ZENTRUM FÜR AUGUSTINUS-FORSCHUNG

AN DER JULIUS-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT WÜRZBURG

Predigt zum Evangelium Mt 22,34-40

30. SONNTAG - A. 23.10.2005

Konvent der RITASCHWESTERN

von Cornelius Petrus Mayer OSA

Vorspann

Um das Jahr 420 empfing der hl. Augustinus einen Brief von einem uns nicht näher bekannten gebildeten Laien mit dem Namen Laurentius. Dieser bat den damals bereits weltweit berühmten Bischof um eine Zusammenstellung des Glaubens der Kirche. Augustinus kam der Bitte nach und verfasste eine Schrift, der er den programmatischen Titel gab: Handbuch über Glaube, Hoffnung und Liebe.

In diesen drei Tugenden gipfelt nach Augustinus das Selbstverständnis des Christen. Das Tagesgebet unseres heutigen Sonntags, das sehr wahrscheinlich auf den Bischof von Hippo zurückgeht, bringt dies bündig zum Ausdruck.

Christen sollen wissen, dass der Glaube und die Hoffnung nur für diese Zeit gelten. Die Liebe wird aber bleiben. Deshalb ist sie auch die Größte unter den dreien. Von ihr ist im Evangelium die Rede.

Predigt

Die Antwort Jesu auf die Frage des Gesetzesgelehrten nach dem wichtigsten Gebot im Gesetz ist ein Zitat aus dem Alten Testament. Es ist deshalb nicht richtig, wenn man gelegentlich hört, das Alte Testament verpflichte den Glaubenden auf das Gesetz, das Neue dagegen auf die Liebe. So einfach ist das nicht. Auch nach dem Alten Testament gipfelt das Gesetz in der Gottes- und Nächstenliebe. Ja, das Doppelgebot der Liebe ist geradezu der gemeinsame Nenner beider Testamente, der berühmte rote Faden, der beide durchzieht und beide miteinander verbindet.

Ist nun das Liebesgebot beider Testamente identisch? Was die Verpflichtung, es zu erfüllen betrifft, zweifelsohne ja. Was allerdings die Motivation zu seiner Erfüllung, betrifft, so fügt das Neue Testament schon noch einiges hinzu. Eben: das spezifisch Neue!

Worin gründet dieses Neue? Um es in aller Kürze zu sagen: In der Erfahrung der Liebe Gottes zu uns Menschen. Israel – so hörten wir in unserer Lesung aus dem Buch Exodus 22,20-26 – hat Gottes Güte, Erbarmen und Mitleid in Ägypten vielfach erfahren dürfen, deshalb sollte es Fremde nicht ausbeuten, Waisen nicht ausnützen und auf Wucher verzichten.

Von wesentlich tieferer Erfahrung der Liebe Gottes zu uns Menschen spricht das Neue Testament. Gewiss heißt es auch hier: «Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist». Aber indem das Neue Testament uns die Barmherzigkeit des Vaters vorzüglich im Kreuz und in der Auferstehung seines eingeborenen Sohnes veranschaulicht, vermittelt es uns einen Begriff von der Liebe, der schlechthin nicht mehr zu überbieten ist. «So sehr hast du die Welt geliebt», heißt es in einer der Sonntagspräfationen, «dass du deinen Sohn als Erlöser gesandt hast. Er ist uns Menschen gleichgeworden ... damit du in uns lieben kannst, was du in deinem eigenen Sohn geliebt hast».

Wenn also Augustinus, wie eingangs gesagt, das Wesen des Christlichen im Glauben, Hoffen und Lieben zusammengefasst sieht, dann bezieht er den Glauben auf das Erlösungswerk Christi am Kreuz, die Hoffnung auf die Teilhabe an dessen Herrlichkeit, die Liebe aber auf die Gnade, die unser irdisches Leben bereits mit dem verheißenen ewigen verbindet.

Die christliche ‹caritas› ist deshalb mit der kreatürlichen Liebe nicht einfach identisch. Was ist das Wesentliche an ihr? Hören wir auch dazu den heiligen Augustinus.

«Gott ist Liebe», lehrt der Erste Johannesbrief. Und nun fragt Augustinus zurecht, wie denn dieser in Gott gründende Liebesbegriff zu verstehen sei. In seinem großen Werk Über den dreieinigen Gott geht er dieser Frage nach. Er kommt darin zum Ergebnis, dass Gottes Liebe mit seinem Willen identisch ist. Unter den drei göttlichen Personen ist der Hl. Geist der Inbegriff des göttlichen Wollens. Deshalb heißt es auch im Römerbrief: «Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Hl. Geist, der uns gegeben ist».

Daraus folgt ein Doppeltes: Einmal, dass die christliche ‹caritas› sich nicht einfach in unserer kreatürlichen Liebesfähigkeit erschöpfen kann. Es heißt im Römerbrief nicht, «die Liebe ist ausgegossen», sondern «die Liebe Gottes». Also ist die ‹christliche caritas› Gottes Gabe, darum auch Inbegriff der Gnade. Sie, die Gnade, wurde uns dank des Erlösungswerkes Jesu Christi geschenkt. So wird auch verständlich, weshalb der heilige Augustinus in bezug auf die allzeit geforderte Liebe bei der Erfüllung der Gebote Gottes in sei­nen Bekenntnissen schreiben konnte: «Gib, was du forderst, und dann fordere, was du willst».

Mit diesem Satz brachte er das Wesen des Christentums sozusagen auf den Punkt: «Gib uns die Gnade, zu lieben, was du gebietest, damit wir erlangen, was du verheißen hast», so formuliert die Kirche mit Augustinus in unserem heutigen Tagesgebet. Das heißt, sie hält uns bei der Feier der Eucharistie an, um Mehrung des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu bitten,

Das Zweite, was aus diesem Verständnis der christlichen ‹caritas› folgt, ist eine gewisse Entlastung in der Erfüllung des Liebesgebotes. Wir müssen nicht, weil wir es gar nicht können, den Nächsten immer und überall affektiv lieben. Die mit der Gnade identische ‹caritas› soll allerdings bewirken, dass wir dem Nächsten Böses nicht wollen. Diese, mit dem guten Willen identische ‹caritas› wird jedoch als Grundhaltung von uns verlangt. Wir können sie gewiss nicht ständig zur Schau tragen, aber bejahen müssen wir sie, und zwar prinzipiell, d.h. gerade auch dann, wenn wir in konkreten Situationen an der geforderten Liebe versagen.

Freilich verkümmert diese Grundhaltung, wenn wir ihrer nicht von Zeit zu Zeit eingedenk sind, wenn wir darüber nicht reflektieren. Solche Zeiten der Reflexion sind Bibellektüre, Exerzitien, Wallfahrten, geistliche Übungen aller Art, insbesondere die Feier der christlichen Mysterien mit der Eucharistie als Höhepunkt.

Im 10. Buch seiner Bekenntnisse legt der hl. Augustinus geradezu mustergültig dar, wie der mitten in der Welt, und das heißt, von Zerstreuungen vieler Art umgebene Christ, sich immer wieder sammeln solle und sammeln könne, um sich über die ihm zuteil gewordene Liebe in Form der Gnade zu vergewissern, um sich darüber auch zu freuen. Am Ende der Darstellung dieser einzigartigen Selbstreflexion des mit sich ins Reine gekommenen Christen Augustinus steht das sprachlich wie inhaltlich packende Bekenntnis:

«Und oftmals tu ich so; dies ist's, was mich erfreut, und ich entfliehe von dem Zwang der Geschäfte zu dieser Wonne, sooft ich mir Erholung gönnen kann. Und in diesem allem, was dich befragend ich durchlaufe, find ich für meine Seele keinen sichereren Ort als nur in dir, wo mein Zersplittertsein sich sammeln und nichts von mir dir entziehen soll. Und zuweilen versetzt du mich in eine höchst ungewöhnliche Gemütsbewegung in meinem Inneren, ich weiß nicht in welche Wonne; würde sie mir hier schon endgültig gewährt, ich weiß nicht, was ein solches Leben sonst noch sein müsste! Aber ich sinke wieder unter Gewichten, trübsalschwer, zurück in diesen Alltag, und es verschlingt mich das Gewohnte und hält mich fest, und reichlich fließen meine Tränen».

Um aus dem Gewohnten herauszukommen, ist die Feier der Mysterien unserer Erlösung an den Sonn- und Feiertagen so wichtig. Indem wir sie vollziehen, ‹mehrt Gott in uns den Glauben, die Hoffnung und die Liebe, damit wir erlangen, was er uns verheißen hat›. Amen.