Predigt zum 2. Sonntag im Advent
Augustinerkirche Würzburg, 7. 12. 2003
Von Cornelius Petrus Mayer OSA

 

Vorspann

Der Zauber des Advents, der zur Zeit das Bild unserer Stadt bestimmt, zieht zweifelsohne auch Gläubige in seinen Bann.

Wohl empfängt uns in der Kirche ebenfalls etwas von diesem Zauber: der vorweihnachtliche Schmuck, die adventlichen Lieder, das warme Violett der liturgischen Kleider und dergleichen mehr. Aber das den Advent Prägende sind doch die Texte der Verkündigung.

«Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel, und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land». Solch poetische Sätze hören wir in der Lesung aus dem Buch Baruch und das Lukasevangelium fügt in der gleichen Diktion hinzu: «Jede Schlucht soll aufgefüllt werden ... Was krumm ist, soll gerade werden».

Faszinierende Texte, wie jedermann zugeben wird! Wovon reden sie? Sie reden von unserer Heimkehr! Denn Gottes ‹Advent›, seines Messias Ankunft, zielt auch darauf ab, dass wir ebenfalls ankommen – ankommen bei ihm und bei dem, den er uns gesandt hat.

Lesung aus dem Buch Baruch 5, 1-9

1 Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends, und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht.

2 Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz dir die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!

3 Denn Gott will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen.

4 Gott gibt dir für immer den Namen: Friede der Gerechtigkeit und Herrlichkeit der Gottesfurcht.

5 Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Schau nach Osten, und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Herrn sie gesammelt. Sie freuen sich, dass Gott an sie gedacht hat.

6 Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte.

7 Denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel, und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, so dass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann.

8 Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß.

9 Denn Gott führt Israel heim in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit; Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm.

Predigt

Zum besseren Verständnis des Advents, der gegenwärtigen liturgischen Zeit der Kirche, ist es hilfreich zu wissen, dass die Texte des 1. und des 2. Sonntags von der Erwartung der Wiederkunft Christi geprägt sind. Im Unterschied dazu haben die Texte des 3. und 4. Sonntags die Vorbereitung auf Weihnachten, auf das alljährliche Geburtsfest Jesu, zum Gegenstand der Verkündigung.

Unser heutiger zweiter Adventssonntag steht also ganz und gar im Dienst der Botschaft von der erlösenden Wiederkunft des Herrn. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die verkündeten Texte keinen drohenden, sondern einen freudigen Charakter haben.

Werfen wir einen Blick auf unsere Lesung. Sie beginnt mit dem Satz: «Leg ab, Jerusalem, das Kleid deiner Trauer und deines Elends, und bekleide dich mit dem Schmuck der Herrlichkeit, die Gott dir für immer verleiht». Historisch gesehen dürfte Israel wieder einmal – wie so häufig in seiner Geschichte – Schmach, Schimpf und Schande aller Art seitens seiner Unterdrücker zu erdulden gehabt haben, als der Prophet diese Worte der Verheißung zu ihm sprach.

Indes, als Christen kommen wir mit diesen Verheißungen nicht zurecht, wenn wir sie rein zeitlich, geschichtlich und innerweltlich verstehen. Die neutestamentlichen Schriften weisen uns einen anderen Verstehensweg. Sie lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass jene Verheißungen Gottes letztendlich unser durch Christus vermitteltes Heil zum Gegenstand haben.

Deshalb ist auch der Kern des christlichen Advents die Vorbereitung auf die Geburt dessen, der das Werk der Erlösung bereits vollbracht hat, der beim Vater verherrlicht ist und der «wiederkommen wird in Herrlichkeit». So lautet das Credo der Kirche, darin gipfelt es.

Von diesem Credo her müssen wir die hymnischen Sätze unserer Lesung zu verstehen versuchen. ‹Jerusalem›, das sein ‹Kleid der Trauer und des Elends› ablegen soll, weil ‹Gott selbst es mit dem Schmuck der Herrlichkeit bekleidet›, das sind – so der Apostel Paulus in seinen Briefen – nicht ‹die Kinder Israels dem Fleische nach›, nein, ‹Jerusalem›, das sind wir, die Erlösten, die Glaubenden.

«Leg den Mantel der göttlichen Gerechtigkeit an; setz die Krone der Herrlichkeit des Ewigen aufs Haupt!», heißt es in der Lesung vielsagend weiter, «denn Gott will deinen Glanz dem ganzen Erdkreis unter dem Himmel zeigen».

Was ist unter diesem ‹Mantel der Gerechtigkeit› zu verstehen? Mit Sicherheit nicht unsere eigene Gerechtigkeit, sondern, um wieder mit dem Apostel zu reden, ‹die Gerechtigkeit dessen, der sein Leben für uns dahingab und der uns dadurch gerecht macht vor Gott›.

So gewiss der Christ Bürger dieser Welt ist, so gewiss ist er als Erlöster auch Bürger einer anderen Welt, ‹Bürger des himmlischen Jerusalems›, Bürger der Gottesstadt. Ihm, ‹dem himmlischen Jerusalem› allein gebührt der Name ‹Friede› und ‹Gerechtigkeit›.

Fordern solche Sätze uns zu einer Abkehr von der Welt auf? Mitnichten! Sie fordern uns allerdings auf, in die Welt mit den Augen des Glaubens hineinzuschauen, um darin die Begrenzungen der Gerechtigkeit wahrzunehmen, um darin die konstitutionellen Mängel und die Unzulänglichkeiten, das Heil hier und jetzt schon schaffen und sichern zu können, zu sehen.

Der Glaubende sieht eben tiefer. Nur weil und wenn Gott die Versöhnung, den Frieden und die Gerechtigkeit uns schenkt, wird ‹das neue Jerusalem› Wirklichkeit werden. Zweifelsohne machen die Gerechtfertigten ‹das neue Jerusalem› aus, aber sie sind nicht dessen Gründer.

Unmissverständlicher noch bringt der zweite Teil unserer Lesung die Heimholung des Menschen in die ewige Herrlichkeit Gottes am Ende der Zeiten zur Sprache. «Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe!» heißt es da. Die Heimkehr der Befreiten wird abermals visionär zu einem alles Irdische sprengenden Triumphzug.

Aber nicht die Menschen sind es, die solches bewirken, Gott allein ist Subjekt des Geschehens. Den Menschen bleibt nur, ‹sich zu freuen, dass Gott an sie gedacht hat›. «Denn zu Fuß zogen sie fort ..., weggetrieben von Feinden, Gott aber bringt sie heim ..., ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte». Kann die Herrlichkeit der Heimkehr am Ende der Zeiten noch eindrucksvoller geschildert werden?

Die visionäre Poesie scheint im Blick auf Gott keine Grenzen zu kennen, denn sie fährt fort, er, der Allmächtige, habe befohlen: «Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel, und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, so dass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann». Wohin?

Blicken wir nochmals auf die Geschichte Israels: So oft dieses Volk aus einem Exil auch heimkehrte, stets sah es sich von Neuem von existenzbedrohenden Gefahren umgeben. – Wird Israels Geschick nicht zum Bild unseres Daseins?

Das Neue Testament sieht dies so und verkündet dies in aller Klarheit und Schärfe auch so. Es deutet unser Dasein als Pilgerschaft. – Sicher tun dies auch andere Dichter und Denker, Religionen und Weltanschauungen. Bei den zahlreichen Schilderungen unseres Daseins als Pilgerschaft geht es dem Neuen Testament jedoch primär stets um Gott bzw. um unser Leben bei Gott als Ziel dieser Pilgerschaft.

«Wir wissen», lesen wir im Zweiten Korintherbrief (5,1-10), «wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Händen errichtetes ewiges Haus im Himmel». Der Christ – das scheint mir die Botschaft der Texte am zweiten Advent zu sein – ist nicht ein verlorener Einzelgänger, er ist eingebunden in die Gemeinschaft der Glaubenden und in die Gemeinschaft der Hoffenden. «Immer sind wir zuversichtlich», heißt es im zitierten Brief einige Sätze weiter, «auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, so lange wir in diesem Leib zu Hause sind, denn glaubend gehen wir unseren Weg, nicht schauend».

Ich sagte eingangs, ‹Advent› bedeutet ‹Ankunft›, in der Liturgie ‹Ankunft Gottes›. Der ‹Advent› erinnert uns aber zugleich auch daran, dass wir einst dort ankommen sollen, wo Gott uns haben will. Christi Menschwerdung, die wir jeweils am Ende des Advents feiern, hatte nichts anderes als diese unsere Heimführung zum Ziel.

Es ist gute Sitte, dass Christen sich gegenseitig einen besinnlichen Advent wünschen. Eine vorzüglich aus der biblischen Verkündigung zu gewinnende Besinnlichkeit soll uns helfen, uns auf den Weg zu konzentrieren, und zwar freudigen Herzens.

Jubel ist deshalb der Tenor der Verkündigung unseres heutigen Sonntagsgottesdienstes, unbeschreibbarer und darum nur in Bildern zur Sprache gebrachter Jubel. Heißt es im Bilde: «Senken sollen sich alle hohen Berge, ... heben die Täler», dann sind damit gerade nicht unsere Vorleistungen gemeint. Er, Gott, schafft die Ebene, um im Bilde zu bleiben, auf der wir ihm dann entgegenzuziehen vermögen.

Bündig fasst dies alles das Tagesgebet der Kirche zusammen, die darin mustergültig um einen besinnlichen Advent betet: «Allmächtiger und barmherziger Gott, deine Weisheit allein zeigt uns den rechten Weg. Lass nicht zu, dass irdische Aufgaben und Sorgen uns hindern, deinem Sohn entgegenzugehen. Führe uns durch dein Wort und deine Gnade zur Gemeinschaft mit ihm, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit. Amen».