außenwelt war das ein Bruch mit der Vergangenheit, eine atemberaubende Bekehrung. Für ihn war es das Betreten seines ureigenen Bodens, von dem aus er in Zukunft agieren würde. Das war nicht immer idyllisch, nicht immer einfach, nicht immer erfolgreich, aber es war immer sein eigenes Leben, war immer sein unverwechselbar eigener Weg zu dem Gott, dem er im ersten Kapitel seiner Confessiones vertrauend sagte: „Du hast uns auf dich hin geschaffen, Gott, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“

P. Roger Gerhardy OSA

Kloster Maria Eich